Titelbild: Alle Rechte Kiran West
Am 7.6. tanzte das Hamburg Ballett die, bis auf Weiteres, letzte Vorstellung von Illusionen – wie Schwanensee, John Neumeiers Version von Peter I. Tschaikowskys Klassiker Schwanensee und das augenscheinlich mit noch mehr Emotionalität und darstellerischen Können als üblich. Allen voran Alexandr Trusch als „Der König“ (Ludwig II von Bayern), der in seiner ganz eigenen Welt lebt, trunken von idealisierter Schönheit, Reinheit und der Liebe zu der Kunstfigur Odette, der Schwanenprinzessin. Doch nicht nur seine großartige Leistung veranlasste das Publikum zu großem Jubel und den fast schon standardmäßigen Standing Ovations. Die werden hoffentlich auch nächstes Jahr oft die Vorstellungen beenden, denn auch wenn die Ära John Neumeier zu Ende ist und unter Demis Volpi etwas Neues beginnt, bleiben doch einige Neumeier-Produktionen, nicht zuletzt „Romeo und Julia“ wie auch „Der Nussknacker“ und -wie schön- auch der größte Teil des Ensembles. Ergo: Wir werden alle in Balletten erleben, die alte, aber auch solchen, die neue, andere Ansprüche an sie stellen.,
Doch jetzt ist jetzt oder besser: noch durften wir das 48 Jahre alte Ballett und Neumeiers Geschick genießen, aus schönen Märchen noch schönere Geschichten mit Realitätsbezug und Tiefe zu machen. Denn im Mittelpunkt steht eben keine verzauberte Prinzessin, sondern hier ein von Trusch perfekt dargestellter Ludwig, jener Mann, der zeitlebens eher Visionär und Träumer war statt Herrscher. Er ist nicht fähig seine Verlobte Nathalia (Madoka Sugai) zu so lieben, wie es von ihm erwartet wird und verfällt immer mehr dem Wahn, hier symbolisiert durch den, in verschiedenen Figuren omnipräsenten, Mann im Schatten. Ihm, eindrucksvoll dargestellt von Jacopo Bellussi, gibt sich der König im Finale ganz hin, ertrinkt mit ihm, wie in klassischen Versionen Odette. Und so wie auch der wahre Ludwig als ertrunken gilt.
Jede Vorstellung entführen die Bühnenbilder und Kostüme von Jürgen Rose, wie auch Neumeiers Personenregie, erneut in die bayerischen Berge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf das Richtfest von Schloss Neuschwanstein, wie auch in Theater und Ballsaal eines seiner anderen Schlösser. Immer geschieht mehr, als dass „nur“ klassisch getanzt wird. Überall und stets finden sich echte Menschen beteiligt, die am Leben auf die verschiedensten Arten teilnehmen statt fast statuenhafte Beobachter zu sein. Alles ähnelt echtem Leben, wie zum Beispiel die kleinen Wettkämpfe der Handwerker beim Richtfest, bei denen besonders der junge João Santana charmant und akrobatisch auf sich aufmerksam macht. Schön auch das Zusammenspiel des Königs mit seinem Freund Graf Alexander (Matias Oberlin) in Gegenüberstellung zu Ludwigs Umgang mit den Bauern, Hofräten oder besonders seinen Eltern (Pepijn Gelderman, Hayley Page). Es gibt viel zu entdecken auch im weißen Bild, dem Akt, bei dem Neumeier, wie er es immer in den traditionellen Akten macht, die Original Choreografie verwendet, hier die von Lew Ivanow, wo die Tänzer nie vergessen, dass sie ein Stück im Stück spielen und mit ihrem einzigen Zuschauer, dem König, interagieren.
Tänzerisch überzeugten an diesen Abend auch in diesem Akt alle: die allgemeinen, wie auch die großen Schwäne (Charlotte Larzelere, Yun Su Park), die kleinen (Olivia Betteridge, Lormaigne Bockmühl, Greta Jörgens, Ana Torrequebrada) wie natürlich auch Anna Laudere als Odette. Laudere, die vor kurzem unter anderem noch als Anna Karenina faszinierte, gab dem ätherischen Wesen Odette Seele und viel Anmut. Der von Soloviolinist Daniel Cho mit viel Empathie begleitete Pas de deux Odette/König ging tief unter die Haut ob der Harmonie zwischen ihm, Laudere und Trusch und zeitweise auch Florian Pohl, in der Partie des, hier eher zweitrangigen, Siegfried. Alles verband sich einfach zu einem wunderbaren Ganzen. Das gilt, was die Einfühlsamkeit im Spiel in Bezug auf die Tänzer von Daniel Cho auch für den Khrorovod, einem ostslavischen Reigen, den Neumeier Graf Alexander und seine Braut Claire tanzen lässt.
