Titelbild; Ensemble
FotoCredits; http://Patrick Sobottka (@patricksobottka)
Als jemand, der Giacomo Puccinis Oper La Boheme ungefähr 120 Mal gesehen hat und immer noch liebt und beweint, war „Rent“ schon immer ein Stück, vor dem ich mich bisher immer drückte. Man mag mir, vielleicht sogar zu Recht, vorwerfen, bisher vorurteilsbelastet einem Musical gegenüber zu sein, dass auf einer Oper beruht. Aber die Semesterarbeit des diesjährigen 2. Jahrgangs der Stage School Hamburg überzeugte mich, wie alles bisher im First Stage Theater gesehene, auf ganzer Linie. Und auch wenn ich ein wenig brauchte zu erkennen, dass dieses Werk von Komponist/Autor Jonathan Larson sich nicht nur vom Inhalt und sehr realitätsbezogener Aussage her von anderen Musicals unterscheidet, sondern den jungen Darstellern auch stimmlich anderes abverlangt, wie zum Beispiel das letztjährige Projekt der Absolventen 2024: Natürlich Blond. Darum Hut ab vor dem gesamten 2. Jahrgang, besonders aber auch Regisseurin Ilka Kottkamp, die sich augenscheinlich mit viel Verve und Engagement für genau dieses Stück als Semesterprojekt einsetzte. Der langanhaltende Premierenjubel und viel Szenenapplaus geben ihr und ihren Kollegen recht: Vive la vie Bohème!
Die jungen Künstler*innen haben sich wirklich ein ganz besonderes Musical ausgesucht. für das sie in sämtlichen Belangen, die es für eine Aufführung bedarf, eigenverantwortlich zeichnen. Abgesehen von Unterstützung von der „Seitenlinie“ aus durch ihren ebenfalls selbst gewählten Coach aus den Reihen der Dozenten. Alle, wirklich alle, haben ihre Aufgaben und Rollen mit viel Engagement, Können und Enthusiasmus gelöst und ich kann nur wiederholen, dass sie sich wirklich kein einfaches Sujet ausgesucht haben. Schon die Umstände der Uraufführung sind tragisch, starb Larson doch am Tag der erste Preview am 25.1. 1996 an einem Aortenaneurysma, was die dennoch für Freunde und Familie stattfindende Aufführung zu einer Gedenkveranstaltung machte. Auch die Tatsache, dass die zwar von einer Oper adaptierte Handlung sich auf reale Personen (aus dem Umkreis des Komponisten) und deren Erfahrungen bezieht, unterstreicht die Besonderheit dieses Werkes. Es geht um AIDS, Armut und Obdachlosigkeit, Drogensucht und vor allem aber Liebe ohne allzu viel Romantisierung, dafür aber vorurteilslos Homo- und Transsexualität gegenüber.
Drei Paare stehen im Mittelpunkt der Handlung: Komponist Roger und Erotiktänzerin Mimi, Transfrau Angel (ich halte Dragqueen hier nicht für richtig) und Philosoph Collins, Jurastudentin Joanne und Performerin Maureen, Sie verließ Rogers besten Freund und wie Collins Mitbewohner und Filmemacher Mark für Joanne. Dann ist da noch Benny, einst der Vierte im Bunde der Künstler-WG nun reich verheirateter Besitzer des gesamten Wohnhauses, mit ehrgeizigen Modernisierungsplänen.
Ilka Kottkamps Personenführung ist schon jetzt äußerst professionell und detailliert. Mit Hilfe der Choreografie von Lina Sbaita lässt sie das Ensemble um die Hauptdarsteller herum oder mit ihnen gemeinsam tanzen und erschafft etwas völlig Stimmiges und stets den Situationen und Songs entsprechendes. Die Bühnenbilder von Timo Stark, der absichtlich Fragmente der vorherigen Produktion A Chorus Line mit verwendete, wie auch die Kostüme von Lina-Sophie Martens sorgen für eine authentische Atmosphäre, die mit ihrer Vielfarbigkeit keinen Moment über den ernsten und stets aktuellen (gesellschaftlichen ) Hintergrund hinwegtäuschen. Auch hier Hut ab vor Ilka Kottkamp und ihrer Fähigkeit allen Darsteller*ìnnen auch denen der Supporting-Cast Charakter und Persönlichkeit zu geben, den Obdachlosen, die sich von Passanten und grimmigen Polizisten belästigt fühlen, ebenso wie den, fast in Agonie krampfenden, einem skrupellosen Dealer nachlaufenden, Junkies. Danke auch an alle, die dies wunderbar umsetzten!
