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Hamburg Ballett – Romeo und Julia: „Ach wär’s doch die Nachtigall …“

Titelfoto: Azul Ardizzone, Louis Musin
PhotoCredits: Kiran West

Ähnlich wie Shakespeares Julia, die das Ende ihrer ersten Liebesnacht mit Romeo nicht akzeptieren wollte, ging es mir gestern, als ach für John Neumeiers Ballett Romeo und Julia in der Staatsoper Hamburg der Vorhang fiel. Denn Azul Ardizzone und Louis Musin in den Titelrollen, Alessandro Lucia Frola (Mercutio) und Artem Prokopchuk und alle anderen verzauberten das Publikum mit jugendlicher Hingabe an Tanzkunst und Rollen, sodass das, wenn auch tragische, Ende viel zu früh da war. Die Standing Ovations für Ardizonne/Musin schon beim ersten Vorhang waren mehr als verdient.

Azul Ardizzone Louis Musin (erster Vorhang 2023)
PhotoCredits: Kiran West

John Neumeiers Ballett feiert dieses Jahr den 50. Jahrestag und versprüht immer noch den bittersüßen und sehr menschlichen Charme wie damals und bietet immer noch Möglichkeiten Neues zu entdecken und das nicht nur, weil Neumeier zu jeder Wiederaufnahme kleine Änderungen vornimmt. Es mag stimmen, dass zum Beispiel John Crankos Interpretation des Stoffes um das berühmteste Liebespaar der Welt technisch anspruchsvoller ist, wie mir gesagt wurde. Sie wirkt pompöser, ist auf jeden Fall wohl näher am Theaterstück, da Romeo bei Cranko den an Julias Grab trauernden Paris tötet. Auf diese Szene wird in Hamburg verzichtet, dafür geht Neumeier sehr emotional eindringlich auf die ehebrecherische Beziehung zwischen Gräfin Capulet und ihren Neffen Tybalt ein. Wo in Stuttgart die Kunst des Tanzes die Hauptrolle zu spielen scheint, geht es Neumeier (wie stets?) darum, eine Geschichte zu erzählen, in der es nicht (nur) um eine der meist adaptierten literarischen Vorlage überhaupt geht, sondern – genau Sie ahnen, was kommt – um Menschen und ihre Gefühle und Schicksale. Gerne zitiere ich Neumeier einmal mehr, der Menschen auf der Bühne sehen möchte, die tanzen anstatt tanzende Menschen.

Louis Musin, ArtemProkopchuk, Ensemble
PhotoCredits: Kiran West

Ein Blick auf die Stuttgarter Version (https://www.youtube.com/watch?v=vR2QmwYfWzM), die wie auch die Hamburger mit Bühnenbild und Kostümen von Jürgen Rose ausgestattet ist, inspirierte oder besser verführte mich, Vergleiche ziehen zu wollen, zwischen diesen beiden Produktionen. Nicht wertend im Sinne von besser/schlechter, sondern immer mit Schwerpunkt auf das Hamburg Ballett, um das es hier ja geht, neugierig auf die unterschiedliche Dynamik, die durch unterschiedliche Dramaturgie, Personenführung und Choreografie in ähnlichem Ambiente entstehen kann.

Crankos Werk ist in allem eher an den strengeren russischen Stil angelehnt, Emotionen werden ausgedrückt durch wallend wehende Umhänge oder der klassischen Ballettgestik entnommene Bewegungen. Die Erwachsenen, wie Julias Eltern, ihre Amme (Niurka Moredo) oder auch Pater Lorenzo sind in Stuttgart im gesetzten Alter. Oder, setzt man den Maßstab der Entstehungszeit des Stückes, im Greisenalter. Die Amme ist dazu noch füllig und hat ein klein wenig von den Buffofiguren, die es in jedem Shakespeare Stück gibt. Diese Art von Erzählen durch Tanz erweckt (bei mir) Bewunderung für die Körperbeherrschung, -spannung und all die schönen Linien, die bei jedem Solo oder Pas de deux besonders Tanzpuristen verzaubern.

