Im November 2021 verlegte Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov Richard Strauss’ Oper Elektra aus der griechischen Antike in eine Altbauwohnung des Großbürgertums. Nun inszenierte Tcherniakov auch Richard Strauss‘ Salome in einem ähnlichen und für ihn typischen Ambiente, was vom Premieren Publikum mit kaum hörbaren Buhs aber umso intensiverem Jubel aufgenommen. Doch galt dieser in erster Linie der gesamten Besetzung, allen voran ihr: Asmik Grigorian in der Titelrolle, die eine wirklich fantastische Leistung bot und stimmlich, wie darstellerisch tief berührte und beeindruckte.

Und wieder stehen die Familienkonflikte im Mittelpunkt
Wie schon Elektra ist auch Salome eine missverstandene/-misshandelte Tochter mit einem sehr schwierigen Verhältnis zu Mutter und Stiefvater, darum scheint ein ähnliches szenisches wie auch handlungsbezogenes Setting schon logisch. Zumal für einen Regisseur wie Tcherniakov, dessen Präferenzen oft darin liegen, in Opernhandlungen Gesellschafts/Familiendramen zu entdecken und das Publikum damit zu konfrontieren. Dadurch beweist er ein gewisses psychologisches Talent und empathisches Geschick in der Personenführung und deckt Seiten in der Geschichte auf, die man vielleicht nicht sofort selbst entdeckt, die aber interessante Aspekte ans Licht bringen und zum Nachdenken anregen. Andererseits bekommt die Geschichte um die Tochter der Herodias, die von ihrem lüsternen Stiefvater. als Lohn für einen (erotischen) Tanz, den Kopf des Propheten Jochanaan verlangt, eine andere, ganz neue Dynamik. Das Zusammenspiel von Wilde’s poetischen Ausdrücken, wie „…. das Spiegelbild einer weißen Rose in einem silbernen Spiegel“, und Strauss‘ spannungsvoll-bildhafter Musik, verliert die mystisch-morbide Sinnlichkeit, die in Musik und auch Worten mitschwingt.

Photo Credits: Monika Ritterhaus
Bilder und Kostüme im Stile von Aubrey Beardsley, der Oscar Wilde’s Originalstück Salome illustrierte, wäre eine Ergänzung zu den wundervollen Klängen, die ich mir gut vorstellen könnte. Oder lassen Sie es mich so ausdrücken: Die Musik- und Oscar Wilde -liebhaberin in mir träumt von einer solchen Produktion, weil sie Mystik und nicht zu überladene klassische Ausstattung in diesem Fall mögen würde.
Die Geschichtenerzählerin und an allem zwischenmenschlichem Interessierte allerdings ist fasziniert Tcherniakovs Ideen und erstaunlicherweise fällt der innere „Kampf“ positiver für Tcherniakov aus als damals bei seiner Elektra, der ich nach dieser Salome eine zweite Chance geben werde.
Faszination versus Mögen
Habe ich das Gefühl, die eigenen Worte reihen nicht, greife ich ja immer wieder gerne auf Wortkünstler Oscar Wilde zurück. So auch mit der Überschrift „Faszination versus Mögen“. Denn zwar fehlt die fast krimihafte Spannung der Elektra, aber es gibt so viele subtile Dinge zu entdecken, die wie ein Gesellschaftsspiegel sind und so halt faszinieren, auch wenn tief im Hinterkopf stets ein „aber“ herum rumort, ganz leise.