Herausragend und amüsant fand ich die junge Darstellerin der Mrs. Cohen, Marks enervierende, ewig den AB voll quatschende Mutter, deren Namen ausfindig zu machen mir leider nicht gelang. Dennoch ein herzliches „Super“! Denn sie meisterte nicht nur, wie auch viele andere, mehrere Rollen, sondern auch den Sprechgesang, den Larson, anstatt normaler Dialoge, einigen Darstellern abverlangt. Das gilt auch für alle, anderen, die fiktive Telefongespräche führen. Denn diese Szenen erinnern, wenn auch nur entfernt, an den Sprechgesang in Francois Poulencs Oper für eine Frau(enstimme) La voix humaine, in der dies ein Hauptbestandteil des Werkes ist.
Ob es an dieser für Musicals ungewöhnlichen Dialogform, an meiner Hoffnung auf mehr und eingängigere Hits oder an dem wirklich bleibenden Eindruck lag, den im vergangenen Jahr Elisabeth Bengst in Natürlich Blond bei mir hinterließ, weiß ich nicht. Doch während des ersten Aktes hatte ich immer wieder das Gefühl, im vergangenen Jahr „größere Stimmen“ gehört zu haben, aber schon bald änderte sich dieser Eindruck. Denn mir wurde endlich bewusst, welch auch musikalisch anspruchsvolles Stück sich die jungen Künstler*innen ausgesucht haben. Die Melodien sind oft ungewöhnlich, auch in den Duetten, es wird eine große Range, ein großer Stimmumfang in wenigen Takten verlangt und noch vieles mehr. Ein großes Kompliment an dieser Stelle für die Musiker*innen und vor allem Dominique Amport, alle ebenfalls Schüler*innen im zweiten (bald dritten) Jahr.
Alle erfüllten diese Anforderungen mit großem Enthusiasmus und ließen spüren, wie sehr ihnen die Thematik am Herzen liegt. Tobias Graiger ist Benny, jener abtrünniger Bohemien, der sich dafür entschied, vom Hausbesetzer zum Hausbesitzer zu werden. Graiger schafft es auf jeder Ebene die innere Zerrissenheit Bennys zu zeigen und dass auch ein Juppi sich Sorgen macht um Mimi, der er ohne Zögern einen Drogenentzug finanzieren würde.
Philip Rakoczy ist ein wunderbar verhuschter zwischen Freunden und Filmemacher Karrieretraum hin und her gerissener Mark mit frischem Musicaltenor, den er stets gut einzusetzen weiß. Irgendwie sehe ich ihn als Alfred in Tanz der Vampire vor mir….
Dominik Krumschmidt und Barak Malekzadeh rühren schon ab der ersten Begegnung von Angel und Collins die Herzen des Publikums. Die Szenen, wenn Collins seine an AIDS sterbende Angel bis zum Schluss begleitet, gehen absolut tief und überzeugend unter die Haut. Krumschmidts Angel besticht durch authentische Sanftmut, selbstlose Herzlichkeit und ebensolche Freude am eigenen Sein. Malekzadeh sprüht, wie bereits auch in anderen Partien vor Freude am Spiel und auch von Strahlkraft besonders bei den hohen Tönen, wie bei seinem Abschiedssong an Angels Grab.
