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Mehr als 240 Ballettwerkstätten fanden seit 1973 unter der Leitung von John Neumeier statt. Sein herrlich sympathisch-selbstverliebter Charme, gemischt mit der Leichtigkeit, mit er uns an seinen Ideen, seiner Liebe zum Geschichtenerzählen durch Tanz und die Tänzer*innen des Hamburg Balletts an so manchem Sonntagmorgen teilhaben ließ. Am 15. 09. 24 begrüßte das Hamburger Publikum den neuen Ballettintendanten Demis Volpi mit freundlichem Applaus und verabschiedete ihn und sein Ensemble nach der Vorstellung mit Begeisterung und schließlich sogar mit den, bisher zumindest, nach vielen Abendvorstellungen üblichen Standing Ovations.
John Neumeier wird neben unter anderem Oscar Wilde stets einer meiner Alltime Heroes bleiben. Doch ich überraschte mich selbst damit, dass der natürlich wirkende Demis Volpi auf mich vom ersten Moment an den Eindruck machte, er passe gut zu dieser Compagnie. Warum? Aufgrund der Tatsache, dass er nicht die Heldenfigur/Tanzlegende ist, die Neumeier fast schon war, als sogar „ältere“ Tänzer*innen wie Silvia Azoni, Anna Laudere, Alexandre Riabko und Edvin Revazov noch kleine Kinder oder noch gar nicht geboren waren. Damit ändert sich die Dynamik -oder die Augenhöhe- in meinen Augen immens, was weder despektierlich Neumeier gegenüber noch als Vorschusslorbeeren für Volpi gemeint ist. Wir, das Publikum wie auch die Tänzer*innen, haben die Möglichkeit nicht nur eine, sondern viele neue Tanzsprachen /-stile (kennen) zu lernen, am Saison Eröffnungsabend (28.09.) sogar gleich vier völlig unterschiedliche.
Die erste Ballettwerkstatt der Ära Volpi bestand aus Bühnenprobeneindrücken von Adagio (Pina Bausch), Variations of two couples (Hans van Manen), Volpis The Thing with Feathers und The Times are Racing (Justin Peck). Wie die Fußbekleidungen der Tänzer*innen auf obigem Bild unterscheiden sich auch die einzelnen Ballette sehr voneinander, doch eines haben sie gemeinsam: Sie zeugen von der Liebe, sich durch eine Tanzsprache auszudrücken. Die größte Besonderheit ist mit Sicherheit Pina Bauschs Adagio, das vor 50 Jahren zum ersten und einzigen Mal aufgeführt wurde, und zwar 1973 in Wuppertal, als zeitgleich mit Neumeier in Hamburg Bausch eine neue Art von Ballett kreierte. „Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich dieses Werk auswählte“, gibt Volpi zu und ergänzt: „Wir sind die einzige Compagnie weltweit, die dieses Stück aufführt.“ Rekonstruiert wurde die Choreografie Bauschs von Josephine Ann Endicott, die damals in dem Ballett tanzte und Mitglied der Pina Bausch Fondation gehört. Sie präsentierte uns zusammen mit Breanna O’Mara die Ergebnisse ihrer zweiwöchigen Arbeit mit dem Ensemble und erklärte, dass es in Arbeiten von Pia Bausch in erster Linie darum geht, spür- und sichtbar zu machen, warum die Tänzer sich so bewegen, wie sie sich bewegen und dann erst das wie wichtig wird.
Jozef Varga zeigte mit den Ersten Solisten Matias Oberlin, Ida Praetorius, Madoka Sugai und Alexandr Trusch die Tango Sequenz aus van Manens Variations of Two Couples. Der für die Einstudierung dieses Stückes verantwortliche Varga machte deutlich, dass es bei van Manen um die Exaktheit der Bewegung geht, alles sehr geerdet wirkt und wirken soll, denn der Blick der Tänzer*innen richten sich immer gen Boden und vieles entsteht aus dem Plié heraus.
Demis Volpi gab allen auswärtigen Ballettmeistern viel Raum, ließ sie selbst auf Englisch erklären und gab dann ganz zurückhaltend nur eine exakte kurze Zusammenfassung des Gesagten. Bei der Präsentation von Ausschnitten seines eigenen Werkes macht er deutlich, wie wichtig richtige Platzierungen sind. „So sieht es doch viele besser aus, oder?“ fragt er dabei schon mal das Publikum oder auch, an die Randlogen gewandt: „Können Sie Alessandro noch sehen?“ Er hat eine wirklich natürliche Ausstrahlung, weiß das noch fremde Publikum zu nehmen und macht dabei neugierig auf seinen hier sehr expressiv-emotionalen Tanzstil.
Den mitreißenden Abschluss des Abends bildet Justin Pecks The Times are racing. Es wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das „Absahnestück“ des Abends. Nach Mahler, Strauss und anderen klassischen Komponisten erklingen hier an Popmusik mahnende Melodien und teilweise recht „heiße“ Rhythmen aus Dan Deacons Album America. Es geht um Gemeinsamkeit und Zusammenhalt, die Umsetzung einer (gemeinsamen?) Idee. Graig Salstein, verantwortlich für die hiesige Einstudierung, wurde auch von hinter der Bühne vom Ensemble umjubelt, was während seiner Präsentation verständlich wurde, denn seine Art zu arbeiten zeichnet sich durch humorvolle Lebendigkeit aus. So zählt er auch nicht „eins, zwei, drei, vier“ sondern „buy your Tick-ets“. Der Spaß auch daran, in Sneakers statt in Spitzenschuhen zu tanzen, war allen Beteiligten anzumerken und übertrug sich schon während der kurzen, gezeigten Stepptanz -Sequenz auch auf die Zuschauer*innen.
Fazit: Es hat sich auf jeden Fall gelohnt, diesen Sonntagvormittag in der Staatsoper Hamburg zu verbringen. Ja, es ist endgültig nicht mehr zu leugnen, die Ballettzeiten, die uns über ein halbes Jahrhundert lang faszinierten, sind vorbei und es wird anders aber bestimmt auch anders gut und anders faszinierend…
Birgit Kleinfeld
https://www.hamburgballett.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=245862