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Elbphilharmonie: Leon Gurvitch / Barno Ismatullaeva – „Träumereien“

Geplant war dieser Abend eigentlich mit Sopranistin Olga Peretyatko als Interpretin der Liederzyklen von Heinrich Heine und Anna Akhmatova zu Melodien von Komponist, Dirigent und Pianist Leon Gurvitch. Doch manchmal kommt es anders als geplant: Olga Peretyatko erkrankte kurzfristig an Corona, doch Barno Ismatullaeva, Mitglied der Staatsoper Hannover, erklärte sich bereit, zwölf Lieder in zwei Tagen zu lernen und aufzuführen. Das Ergebnis? Ein Abend, der das Publikum in den Bann zog, vom ersten Ton der „Songs without tears“ gespielt von Leon Gurvitch am Klavier, bis hin zum „Amen“ der Zugabe (Gurvitchs „Ave Maria“ gesungen von der Sopranistin).

Leon Gurvitch
Photo Credits: Irina Gurvitch

Die Werke für Soloklavier

„Wann erleben Sie heutzutage noch einen lebenden Komponisten klassischer Musik, der seine eigenen Werke, inklusive Welturaufführungen, spielt?“ So begrüßte Leon Gurvitch das Publikum im ausverkauften Kleinen Saal der Hamburger Elbphilharmonie. Er tat dies mit humorvoller Natürlichkeit, augenzwinkernd. Allüren sind ihm fremd, seine Werke bringt er nicht nur mit technischer Virtuosität zum Klingen, sondern er legt (so kitschig es sich lesen mag) sein ganzes Wesen in seine Darbietung, was sich in seiner lebendigen Mimik und Gestik zeigt. Seine Musik selbst sprüht vor Emotionalität, weckt Bilder im Inneren der Zuhörer*innen. Und zwar gleich einem guten Geschichtenerzähler: Gurvitchs Melodien leiten zum Träumen an, zum Eintauchen in die Musik, doch wie es auch ein guter Autor tun sollte, gängelt er seine Zuhörer nicht, sondern erlaubt eigene Interpretationen, Gedanken, Gefühle.

Leon Gurvitch
Photo Credits Henriette Mielke

Das galt an diesem Abend für seine „Songs without tears“, die für mich teilweise schon etwas Sentimental-trauriges hatten, wie auch für seine Variationen zu dem Schubert/ Heine Lied „Im wunderschönen Monat Mai“. Man hört hier „als alle Vögel sangen“, aber auch die Kraft und vielleicht sogar Ungewissheit „Da hab ich ihr gestanden, mein Sehnen und Verlangen.“ Von den weiteren sinfonischen Werken an diesem Abend, wie ein Vocalize für Soloklavier, „Gija„, einem sehr gefühlvollen, dem vor kurzem verstorbenen georgischen Komponisten Gija Kantscheli gewidmet, und Gurvitchs 16 „Variations on a theme by Nicòlo Paganini“ begeisterte letzteres am meisten. Welch eine Virtuosität und Leichtigkeit, und auch hier zeigt sich subtil, dass es Leon Gurvitch, der durch und durch Musiker ist, auch in seinen Stücken nicht an Humor mangelt. Denn hier schleicht sich in mächtige Pedal gestützte Akkorde, recht unerwartet ein kleiner einzelner sehr hoher Ton. Herrlich!

Die beiden Liederzyklen

Leon Gurvitch, Barno Ismatullaeva, Alle Fotorechte Jerzy Pruski

Doch natürlich waren die beiden Liederzyklen, die eigentlichen Höhepunkte des Konzertes sind, zumal beide – wie auch die Paganini Variationen – zum ersten Mal in der Elbphilharmonie Hamburg aufgeführt wurden und der Zyklus König Grauauge mit den Werken von Anna Akhmatova gar eine Uraufführung war. Dazu kommt diese, immer irgendwie aufregende Ungewissheit, wenn ein/e Sänger*in äußerst kurzfristig für eine Kolleg*in einspringt. Wenn diese/r Kolleg*in noch dazu ein Weltstar ist, den man persönlich sehr schätzt, gesellt sich manchmal, leise und ungewollt ein wenig (wirklich nur ein ganz klein wenig) Skepsis dazu. Mea Culpa, Barno Ismatullaeva.

Wie viel größer und schöner war dann aber die Überraschung, die Freude, die Begeisterung, als der neue Gast schon mit den ersten Tönen in den Bann zog. In diesem Falle waren es auch gehässig gelachte, wie es halt zu dem „Weib“ aus Heinrich Heines Gedicht „Ein Weib“ perfekt passt.

Leon Gurvitch, Barno Ismatullaeva
Alle Fotorechte Jerzy Pruski

Mit diesem stimmlich wie ausdrucksmäßig absolut perfekten Vortrag gewann die usbekische Sopranistin, die im Sommer bei den Bregenzer Festspielen großen Erfolg als „Madama Butterfly“ hatte, das gesamte Publikum sofort und vollständig für sich. Auch den fünf anderen Liedern verlieh Ismatullaeva, mit ihrer wohltönenden, vielfarbigen Sopran leidenschaftliche Tiefe und ersetzte, nicht zuletzt auch dank Gurvitchs Musik, damit die Heine/Schumann sonst leicht anhaftende (jedoch ebenfalls schöne) Sentimentalität. Dies gilt besonders für „Ein Jüngling liebte ein Mädchen“, denn mir ist keine weitere musikalische Interpretation bekannt, in der jugendliche Empfindsamkeit so intensiv kompositorisch und gesanglich durch „erwachsenen Weltschmerz“ ersetzt wird.

Um tiefe Gefühle geht es auch in den Gedichten von Anna Akhmatova, die, auf Russisch gesungen, dennoch sehr dank des Gesanges, der sich über die Stimmkunst hinaus auch in der Körpersprache der Sängerin zeigt, sehr berühren.

Leon Gurvitch. Barno Ismatullaeva,
Alle Fotorechte: Privat

Ich gehöre zu jenen, die während des Vortrages die Texte weder mitlesen können noch wollen, doch sich im Nachhinein, Stimme und Musik noch im Ohr, gerne damit beschäftigen. Beim puren Lesen lösen Akhmatovas Worte viele Gedanken aus, inspirieren dazu, mehr über die Dichterin erfahren zu wollen. Hier im Kleinen Saal der Elbphilharmonie, interpretiert vom Komponisten und einer großartigen Sängerin, geht der (mir) unverständliche Sinn der originalen Worte, die Macht der wuchtigen wie auch zarten Klänge einfach unter die Haut.

Die Zugabe, jenes bereits erwähnte „Ave Maria“ aus Gurvitchs Feder, hatte auf der einen Seite, dank Ismatullaevas Piani, etwas Tröstliches und war auf der anderen der berühmte „letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Fass der Begeisterung und Dankbarkeit für einen wahrhaft schönen Abend. Möge es bald einen ähnlichen Inhalts geben.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 24.9.23

Links:
https://leon-gurvitch.com/
https://staatstheater-hannover.de/de_DE/ensemble-staatsoper/barno-ismatullaeva.169143
https://www.poetryfoundation.org/poets/anna-akhmatova




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