Photo Credits: Monika Ritterhaus
Da sind zum Beispiel die Kostüme von Elena Zaytseva, die dem Publlkum Rückschlüsse auf Charaktere, der Selbstbildnis, der Protagonisten erlauben: wie zum Beispiel der exzentrisch auffällige Anzug des Herodes, die Marien-Krone der Herodias, der für die gehobene Gesellschaft eher schlampige Auftrittsaufzug der Salome, der von Trotz und Widerstand zeugt, oder auch Jochanaan, der an einen eher ungepflegten Straßenprediger denken lässt als einen Propheten Christi.
Doch es ist mehr als das. Um bei Jochanaan zu bleiben, der die meiste Zeit mit dem Rücken zum Publikum sitzt: Er ist hier alles andere als geheimnisvoll, sondern ein halbglatziger. absoluter Unsympath, der Salome sogar auslacht. Oder der wirklich lächerlich ignorante, selbstverliebte Herodes, der sogar strahlt und fast devot gegenüber dem Propheten wirkt, wenn dieser ihn und Herodias beschimpft.
An dieser Stelle schon einmal ein Hoch auf die Herren John Daszak als Herodes und Kyle Ketelsen als Jochanaan, die beide ihren Rollen soviel authentisches Format geben, dass man Personen sieht, wie man sie auch im echten Leben treffen kann. Mag Ketelsens Jochanaan auch jemand sein, der nicht wirklich vertrauenswürdig wirkt, kann man ihm nicht absprechen, dass sein, im Gegensatz dazu, schön gefärbter Bariton ihm Charisma verleiht. Diese Diskrepanz intensiviert sein fast brutales (Verteidigungs)Verhalten Salome gegenüber.

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Der Kritiker soll das Publikum bilden, der Künstler den Kritiker
Daszak knüpft mit seiner Leistung an seinen Aegisth an, der ja ein ähnlich verweichlichter Charakter ist wie Herodes: Überdreht und, wie ich es gerne nenne, „herrlich widerlich“. Sein Tenor hat hier den passenden, manchmal fast unangenehmen Klang, der seine Darstellung nahezu perfektioniert. Besonders imponiert Daszak wenn er die, vom ersten bis zum letzten Moment einfach fantastische. Asmik Grigorian als Salome überredet für ihn zu tanzen, während des Schleiertanzes und auch bei Herodes‘ vergeblichem Versuch, der Stieftochter den Wunsch nach dem Kopf des Jochanaan auszureden.
Diese Sequenz von der Bitte zu tanzen bis zur widerwilligen Erfüllung des brutalen Wunsches ist ja eh das Herzstück der Oper (abgesehen vom anschließenden Monolog). In dieser Produktion sind diese Szenen, nicht nur dank der äußerst ausdrucksstarken Musik und hervorragenden Leistungen von Grigorian/Daszak, Höhepunkt der Oper, sondern auch wegen der tiefsinnigen, aber doch sehr im Gegensatz zur Musik stehenden Regie.

Photo Credits: Monima Ritterhaus
Vorher schon gibt es Szenen, die auch im Gegensatz zum Text stehen und bei denen ich, die hier ein weiteres Wilde-Zitat als Titel benutzt, mich ein wenig überfordert fühle, was das „bilden/erziehen (educate)“ des Publikums angeht. Was für mich bedeutet, mitzuteilen, wie ich etwas, das viel Konzentration und Interpretation verlangt, sehe oder empfinde. Und da komme ich beim Selbstmord des i n Salome verliebten Naraboth an meine Grenzen. Denn Oleksiy Palchykov rennt einfach nur völlig von Salome entnervt von der Bühne, um später an Herodes‘ Seite wieder aufzutauchen, inzwischen tot… Palchykov ist ein sehr stimmstarker Naraboth und seine Vielseitigkeit begeistert mich immer wieder. Dass er auch besonders intensiv spielt, liegt sicher neben seinem Talent auch an der Regie und an Asmik Grigorians eindringlicher Darstellung, sodass sie ihn, wenn sie ihn über den Tisch hinweg an sich reißt, mit ihrer Energie mitreißt.
Dann ist da die Sache mit der Höhle, in der Jochanaan bedingt gefangen gehalten wird. Sie existiert nicht, denn wie gesagt, der Prophet sitzt am unteren Ende der Festtafel. Dennoch, irgendetwas in Grigorians Art diese Textstelle zu intonieren, ihrem intensiven Blick in seine Augen erweckt den Eindruck, hier wird etwas metaphorisch gemeint, es geht um die eigene, innere Dunkelheit, das in sich selbst Gefangen sein. So wie, meiner Meinung, nach alle Personen nur sehen, was sie sehen wollen. Wie es uns allen hin und wieder passiert.

