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Hamburg Ballett – The Times are Racing: Zeit, neue Sprachen zu verstehen

Titelbild: Ensemble. The Times are racing
https://www.kiranwest.com/

Mit dem 4-teiligen Ballettabend „The Times are racing“ beginnt die erste Spielzeit von Demis Volpi, dem neuen Intendanten des Hamburg Balletts. Die Wahl der Stücke Adagio (Pina Bausch/Jo Ann Endicott), Variations for two Couples (Hans Van Manen), The Things with Feathers (Demis Volpi) und Justin Pecks Titel gebendes Stück The Times are racing erwiesen sich als perfekt, das Publikum zum Jubeln zu bringen. So unterschiedlich die Stücke auch sein mögen, so wunderbar zeigte das Hamburg Ballett, dass es fähig ist, vier neue (Tanz)sprachen zu lernen. Auch Volpi, der sich dem Publikum als neuer „Hausherr“ (meine Worte, nicht seine) vorstellte, benutzte diesen Vergleich. Dass Volpi auch ankündigen konnte, dass der 92-jährige Hans van Manen wie auch Justin Peck anwesend waren, war sicher nicht allein für das Publikum das besondere i-Tüpfelchen des Abends, zu dessen Erfolg auch das von Vitali Alekseenok geleitete Philharmonische Staatsorchester Hamburg beitrug.


PhotoCredits: Kiran West
Adagio/Pina Bausch, Ensemble, vorne rechts Artem Prokopchuk
PhotoCredits: Kiran West

Adagio
Pina Bauschs Kreation Adagio aus dem Jahr 1975 zu der Musik Gustav Mahlers (Adagio aus der 10. Sinfonie) spricht, um im Vergleich zu bleiben, die Sprache, die zu verstehen (mir) am schwersten fällt. Es ist so wie kyrillische Schriftzeichen zu lesen: viele sind bekannt und somit auch einige Worte, doch der Gesamtzusammenhang bleibt weitgehend ein Rätsel. Es gibt (siehe Bild) wunderschöne, aussagekräftige Momentaufnahmen, die deutlich machen, dass es Pina Bausch, laut Jo-Ann Endicott (Rekonstruktion und Neueinstudierung), wichtig war was die Menschen bewegt, nicht wie sie sich bewegen. Und ja. es gibt viel Emotionen und viel Zwischenmenschliches zu entdecken, doch irgendwie scheint es immer nur um Individuen zu gehen. Eine wirkliche durchgehende Geschichte erkenne zumindest ich nicht. Aber Sie wissen ja, ich bin stets dafür ,dass jeder selbst Aussagen in Opern oder Balletten findet.

Adagio/Pina Bausch, Olivia Betteridge, Charlotte Kragh
PhotoCredits: Kiran West

Das Augenfälligste ist der Anfang, wenn Lormaigne Bockmühl gefühlt Minuten lang auf Charlotte Kraghs Bauch kauert, die sich nur mit Füßen und durchgedrückten Armen abstützt. Dann scheint Brockmühl „geboren“ zu werden, sich den Weg in und durch Leben zu suchen und am Ende zu erlaufen, ruhelos, unermüdlich. Aber ob das wirklich so stimmt ..? Außer Frage steht jedoch, dass besonders Solistin Charlotte Kragh, die Demis Volpi vom Ballett am Rhein hierher begleitet hat, auf jeden Fall Respekt verdient. Das gilt nicht nur für die Anfangsszene, nein, Kragh ergänzt das Hamburg Ballett wunderbar, dessen Stärke fraglos die Fähigkeit ist, technisches Können mit stets authentisch wirkendem Ausdruck zu verbinden. Auch wenn hier nicht wirklich klar wird, WAS sie oder auch Lormaigne Bockmühl, Lennard Giesenberg, Olivia Betteridge, Artem Prokopchuk, Charlotte  Larzelere und Daniele Bonelli bewegt, wird doch klar, dass sie viel bewegt in diesem Ballett, dessen manchmal hektische, manchmal losgelöste Bewegungen in einer Art Gegensatz zu Mahlers ätherischer Musik stehen.

Variations for Two Couples/ Hans van Manen
Madoka Sugai/Alexandr Trusch. Ida Praetorius/ Matias Oberlin
PhotoCredits: Kiran West

Variations for two Couples
Im Gegensatz zu Bausch spricht das Stück von Hans van Manen, eine Sprache, die in erster Linie von exakter Aussprache, will sagen: pointiert genauer Ausführung der Choreografie, ankommt. Aus dieser Präzision ergeben sich dann subtil Ausdruck und Emotionen. Beide Tanzpaare, Madoka Sugai/Alexandr Trusch, wie auch Ida Paetorius/Matias Oberlin erfüllen diese Aufgabe mit Bravour. Sind die Blick auch meist nach unten gerichtet, so ist doch eine gewisse Spannung, ja Konkurrenz zwischen den Figuren spürbar, im Sinne von „Alles was ihr könnt …“ Kleine, humorvolle Momente entstehen, wennsie in bemerkenswerter Körperspannung mit dem Kopf wackeln oder Praetorius Oberlin den Spitzenschuh fast an die Kehle setzt und so deutlich macht, wer hier „Chefin im Ring“, ist.

