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Hamburg Ballett – Epilog: lang nachhaltendes (Be)Rührtsein

Titelbild: PhotoCredits: https://www.kiranwest.com/

Nun haben sie begonnen, die 49. und damit letzten Balletttage der Ära John Neumeier. „Epilog“ Neumeiers letzte Kreation und Uraufführung in der Staatsoper Hamburg, ist sein emotionalstes, doch völlig kitsch“freies Werk, sieht man von einigen Balletten, die auf literarischen Vorlagen, wie „Liliom“, „Endstation Sehnsucht“ und „Glasmenagerie“ ab oder auch der getanzten Biografie-Interpretation von Vaslav Nijinsky. Die Emotionalität zeigte sich auch am Ende, als einige Zuschauer*innen kaum den letzten Ton von Richard Strauss‘ „Im Abendrot“ abwarten konnten, obwohl das Bühnenlicht erst erlosch. Danach jedoch herrschte einhellige Begeisterung und großer Jubel, der bei John Neumeiers Erscheinen auf der Bühne in stehenden Ovationen im gesamten, ausverkauften Haus mündete.

Louis Musin
PhotoCredits: Kiran West

„Epilog“ ist ein vielleicht irreführender Titel, da Epilog in etwa Schluss- oder Nachwort bedeutet. Der scheidende Ballettdirektor betont jedoch im Journal, der Zeitschrift der Staatsoper Hamburg, dass dieses Werk einzig sein letztes Werk als Intendant des Hamburg Balletts sein wird. Wir dürfen also auch in Zukunft noch Neues von ihm erwarten, vielleicht für das Bundesjugendballett? Worum es dann in „Epilog“ geht? Mir persönlich widerstrebt es, es als Autobiografie Neumeiers zu sehen. Er erzählt, wie so oft, von uns Menschen im allgemeinen, unseren Träumen, Sehnsüchten, Ängsten, Freuden und nicht zuletzt äußeren und inneren Kämpfen. Jeder von uns kann sich und eigene Befindlichkeiten in einem der Charaktere wiederfinden – oder halt doch Parallelen zu John Neumeiers künstlerischem Werdegang ziehen. Wie man es auch sieht, Neumeier nimmt uns mit in eine Welt der tiefen und auch freimütig gezeigten Gefühle und manchmal atemberaubenden, fast akrobatischen aber auch klassisch schönen (Tanz)Bewegungen.

Ensemble
PhotoCredits: Kiran West

Die Kostüme von Albert Kriemler – A-K-R-I-S– sind zeitlos elegant schlicht: Anzugjacken auf nackter Haut oder auch nur T-Shirts mit passenden Hosen für die Herren. Kurze, am Rocksaum leicht rüschige oder lange weich fallende Kleider für die Damen. Lichtregie, wie auch das Bühnenbild, sind von John Neumeier entworfen, Filme von Kiran West, unterstützen die Dramatik und Dynamik des Werkes gezeigt auf einer verstellbaren Leinwand, die manchmal auch als Szenentrenner zwischen Haupt- und hinterer Bühne dient. Ansonsten ähnelt das, immer sichtbare, Bühnenbild einem Blick hinter die Kulissen, scheint ein holzvertäfeltes Kirchen(fenster)element darzustellen, ist in einer Szene von vorn zu sehen und zeigt einen Gemäldeausschnitt mit zwei antik gekleidete Personen. Wichtig als Requisit ist einer bzw. sind mehrere Stühle, ein Küchentisch um die immer wieder drei oder vier Personen sitzen oder stehen und auch ein Zylinder.

Caspar Sasse,
PhotoCredits: Kiran West

Für mich optische Zitate aus alten Neumeier Balletten, wobei ich den Stuhl so ad hoc leider nicht zuordnen kann. Die Küchenszene scheint mir auch was die Darstellung angeht „Der Glasmenagerie“ entlehnt zu sein, der Zylinder spielt in „Liliom“ eine Rolle, als eine Art Erbstück von Liliom an seinen Sohn, ist aber auch in „The World of John Neumeier“ von Bedeutung. Vielleicht überinterpretiert von´mir, aber für mich hat besonders dieser Hut eine subtil symbolische Bedeutung; wenn ich so überlege, sogar mehrere. Der Hut wird weitergereicht, abgelegt, sodass es einen neuen Besitzer oder mehrere gibt, doch vom vorherigen etwas bleibt. Aber vielleicht ist es auch Hut ziehen vor der Kunst „Tanz“ an sich oder denen, die er einmal, völlig respekt- und liebevoll, sein „Material“ nannte: sein wunderbar vielseitiges Ensemble. Das hier, auch wenn es im weitesten Sinne einige Protagonist*innen gibt, absolut im Mittelpunkt steht.

Alina Cojocaru , Jacopo Bellussi
PhotoCredits: Kiran West

Denn natürlich wird die Musik durch die Choreografie interpretiert, doch dient sie eher der Untermalung, Unterstützung und nicht selten wird sogar auf sie verzichtet, nicht nur am Ende. Es beginnt schon damit, dass der junge Tänzer Caspar Sasse am Anfang in einer spannungsvoll stillen Sequenz langsam über die gesamte Tiefe der Bühne schreitet, oder Alina Cojocaru und Jacopo Bellussi bei „September“ , dem zweiten der „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss ein tief emotionales „stummes“ Pas de deux tanzen, voller Zärtlichkeit, Sehnsucht und tänzerischer Leichtigeit.