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Inneres Erstarrtsein, statt sinnlich erotischer Tanz.
Bestärkt wird mein Eindruck, dass alles sich eigentlich viel mehr im Innern der Protagonisten abspielt, auch durch die Tatsache, dass es weder einen abgehackten Kopf noch einen wahren Tanz gibt. Nur zu Beginn, bei den ersten sehr intensiv wilden Takten des „Tanzes der sieben Schleier„zeigt Asmik Grigorian auf einem Stuhl stehend, eher kindlich/kindisch hampelnde Bewegungen, die erschrecken, da sie, wie auch einige andere Gesten im Verlauf des Stückes, Salomes Seelenqualen hinauszuschreien scheinen. Schon bei der Begrüßung von Herodes zu Beginn, legt sie seine Hände auf ihre Brüste. Damit vermittelt sie (mir) nicht erotisches Verlangen, sondern es ist eher ein verzweifeltes „Das ist es doch, was du willst“. Wie eine Provokation, mit der ein Missbrauchsopfer sich zum Täter machen will, um sich zu schützen, in dem es Stärke vortäuscht, um unattraktiv zu sein oder (Naraboth gegenüber) zu schockieren.
Noch beim Schreiben spüre ich Grigorians Bühnenpräsenz und ihre unglaubliche Ausdruckskraft, stimmlich wie darstellerisch. Es ist einfach nur bewundernswert ,was diese Frau in diesen ca. 105 Minuten leistet. Besonders eben während des Tanzes und im Endmonolog. Denn je intensiver die Musik wird, je mehr von den sieben Schleiern zumindest in ihr fallen, desto starrer oder auch willenloser wird Grigorians Salome. Sie legt sich nur in Unterwäsche rücklings über Herodes‘ Schoß, liefert sich ihm aus, lässt sich von ihm in eine Art auffälliges Zirkuskostüm kleiden, wirkte vorher schon mit weiß geschminktem Gesicht wie ein Pierot. Die ganze Zeit verzieht sie nicht eine Miene. Man kann einfach nicht anders, als von ihr berührt zu sein, mit dieser Person, die sie darstellt, ja in dem Moment zu sein scheint, mitzufühlen, zu leiden.
Dazu kommt dann ihr einfach wunderschöner Sopran, mit dem sie die schwierigsten Töne zum Klingen bringt, ohne dass sie im mindesten angestrengt wirkt. Ihre Stimmfarben sind so vielfältig wie ihr Spiel.
Was Asmik Grigorian an diesem Abend bot, gehört in die Kategorie: hier reiche keine 100 Worte und doch ist jedes Wort zu viel, weil es verwässert oder gar verzerrt. Darum nur noch ein lautstarkes: Brava!!!

Photo Credits: Monika Ritterhaus
Ein Wort zum Abschluss
Aber auch alle anderen, allen voran, Violeta Urmana, am Ende ihrem Gatten gegenüber äußerst schadensfrohe und über Jochanaans Tod erleichterte Herodias. Aber auch alle anderen gaben mit Erfolg ihr Bestes für das Gelingen der Premiere. Auch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von GMD Kent Nagano, der erwartungsgemäß, beim ersten Vorhang und nur beim ersten Vorhang, unüberhörbaren Buhs empfangen wurde. Was an der Interpretation auszusetzen war, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch gestehe ich, bei einer solch intensiven, vom Publikum viel Aufmerksamkeit verlangenden Produktion, wünsche ich mir manchmal die Gelegenheit, sie auch konzertant mit exakt derselben Besetzung erleben zu dürfen, um mich dann ganz Musik und Stimmen hingeben zu können.
Doch weil sich dieser Wunsch kaum erfüllen lässt, verspreche ich: Das nächste Mal schenke ich auch wieder wirklich allen Sänger*innen auf der Bühne die Aufmerksamkeit in meinem Bericht, die sie verdienen. Bis dahin: Danke!
Birgit Kleinfeld,Vorstellungsbesuch 29.10.2023