Annika Müller (Joanne), Jessica Schaffler (Maureen) als weibliches on-off-on-Pärchen hielt uns Frauen, auch den heterosexuellen, den symbolischen Spiegel vor. Mit starken Tönen und ebensolcher Mimik und Gestik zeigen sie uns, mit welchen oft masochistischen (Macht)spielchen wir es uns und jenen, die uns wichtig sind, es gerne einmal schwer machen. Dabei überzeugt Müller als die spröde Akademikerin, die in den richtigen Momenten sehr wohl auch ein zärtliches „Schnucki“ sein kann. Und die quirrlige, durchaus für die Unterpreviligierten kämpfende (Selbst)Darstellerin Maureen, hat dank der großartigen Jessica Schaffler durchaus auch „Zuckerbär“-Qualitäten.
Lorin Goltermann und Duygu Yüzbasioglu standen, als bereits geoutete Fans der Puccini Oper La Bohème, besonders in meinem Fokus. Es wundert sich auch nicht, dass mich schon die wenigen Takte des Musette Walzers, die Roger immer wieder erklingen lässt, für ihn und natürlich seinen Darsteller Lorin Goltermann einnahmen. Im Laufe des Abends war ich immer begeisterter von dem jungen Sänger, der mich mit seiner Stimmfarbe stark an den jungen Patrick Stahnke erinnert, aber schon jetzt seine ganz eigene persönliche Ausstrahlung hat, die ihn für viele Musical Helden prädestiniert wie vielleicht auch den Hetzer in „Titanic“, mit dem einst Stahnke seine Karriere begann. Oder auch, etwas klassischer, den Tony in Bernsteins „West Side Story“ und noch so einiges mehr.
Wie dem auch sei, Goltermann verleiht Roger ganz unspektakulär und natürlich einen Charakter, der Mimi zwar begehrt und liebt, aber da er schon ein Mal eine Freundin an die Drogensucht verlor, stark dagegen ankämpft.
Duygu Yüzbasioglu ist eine absolut entzückende vom ersten Moment für sich einnehmende Mimi. Okay, die Kennlernszene in Rent ist trotz Kerze weniger romantisch als das Original, aber dafür auch glaubwürdiger und weniger kitschig. Zeitgemäß halt. Und Yüzbasioglu hat als Mimi eine Zerbrechlichkeit, die sich besonders auch darin zeigt, dass ihre Mimi sich hinter liebevoller Forschheit versteckt. Stark, wie sie uns Mimis inneren Kampf zeigt und die Verzweiflung darüber, dass sie auch für Roger nur sehr schwer vom Heroin lassen kann, sosehr sie es auch will. Auch gesanglich vereinigt Yüzbasioglu Kraft und Zartheit, moduliert ihre Stimme passend zu jeder Situation und Emotion. Spontan schwebt mir für sie die Lucy in Jekyll and Hyde vor oder, wenn auch wieder etwas altmodisch, die Eliza Dolittle in My fair Lady. Oder doch etwas ganz anderes.
Wie dem auch sei, ich wünsche allen Beteiligten viel Kraft und Freude im letzten Jahr und dann viel Erfolg, den schönen, schweren Traumjob wo auch immer erfolgreich ausüben zu können! Letzteres wünsche ich schon jetzt den diesjährigen Absolventen, die zusammen mit dem Rest des Publikums, die Kollegen auf der Bühne lautstark und tatkräftig unterstützten!
Fazit: Irgendwie scheint es mir sinnvoll, sich Rent in dieser farbenfrohen, aber doch auch realistisch bodenständigen Inszenierung mindestens zweimal anzusehen. Und das nicht alleine, weil es immer spannend und interessant ist, die Alternativbesetzung(en) zu erleben, sondern weil, davon bin ich überzeugt, erst dann die wichtige zeitlose Botschaft sich wirklich setzt, erst dann richtig ankommt.
Damit meine ich die Botschaft hinter dem tollen Motto: „Vive la vie Bohème!“,Damit meine ich die Botschaft hinter dem tollen Motto: Vive la vie Bohème!, das für Spaß am Leben steht und den gibt es in diesem Stück natürlich auch!
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 28.7. 2024