Niurka Moredo, Azul Azul Ardizzone, Lennard Giesenberg, Louis Musin
PhotoCredits: Kiran West

Nicht dass das Hamburg Ballett all dies nicht auch aus dem Effeff beherrscht, doch vielleicht liegt es an dem Jahrzehnte langen Gewöhntsein an die Erzählart von John Neumeier, dass mir die seine (noch) mehr unter die Haut geht. Seine Erwachsenen haben ein Rollenalter von höchstens Mitte dreißig, Lorenzo scheint nicht viel älter als das junge Liebespaar und seine Freunde. Die ebenfalls jugendliche Schauspieltruppe, Freunde von Romeo und Mercutio, tritt nicht in Harlekinkostümen auf, doch einzig in bunten Kleidern oder Hosen. Wichtiger aber ist die Art und Weise wie sich die Charaktere geben, jeder ist ein Individuum, hat eine ganz besondere, leicht zu verstehende Aufgabe. Die gilt für alle Mitglieder der Schauspielgruppe, die die Geschichte Romeos nachstellt, bis hin zu dem Gebrauch der Droge für Julias Todesschlaf. Aber auch für die Prostituierten in Verona und Mantua, bei denen Ida Stempelmann, ein Mal mehr, mit ihrer Bühnenpräsenz und völlig natürlichen Tanzkunst besticht. Ganz ehrlich? Ich freute mich, würde es zu Neumeiers letzten Amtshandlungen gehören, sie zur Solistin zu ernennen. Dies gilt jedoch auch für einige, hier unerwähnt bleibenden Tänzer*innen, allen voran Lennard Giesenberg, als einfühlsamer Pater Lorenzo. Auch Francesco Cortese überzeugt und amüsiert als Romeos lebensfroher Freund Benvolio und Olivia Betteridge porträtiert Rosalinde, Romeos ersten Schwarm, mit viel Anmut, Charme und passender enttäuschter Arroganz.

Ensemble, Auf dem Wagen Alessandro Lucia Frola, Emily Mazon‘
PhotoCredits: Kiran Wes
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Des Weiteren gelingt es Florian Pohl, als elegant aber dennoch verständnisvoller offizieller Verlobter von Julia, dass man fast Mitleid mit seinem Schicksal hat, obwohl oder vielleicht auch weil er hier ja überlebt. Sehr beeindruckten auch Yun-Su Park und Matias Oberlin als Julias Eltern. Obertlin ist ganz Veroneser Edler in dem ein weiches Herz für die geliebte Tochter steckt. Park hingegen überraschte mich äußerst positiv durch ihren, völlig losgelöst wirkenden hysterischen Anfall beim Tod ihres Neffen/Geliebten Tybalt und der ansonsten ihrer verspielten und sogar ihrer totgeglaubten Tochter gegenüber, perfekten Contenance. Artem Prokopchuk in der Partie des zornigen, unbeherrschten, in keiner Weise höfischen Tybalt, überzeugt auf ganzer Linie, auch technisch und besonders in den spannenden Fechtszenen mit Mercutio (Alessandro Lucia Frola) und Romeo (Louis Musin), begeistert er durch tänzerische wie darstellerische Intensität. In meinen Augen ein weiterer, baldiger Anwärter auf den Titel „Solist“, zumal auch er, wie in Hamburg bisher üblich, schon jetzt auch Hauptrollen tanzt.

Alessandro Lucia Frola
PhotoCredits: Kiran West

Intensiv, authentisch, mitreißend sind nur einige der Worte, die wie maßgeschneidert für Alessandro Lucia Frola sind. Sein Merrcutio spottet, liebt, kämpft und tanzt sich durch das Stück, völlig in dieser vielschichtigen Partie aufgehend und mit leichtfüßiger Sprungkraft, wunderschönen Armlinien und mehr. Mercutios Sterbeszene verursacht Gänsehaut, da Frola einfach nicht anders kann, als überzeugend ganz tief aus dem Inneren heraus zu agieren/tanzen. Er ist einfach ein Vollblutkünstler. Wunderbar.