Stimmungsvoll auch die Lieder von Simon & Garfunkel: „The Danglin Conversation“, „The Sound of Silence“ und „Song for the Asking“, die sich in die Auswahl der beiden klassischen Komponisten wunderbar einfügen und dazu herausfordern, sich zu einem späteren Zeitpunkt, wie auch bei den „Vier letzten Liedern“, mit dem Zusammenhang Tanz/ Text zu beschäftigen.

Asmik Griogian, Aleix Martinez
PhotoCredits: Kiran We
st

David Fray und bei Franz Schuberts Fantasie f-Moll D 940 auch Emmanuel Christien spielen mit viel Einfühlungsvermögen. Fray begleitet auch Sopranistin Asmik Grigorian mit viel Gepsür für Stimme und Dramaturgie. Griorgians Sopran geht unter die Haut und dass der Text nicht immer wirklich verständlich ist, macht der Intensität und Qualität ihres Vortrages kaum einen Abbruch. Wie schon als „Salome“ fasziniert sie auch durch ihre Ausstrahlung und Bühnenpräsenz. Dazu kommt, dass sie nicht nur in einem Albert Kriemler – A-K-R-I-S– Kleid dasteht, sondern ein Teil des Ganzen ist und mit viel Gefühl allein oder auch mit den Tänzern agiert. Besonders berührend der Moment, wenn sie Aleix Martinez beruhigt, dessen Rolle mit fast epileptisch zitternden Händen einen starken inneren Kampf auszufechten scheint.

Ja, sicherlich ist es ein Mal mehr ein Ensemblestück, was sich auch darin zeigt, dass es oft verschiedene Tanzformationen im selben Augenblick zu sehen gibt. Und immer wieder sind noch weitere szenische Zitate aus anderen Stücken zu entdecken, wie die boxenden Herren, die an Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ denken lassen oder das Solo von Alessandro Lucia Frola, das leichte Parallelen zu dem Damensolo im „Engel“-Satz der 3.Sinfonie von Mahler aufweist.

Alessandro Lucia Frola
PhotoCredits: Kiran West

Frola, gehört zu jenen Tänzer*innen, die irgendwie „Primi inter Pares“ sind. Er fasziniert und zieht durch seine Losgelöstheit in den Bann, wie auch besonders Aleix Martinez tanzt er wirklich mit Körper und Seele. Selbst wenn Frola einfach nur dasteht und sich von anderen umarmen lässt, ihnen kurzen Halt durch seine Umarmungen gibt, ist er präsent und ganz Emotion. Seine Szenen mit dem ausdrucks- und kraftvollen Christopher Evans zeigen Neumeiers Geschick für wunderschöne, tiefsinnige Herren-Pas de deux, die für sich allein genommen schon Geschichten erzählen

Aleix Martinez besticht durch Bewegungen, die so tief und echt sind und oft der Schönheit des klassischen Tanzes so gar nicht entsprechen. Aber auch Artem Prokupchuk zieht in den Bann. Unter anderem durch einen kraftvoll getanzten Wutausbruch mit hohen Sprüngen und Stuhl.

Matias Oberlin, Anna Laudere, Artem Prokupchuk
PhotoCredits: Kiran West

Wunderbar auch die „Familienszenen“ voller Verzweiflung, Trauer, Trost zwischen Prokupchuk, Sasse, Matias Oberlin und Anna Laudere, und Louis Musin, Hier paaren sich ästhetisch weiche Bewegungen mit sichtbar gemachten Charakterinterpretationen. Schön auch Silvia Azoni wiederzusehen, die, vielleicht unterstützt durch das blaue Kleid und auch einiger ihrer Bewegungen, an Neumeiers „Die kleine Meerjungfrau“ denken ließ oder auch Madoka Sugai und Alexandr Trusch, die, wann immer sie auf der Bühne auftauchen, sofort für sich einnehmen. Dank ihrer Anmut und seiner kraftvollen Präsenz und noch einigem mehr. Ida Praetorius, zart und mädchenhaft ohne süßlich zu sein, ist eine wunderbare Partnerin für Caspar Sasse und Louis Musin, die wohl beide als die Hauptcharaktere genannt werden dürfen. Es ist einfach bewunderungswürdig und wunderbar, wieviel in diesen beiden jungen Männern steckt. Sasse ist 21, Musin knapp ein Jahr älter und beide haben schon so eine tiefe authentische Reife, die die Jugendlichkeit der beiden aber keineswegs verdrängt. Tänzerisch nehmen sie sich nichts an Sprungkraft und Exaktheit ihrer Bewegungen und auch sie zeigten ein Pas de deux, das auf allen Ebenen berührt. Caspar Sasse habe ich bisher nur in diesem Ballett bewusst erlebt. Doch Musin reiht sich für mich schon jetzt so nach und nach in die Tänzer ein, die man Charaktertänzer nennt, da sie Interpretation und Tanzkunst verschmelzen lassen.

Ida Praetorius Louis Musin
PhotoCredit: Kiran West

Fazit: Es war wieder einer dieser wundervollen Abende, die eine kurzzeitige „Schreibblockade“ hervorrufen, weil sie so sehr nachklingen, dass es schwer (für mich) ist, alles in schöne Worte zu packen, ohne statt meiner üblichen Kurzgeschichten-Länge, einen Kurz-Roman daraus zu machen. Wieder ging es – leider auf Kosten der tollen Leistungen der Tänzer, die viel zu kurz erwähnt wurden. Ja und wieder ist die Freude groß, es nächste Saison bei demselben Stück anders oder besser machen zu können,

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 30.06.2024

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1 Kommentar

  1. simon fisher 3. Juli 2024

    Toll! Gut, dass die Schreibblockade nur vorübergehend war – ich habe das Gefühl, ich war im Saal mit – bin trotzdem etwas traurig, dass das nicht möglich gewesen ist!

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