Variations for two Couples/Hans van Manen
Alexendr Trusch/Madoka Sugai
PhotoCredits: Kiran West

Mir ist nicht bewusst, dass ich diese beiden schon einmal gemeinsam hab tanzen sehen, aber es bleibt zu wünschen, dass dies nun öfter der Fall sein wird. Sugai und Trusch bewiesen schon oft, wie sehr sie harmonisieren, so auch hier. Und auch wenn ich direkte Vergleiche gerne meide, kann ich nicht, verhehlen, dass ich hier Sugai ein wenig favorisiere, sie hat einfach das gewisse Etwas, das mich besonders anspricht. Van Manens Musikauswahl reicht von Britten, Rautavaara  über Astor Piazzolla  (arrangiert von Bob Zimmerman) bis hin zu Kovacs Tickmayers Variation zu Bachs  „Lasset uns den nicht zerteilen“, wobei die Stücke ein Ganzes bilden.
Ein Gänsehautmoment entstand, als Van Manen den Applaus mit den Tänzer*innen entgegennahm, denen er dann seine von Volpi überreichten Blumen zu Füßen legte.

The Thing with Feathers /Demis Volpi
Alessandro Lucia Frola, Jack Bruce
PhotoCredits: Kiran West

The Thing with Feathers
Er war der einzige Choreograf an diesem Abend, dem keine Blumen überreicht wurden: Ballettintendant Demis Volpi. Verdient hätte er sie. Ich gebe zu, besonders bei seinem Stück mit der Musik von Richard Strauss, kam ich nicht umhin Vergleiche zu der Tanzsprache zu ziehen, die ich einige Jahrzehnte fast ausschließlich erlebte. Um bei der „neue Sprachen lernen“ -Metapher zu bleiben: Neumeier/Volpi verhalten sich für mich irgendwie wie Italienisch zu Spanisch: Sie gleichen sich in vielem, kennt man die eine Sprache, fällt es nicht schwer auch die andere zu verstehen und doch sind sie eigenständig, mit besonderen, nur für sie typischen Merkmalen.

Es geht um Hoffnung, denn sie ist „das Ding mit den Federn“, um Berührungen, verharren in Umarmungen, Zueinanderfinden, aber auch Einsamkeit und einiges mehr. Gibt es bei Bausch Stühle, bei van Manen eine Art stilisierte Schale oder liegende Mondsichel, so benutzt Volpi zum Ende seines Balletts hin einen Prospekt, der einen stark bewölkten Himmel über einem Ozean zeigt. Es hat etwas undefinierbar berührendes, wenn er von den Tänzer*innen beim Zusammenrollen gehalten wird.

The Thing with Feathers /Demis Volpi
Jack Bruce, Silvia Azzoni
PhotoCredits: Kiran West

Wie bei „Adagio“ ist das Ensemble hier zu zahlreich, um jede Leistung gebührend zu würdigen. Zu den fast sphärischen Klängen von Richard Strauss‘ Metamorphosen liegen sich immer wieder verschiedene Paarungen, nach schnellem Lauf auf die Bühne, in den Armen, finden Halt aneinander. Es gibt zum Beispiel für Aleix Martinez und Anna Laudere Soli, die, sind sie auch kurz, deren extrem starke Emotionalität unterstreichen. So ist bei Martinez jede Bewegung auch tiefes Gefühl und Lauderes grazile Leichtigkeit unterstützt das ätherische, der 23 Solostreicher in Strauss Musik. Volpi choreografierte auch ein Pas de deux für zwei Herren. Der das Corps de Ballett bereichernde Jack Bruce wie auch der Erste Solist Alessandro Lucia Frola, faszinieren durch weiche Arme, schwerelos wirkende Biegsamkeit und Harmonie während des Tanzes, die beredt und selbstverständlich scheint.
Schön auch, dass die beiden nun als Sonderdarsteller geführten, ehemaligen Ersten Solisten Silvia Azzoni Alexandre Riabko zu sehen waren,

The Times are racing//Justin Peck, Louis Musin, Caspar Sasse
PhotoCredits: Kiran West

The Times are racing
„Dass die Tänzer*innen auch so was können! Das beste Stück des Abends!“ So stimmte meine begeisterte Sitznachbarin am Ende des Abends in den großen Jubel für Justin Pecks Ballett ein und wirklich, im „The times are racing“ sprühen alle vor Energie und Tanzfreude. Die Elektro-Popmusik aus der Feder von Dan Deacon aus dem Album „America“, geht zumindest in den vorderen Parkettreihen sehr auf die Ohren, aber reißt zusammen mit dem Enthusiasmus der Tänzer*innen zumindest innerlich „vom Hocker“. Um ein letztes Mal die Sache mit der neuen Sprache zu bemühen: Pecks Tanzsprache scheint mir vergleichbar zum Beispiel mit Plattdeutsch, einer Sprache, die Spaß macht, die aber nur beherrschen kann, wer das Original beherrscht.

Und alle Beteiligten beherrschen beides, herausstechen dürfen aber unter anderen Louis Musin und Caspar Sasse, die sich ein wildes Tap-dance Battle liefern und dabei symbolisch die Funken fliegen lassen. Auch der Pas de Quatre von Paula Iniesta, Anna Laudere, Madoka Sugai und Christopher Evans oder das herrlich vielschichtige Pas de deux von Futaba Ishizaki und Matias Oberlin gehören zu den Höhepunkten eines Balletts, das an sich ein einziger Höhepunkt ist.

The Times are racing/JustinPeck
Matias Oberlin, Futaba Ishizaki
PhotoCredits: Kiran West

Fazit: Der neue, mit Spannung und vielleicht auch Skepsis erwartete, Intendant hat seine Feuerprobe mit Bravour bestanden und das gesamte Ensemble sowieso auch. Es bleibt spannend, nicht nur was die nächste(n) Premiere(n) betrifft, sondern bereits die nächsten Vorstellungen dieses Abends! Denn dann gibt es die Möglichkeit, alle Stücke außer Adagio in neuer Besetzung zu erleben. Und ist es nicht immer inspirierend, etwas in neuer Interpretation zu erleben? Nicht um wertend zu vergleichen, sondern unterschiedliches zu entdecken!

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch28.09.2024

https://www.hamburgballett.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=221436

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