In seiner Rolle kommt Neumeiers Geschick Menschen zu kreieren, die wir vielleicht nicht alltäglich, aber doch sehr wahrscheinlich wo auch immer begegnen können oder in denen wir uns selbst vielleicht sogar zu einem gewissen Maße wieder findet. Aber, seien wir ehrlich, es ist in Romeo und Julias Liebestaumel, in den wir uns noch lieber hineinträumen. Zumindest gilt dies für mich – trotz des tragischen Endes oder in romantischer Verklärtheit, vielleicht besonders deswegen. Auf jeden Fall fühlt man tiefe Empathie, besonders für diesen Romeo, diese Julia. Damit sind Neumeiers Kreationen im Allgemeinen und Azul Ardizzone (17) und Louis Musin (22) im Besonderen, gemeint.

Louis Musin, Azul Arddizone
PhotoCredits: Kiran West

Schon im vergangenen Jahr verzauberten diese beiden das Publikum. Louis Musin, scheint schon in jungen Jahren eine Paraderolle gefunden zu haben. Eine nicht seine, denn er begeistert schon seit einiger Zeit mit überzeugender Wandelbarkeit, und wie auch bei Alessandro Lucia Frola (24) , bin ich sicher, dass er noch viel von sich reden machen wird. Neumeiers/Musins Romeo ist wunderbar realitätsnah. Zuerst ein schwärmerischer, etwas vorwitziger, fröhlicher Junge, immer auch zu einem Degenkampf bereit oder einem Scherz mit den Freunden. Den Moment, wenn er durch Julias Anblick, mit einem Schlag ernsthaft und erwachsen wird, gestaltet Musin ebenso berührend, wie die unbändige Freude an der Liebe, die er in der Balkonszene mit tänzerischer Virtuosität, wie auch einem Ratschlag und einem Rückwärtssalto Ausdruck verleiht. Musin gelingt es daneben, Romeos Zerrissenheit gegenüber Tybalt, seine Wut und Verzweiflung, dass er zum Mörder auf der Flucht wird und alle anderen Emotionen tief unter die Haut gehend darzustellen.

Louis Musin, Azul Arddizone
PhotoCredits: Kiran West

Was für ein Gefühl muss es gerade für Azul Arddizone, gewesen sein, die auch jetzt noch Schülerin der Schule des Hamburg Balletts ist, und zusammen mit Musin damals in einer Voraufführung mit vielen ehemaligen Hamburger Tanzstars im Publikum ihr Debüt gab? Ihr Debüt in einer Rolle, von denen andere, vollständig ausgebildete Tänzerinnen vielleicht ihr Leben lang vergeblich träumen. Doch Arddizone enttäuschte das Vertrauen, das Neumeier seit dem vergangenen Jahr in sie setzte, in keinster Weise. Kein anderes Wort als entzückend oder vielleicht auch reizend, trifft ihre Ausstrahlung, wenn sie barfuß in ein Handtuch gewickelt, mit ihren Cousinen (Olivia Betteridge, Justine Cramer, Carolin Inhoffen) herumtollt oder auf dem Ball, der ja ihre Verlobung mit Paris ist, immer wieder Romeos Blick sucht. Auch ihre Hingabe an ihn in der berühmten Balkonszene, das Verzücken zum Beispiel bei der Hochzeit und in der Hochzeitsnacht, berühren. Technisch wirkt sie schon sehr versiert, kann Schritte wie Ausdruck wunderbar vereinen, außergewöhnlich schön gestaltet sie zum Beispiel das Pas de deux, das eigentlich aus zwei Soli besteht oder ihren vorgetäuschten Selbstmord. Man spürt schon jetzt, wie viel Ausdruckskraft in dieser jungen Frau steckt, auch wenn sie sich ganz sicher weiterentwickeln wird. Möge sie selbst und mögen alle anderen ihr die Zeit dazu geben, denn dann wird sie das Publikum wo auch immer sicher lange erfreuen ohne, wie es bei jungen Sänger*innen manchmal der Fall ist, schnell „verbrannt“ zu werden.

Louis Musin, Azul Arddizone
PhotoCredits: Kiran Wst

Fazit: Alles in allem war dieser laufstark umjubelte Abend einer dieser Momente, die wirklich wie mit einem Zeitraffer stattzufinden scheinen, obwohl man sich nichts sehnlicher als Zeitlupen-Gefühl wünscht.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 3.6.2024

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