Matias Oberlin und Xue Lin gelang es mühelos, das unkompliziert verliebte Paar Alexander /Claire überzeugend zum Leben zu erwecken. Welch erfrischender, vor Tanzenergie sprühender Gegensatz zu der selbstzerstörerischen Beziehung König/Natalia. Xue Lin ist eine hochtalentierte Tänzerin, zu deren Ausstrahlung mir lange der Zugang fehlte. Als Claire jedoch begeisterte mich nicht nur ihre tänzerische Leichtigkeit, sondern ihre Natürlichkeit und Hingabe. Denke ich an Matias Oberlin, habe ich ihn oft als wunderbar furchteinflößenden Stanley Kowalski (Endstation Sehnsucht) oder als herrlich aalglatten Karenin (Anna Karenina) vor Augen. Sein Graf Alexander strahlt nur so vor jungenhaften Charme, Zärtlichkeit Claire wie auch sorgender Freundschaft dem König gegenüber. Auch tänzerisch überzeugte er auf ganzer Linie. Immer wieder entdecke ich an Tänzern und Tänzerinnen etwas, das mir vorher noch nie so ins Auge gefallen ist. Bei Oberlin waren es seine wirklich, weichen, runden Port de Bras.
Prinzessin Natalia, scheint mir neben Claire, der Geliebten, und Odette, der Heiligen, für ein eher mütterlich selbst aufopferndes Frauenbild zu stehen. Versucht sie doch absolut alles, dem König nahezukommen, sein Herz zu gewinnen, Denn sie kleidet sich auf dem Maskenball sogar als Schwanenkönigin, birgt immer wieder seinen Kopf in ihrem Schoß. Madoka Sugai begeistert nicht nur mit ihrer Sprungkraft, Biegsamkeit und fast atemberaubenden Fouettés im in der Originalchoreografie von Marius Petipa belassenen Grand Pas de deux. Sie schlüpft vom ersten Moment an in die Haut der unglücklich Liebenden und berührt nicht allein in der Abschiedsszene, wenn sie sich mehr als ein Mal auf Spitze (trippelnd) dem König auf eine Art nähert, die Natalias verzweifelte Sehnsucht spürbar macht. Ihr tänzerisches Können und ihre Wandlungsfähigkeit erwecken den Wunsch, dass sie noch lange im Ensemble bleiben möge. Daneben wird die Neugier darauf erweckt, was Demis Volpi für sie kreieren könnte,
Alexander Trusch als König und Jacopo Bellussi als Mann im Schatten bilden die aufregendste Paarung in diesem Ballett. Es beginnt damit, dass der König den Mann im Schatten als unbestimmte Präsenz wahrnimmt und dieser ihm sozusagen im Gleichschritt folgt. Dann sieht der König diesen selbst geschaffenen, inneren Widersacher immer und überall: als Diener während des Richtfestes, als Zauberer Rotbart im weißen (Theater) Akt, als Schwarzen Clown auf dem Maskenball. Letztlich sieht er ein , dass er ihm nicht entkommen kann und er gibt sich ihm, den Wahn, hin bis in den Tod hinein. Diese letzte Szene, ist einer von jenen Theater/Opern/Ballettmomenten, die lange und tief im Gedächtnis bleiben. Bei mir auch weil, sie (zumindest in mir) etwas Unbestimmtes, vielleicht noch nicht begreifbares ansprechen, wie es jegliche Art von Kunst tun kann. Wertfrei, zumindest, wenn es um „gut“ oder „schlecht“, geht.
Es wäre falsch zu sagen, dass die mitreißende, überzeugende Art von Trusch und Bellussi mich überraschten, denn beide sind wandlungsfähig, auch wenn Trusch, wenn auch allein durch sein Erscheinungsbild, noch einen kleinen, wirklich winzigen Schritt näher an dem Prädikat Charaktertänzer dran ist als Belussi. Jacopo Bellussi ist -noch (!?)- dank seines Aussehens ein wenig mehr Prinz oder Liebhaber als Bösewicht. Doch als Mann im Schatten wirkte er auf jene Art anziehend, die das Geheimnisvolle, Unbekannte, ja Zerstörerische so faszinierend macht. Wann immer er dem König sein Wesen enthüllt, liegt ein wissendes „du entkommst mir nicht“-Lächeln auf seinen Zügen. Und auch tänzerisch besticht er mit Sprungkraft und wunderschönen Linien und noch einigem mehr.
Trusch, ich komme einfach nicht um dieses Klischee herum, lebte an diesem Abend die Partie. Jede Bewegung war Emotion pur und so die Entwicklung von Staunen über Abwehr bis Akzeptanz jede Minute spürbar. Seine Soli sind präzise mit viel Melancholie im Ausdruck getanzt. Seine Pas de deux mit Anna Laudere, wie auch mit Madoka Sugai, waren harmonisch schön. Das Finale mit Jacopo Bellussi jedoch war eines der beeindruckendsten, die ich bei Illusionen – wie Schwanensee je erleben durfte. Jede gemeinsame Bewegung war fließend, Trusch warf sicb mit einer Selbstverständlichkeit in Bellussis Arme, die Vertrauen in den Kollegen zeigt, aber im übertragenen Sinne absolute Hingabe an die Rollenverteilung eines psychisch Verzweifelten an seine Krankheit, seinen Wahn.
Fazit: Besonders dank Laudere, Sugai, Bellussi und Trusch eine nachhallende „Abschiedsvorstellung“. Und ich weiß: Wieder kamen die Leistungen der Quadrille-Tänzer im ersten Teil und jener in den verschiedenen Balldarbietungen im zweiten zu kurz. Aber wie absolut immer trugen auch alle Ungenannten erheblich zum Erfolg dieses schönen, von Abschied geprägten Abends bei. Also explizit Danke an alle inklusive Orchester und Dirigent Nathan Brock.
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 7.6.2024