Titelbild: Olga Smirnova, Jacopo Bellussi
PhotoCredits: Kiran West
Am 8.5. wurde John Neumeiers Ballettadaption von Leo Tolstois Gesellschaftsroman Anna Karenina zum dritten Mal in dieser Spielzeit und in neuer Besetzung aufgeführt, was, wie stets beim Hamburg Ballett, die Möglichkeit bot, an denselben Charakteren neue Akzente zu entdecken und zu genießen. Wieder gab es drei Debüts: Madoka Sugai tanzte zum ersten Mal Anna Kareninas Schwägerin Dolly, Christopher Evans gab Alexej Karenin, Annas Ehemann, und Quinn Bates (Ballettschüler) den gemeinsamen Sohn. In der Titelrolle gelang es Gastsolistin Olga Smirnova ein berührend überzeugendes Bild einer Frau zu zeichnen, die bei dem Lacrosse-Spieler Alexej Wronski (Jacopo Bellussi) endlich findet, was Karenin ihr versagt: Leidenschaft und Liebe, was jedoch mit ihrem Suizid endet.
Diese, alle Konventionen sprengende, Liebe stellt John Neumeier anderen Beziehungen aus anderen Familien gegenüber. Da ist Dolly, der es nicht gelingt, sich von ihrem untreuen Ehemann zu trennen und dann ist da Dollys jüngere Schwester Kitty, die mit Lewin, dem Bauern, aus Leidenschaft eine Art on-off Ehe führt.
Neumeier verquickt Situationen mit ähnlicher Aussage und vergleichbaren Emotionen auf gewohnt geschickte Weise, womit er ein authentisches, zeitloses Gesellschaftsbild zeigt, das ins Heute passt wie in die Welt Tolstois. Auch die Musikauswahl: Tschaikowski, Schnittke, Cat Stevens charakterisieren die einzelnen Szenen und deren Bedeutungen mehr, als dass sie sie untermalen. Alfred Schnittkes kompliziert verwobene Klänge und Melodien dann, stehen für Leid, Verwirrung und letztendlich für die Unmöglichkeit, den Konventionen der Gesellschaft, aber auch unseren (Selbst)zweifeln und negativen Gedanken, auf Dauer die Stirn zu bieten um frei zu sein.
An diesem Abend berührte mich die Interpretation der Musik durch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Nathan Brock noch mehr als bei der Wiederaufnahme zwei Wochen zuvor. Wie heißt es manchmal in der Partitur? „Con amore, con anima, con dolore, con espressione (…)“. Mit Liebe, mit Seele, mit Schmerz, mit Ausdruck, all das wirkte an diesem Abend so perfekt. Ich vermeide Superlative gerne, ebenso wie als allgemein gültig hingestellte Beurteilungen, wie „besser“, doch an diesem Abend waren da diese berühmten besonderen „Vibes“ aus dem Graben, die zusammen mit den Leistungen auf der Bühne ein berührend bewegendes Ganzes bildeten.
Die drei Ersten Solisten Xue, Lin, Karen Azatyan und Aleix Martinez tanzten ihre Rollen bereits bei der offiziellen Wiederaufnahme. Auch mit neuem Partner als ihren Vorgesetzten Alexej Karenin, bewies Xue Lin als Lydia Iwanowna ihre zur Rolle passende kühle Anmut und überzeugte auf ganzer Linie. Azatyan faszinierte als auf dem Bahnhof, bei Wronskis und Annas erster Begegnung, getöteter Arbeiter, der in beider Köpfen immer wieder als böser Geist herumspuckt. In Smirnova oder/und Bellussi, breitet sich dank der Leistung aller drei eine fast greifbare Bedrohung aus. Azatyan dominiert, ist stets der kraftvollere und schafft es, natürlich zusammen mit Smirnova, Annas Hilflosigkeit und Panik spürbar zu machen, auch wenn diese nie aufgibt den Alptraum zu bekämpfen.
Irgendwann habe ich Aleix Martinez als „kleinen Mann, der stets Großes leistet“ bezeichnet. Dabei bleibe ich auch hier, er ist der, bei dem ich am gespanntesten bin, ihn in Choreografien von Volpi, Bausch und anderen zu sehen. Seine Körperspannung, die er ohne Mühen fallen lassen kann, damit der sensible Lewin regelrecht in sich zusammenbricht, seine starke authentische Ausdruckskraft, die Art wie er verzweifelt, verliebt, tröstend oder auch herzerwärmend tollpatschig agiert, ziehen immer wieder in den Bann.
