Titelbild: Christopher Evans (St John Rivers), Ida Praetorius (Jane), Herrenensemble (D(ream)-Men/Premierenserie
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Am 22.11. war die Dernière der letzten Aufführungsserie von Cathy Marstons Ballett Jane Eyre, zu der die britische Choreografin an die Staatsoper Hamburg zum Hamburg Ballett zurückkehrte, um Ida Praetorius (Jane) und Artem Prokopchuk (Rochester) bei der Neueinstudierung zu unterstützen. Zwar begeisterte Praetorius das Hamburger Publikum schon in der Premiere am 3. Dezember 2023. Prokopchuk jedoch hatte erst in dieser Serie sein Rollendebüt.
Zu sagen, er würde den Karen Azatyan, den ursprünglichen Rochester, ersetzen, der die Compagnie verließ, wäre Prokopchuk gegenüber ungerecht, zeigt er doch ganz neue Facetten des für das 19. Jahrhundert typischen, unnahbaren, grüblerisch geheimnisvollen Helden. Damit, und mit seinem tänzerischen Können, überzeugte er die Zuschauer*innen auf ganzer Linie. Und auch alle anderen, inklusive des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter der Leitung von Nathan Brock. Die Bild- und Leitmotiv-reiche Musik Philip Feeneys schickten das Publikum auf eine romantisch dramatische Reise in Charlotte Brontës viktorianisches England. Was, wie stets, mit viel absolut verdienten Applaus und letztendlich auch mit Standing Ovations quittiert wurde.
Es bleibt zu hoffen, dass alle Besetzungen Pratorius/Prokopchuk und Trusch/Sugai zumindest in der kommenden Saison die Gelegenheit haben, uns möglichst oft zu zeigen wie wertvoll es doch für die Zuschauer*innen ist, ein so vielseitiges Ensemble zu beschäftigen wie dieses. Wobei ich „vielseitig“ hier auf die Compagnie beziehe, nicht auf die einzelnen Tänzer*innen, und auf die verschiedenen, immer neuen Eindrücke, die dabei bei ein und demselben Stück entstehen.
Mir ist durchaus bewusst, dass ich Dinge wie dieses in fast jedem meiner Texte wiederhole. So wie anderen auf technisch tänzerische Versiertheit oder Mängel aufmerksam machen, geht es mir, auch wenn meine Ausführungen dadurch nicht immer „auf dem Punkt“ sind, darum neugierig zu machen auf all die Stilmittel von Choreografie oder Darstellung, von denen man immer wieder andere entdecken kann.
Hier, wie erwähnt, zum Beispiel Artem Prokopchuks, ein sehr jugendlicher Rochester. Oh, auch er ist anfangs überheblich, doch er verzichtet auf die grüblerische Abgeklärtheit des älteren und dadurch reiferen Alexandr Truschs. Als Freundin der kleinen Gesten, die Großes bewirken können, fasziniert mich zum Beispiel, wie unterschiedlich die Wirkung ist, wenn Trusch, in den Sessel gepflätzt, das linke Bein ausstreckt, um Jane am Gehen zu hindern: sehr herrisch, unsympathisch. Er befiehlt: „DU bleibst!“. Auch bei Prokopchuk ist es -natürlich- keine Bitte, aber eher „nur“ ein „Bleib!“
Von Anfang an gibt es, unabhängig von der Besetzung, ein unsichtbares, undefinierbares Band zwischen dem Gutsherrn Rochester und der neuen Gouvernante seines Mündels Adèle. Es treffen ein privilegierter Mann und eine für ihre Zeit (zu) selbstsichere Waise aufeinander. Durch viele kleine Gesten, ausdrucksvolle Mimik und vor allem wunderbar harmonische Pas de deux und auch ihren Soli verleihen sie ihren Charakteren Glaubhaftigkeit und Überzeugungskraft.
Praetorius lässt uns wie immer auf unaufdringliche Art und mit technischer Versiertheit an den Gefühlen Janes teilnehmen. Prokopchuk besticht durch seine mehrmals erwähnte Jugendlichkeit wie auch durch authentisches Spiel, emotionale Authentizität. Auch ist er seiner Jane auf allen Ebenen ein verlässlicher, ebenbürtiger Partner. Rochesters große Szene dann mit seiner ersten, aber geisteskranken Frau Bertha Mason, brodelt auch Dank Charlotte Larzelere vor Energie. Und sie sprüht Funken im metaphorischen wie auch wahren Sinne, denn die rasend eifersüchtige Bertha setzt Rochesters Landgut Thornhill in Flammen und sorgt dafür, dass er erblindet. Larzeleres Wahn ist ein anderer, nicht so von allem losgelöster, Wahn als der von Ida Stempelmann. Aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb genauso faszinierend. Stets aufs Neue in den Bann ziehend, wie eigentlich alle bösen Rollen, ist die des Waisenhausleiters Mr. Brocklehurst, der an diesem Abend von Daniele Bonelli dargestellt wurde, der, ohne dass ich es zu begründen weiß, einen Flair von Charles Dickens Charakter verbreitet. Christopher Evans, als Janes Zeitweiliger Retter St. John Rivers, porträtiert diesen mit gewohnt überzeugender Intensität und tänzerischer Präzision.
Ähnlich intensiv sind, dank des Können der Tänzer*innen und der so detailreichen „Gestik-Choreografie“ Cathy Marstons, alle anderen Figuren. Von denen möchte ich an dieser Stelle nur die einfach bezaubernd kindliche Lormaigne Bockmühl als Adèle und last but not least Ana Torrequebrada als Junge Jane. Es ist eine recht kurze, aber umso intensivere Rolle, die von der jungen Spanierin mit so unglaublich viel Einfühlsamkeit getanzt wird, dass ich den, leider klischeehaften, Ausdruck „sie scheint die Rolle zu leben“ hier nicht vermeiden kann. Besonders unter die Haut ging, nicht allein durch die fließende Weichheit und Harmonie der Bewegungen, das Pas de deux von Jane und ihrer todkranken Waisenhausfreundin Helen Burns (Greta Jörgens).
Fazit: Ein Abend, der das Publikum begeisterte und in mir den Wunsch erweckte, noch oft über diese vielschichtige Geschichte berichten zu dürfen, denn es gibt noch so viele Aspekte in Choreografie und auch Musik, auf die ich Sie gerne aufmerksam machen möchte. Außerdem haben auch alle Unerwähnten das Recht, erwähnt und namentlich wertgeschätzt zu werden.
Birgit Kleinfeld (Vorstellungsbesuch, 22.11.2024)
https://www.hamburgballett.de/de/spielplan/index.php
https://www.cathymarston.com