In den Rollen des unglücklichen Ehepaars Dolly/Stiwa debütierten Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann. Sugais verzweifelte Wutausbrüche sind Ausdrucktanz par excellence, sie erlebt jeden Moment, auch die mit ihren Kindern oder ihrem Mann, mit jeder Faser, scheint sich ganz der Rolle hinzugeben. Gläsmann ist ein Stiwa, der in wechselnden Affären Selbstbestätigung sucht und viel Stärke in den Pas de deux ausstrahlt. Besonders unter die Haut gingen seine Verzweiflungsschreie, nach dem Dolly ihn zum ersten Mal in flagranti erwischte.
Die anderen beiden Debütanten waren Quinn Bates als Serjoscha Karenin und Christopher Evans als Politiker Karenin. Der hochgewachsene Bates strahlt viel kindliche Verspieltheit aber auch Verletzbarkeit aus, er wirkt sicher auf der Bühne und auch bei den Hebungen. Evans wirkt, nun komme ich um einen Vergleich doch nicht herum, weniger aalglatt als Matias Oberlin, der die Rolle bei der Wiederaufnahme tanzte. Evans scheint weniger skrupellos, seine Bewegungen sind geschmeidig wie eh und je, seine Sprünge kraftvoll und er glänzt durch seinen unverkennbaren Stil, seine eher zurückhaltende, aber spürbare Bühnenpräsenz.
Die Erste Solistin des Dutch National Ballets Olga Smirnova und Jacopo Bellussi, Erster Solist hier und engagierter Unterstützer sozialer Projekte in seiner Heimatstadt Genua, porträtierten Anna und Wronski mit romantischer Hingabe, Leidenschaft und ließen das Publikum teilhaben an der Unbeschwertheit und auch dem Leid ihrer Liebe. Jeder Blick, jeder Geste, jede gemeinsame Bewegung überzeugte. Und wieder lernte das Publikum eine andere Art positiver Energie und Chemie kennen, vielleicht die in den positiven Momenten am intensivsten jugendlich-entspannt wirkende. Wie auch Revazov/Laudere oder Trusch/Laudere , sind Bellussi/ Smirnova ein wunderschön harmonierendes Paar, das in anderen Partien zu sehen sicher auch ein Genuss wäre. Einen Vergleich zu ziehen zu Revazov/Laudere wäre aus verschiedenen Gründen schwierig- naja und unnötig sowieso. Wurden die Rollen doch für sie, die auch im wahren Leben ein Paar sind, kreiert und zumindest ich erinnere mich nur noch dank des Videos und der emotionalen Close- ups an diese Paarung.
Trusch der bei der Wiederaufnahme debütierte ist ein eher nachdenklicher Wronski, Bellussi eben ein sehr junger, vielleicht kommt er in seiner Interpretation dem Original aus dem Roman, dem eigentlich Unabhängigen, am nächsten. Auch tänzerisch hat er etwas an sich, sei es bei den Sprüngen, Hebungen, Drehungen oder auch seine Port de Bras, das ihm eine besondere Persönlichkeit verleiht.
Mir ist bewusst, dass ich meine Affinität für Anna Laudere, der Anna aus der Wiederaufnahme, nie wirklich verberge. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass Olga Smirnova mich nicht in ihren Bann zog, faszinierte und begeisterte. Ihre strenge, klassisch russische Ausbildung merkt man an jeder ihrer graziösen Bewegungen und fast schwerelosen Sprüngen. Doch auch sie ist Tanzdarstellerin mit einer unglaublich femininen Ausstrahlung, die Stärke wie auch Zerbrechlichkeit gleichermaßen widerspiegelt.
Ihr Buhlen um die Zuneigung ihres kalten Ehemannes, ihre Hingaben an Wronski, ihr verzweifelter Kampf mit den Dämonen des Unfalls und auch der steigenden Verachtung der Gesellschaft, all dies verkörpert Smirnova mit wunderbarer Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit. Möge sie bald als Gastsolistin, in welcher Rolle auch immer, zurückkehren um, mit Bellussi?, zu tanzen.
Fazit: Die Ära Neumeier endet nun bald, nicht nur zu meinem großen Bedauern. Doch lassen Sie uns nicht sagen bei Neumeier war alles besser, sondern bei Volpi wird alles anders schön. So wie eben jede Besetzung anders toll, aber immer liebevoll enthusiastisch umjubelt wird.
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 8.5.24