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Hamburg Ballett – Endstation Sehnsucht: ästhetisch gewalt(äti)ge Saisoneröffnung

Titelbild: https://www.kiranwest.com/ (Matias Oberlin/Stanley, Anna Laudere/ Blanche)

Der Dramatiker Tennessee Williams steht für Geschichten aus dem berühmten Tiefen Süden der amerikanischen Staaten. Immer geht es auch um Familien, um ihre Struktur und die, vor allem psychischen, Befindlichkeiten der einzelnen Familienmitglieder. Dass Williams dabei oft auf seine eigenen schwierigen Familienverhältnisse zurückgreift, steht außer Frage, auch bei Endstation Sehnsucht, einem Ballett, das John Neumeier vor gut vierzig Jahren für Marcia Haydee und Richard Cragun vom Stuttgarter Ballett kreierte. Das Hamburg Ballett tanzte die Geschichte von der Southern Belle Blanche Dubois und Stanley Kowalski, dem brutalen Ehemann ihrer Schwester Stella, vor circa 20 Jahren zum ersten Mal hier an diesem Hause. Nun feierte Endstation Sehnsucht eine umjubelte Wiederaufnahme plus einer weiteren, ebenso gefeierten Aufführung mit einer alternativen Besetzung, die ein und dieselbe Geschichte so ganz anders, aber nicht weniger faszinierend erzählte.

Irrenanstalt und Belle Rève

So wie Williams ein Meister darin ist, uns durch Worte in seine Welt zu ziehen und selbst uns Europäern einen immer noch gültigen Gesellschaftsspiegel vorzuhalten, gelingt Neumeier dies ebenso intensiv durch seine abwechslungsreiche Bewegungssprache und sein Ensemble, das diese stets mit Verve, Können und Empathie umsetzt. Auch seine Musikauswahl ist intelligente Untermalung der Geschichte.

Sergeij Prokofjews Visions Fugitives geben Blanches flüchtigen Erinnerungen einen Rahmen, der uns in die relative Sicherheit von Blanches Welt der Plantage Belle Réve führt. Doch diese bröckelt, denn ihr als homosexuell entlarvter Bräutigam Allan stirbt an einem Schuss und wie sehr Blanche sich auch bemüht, ihn wieder aufzurichten, er fällt immer wieder tot in sich zusammen. Und natürlich gelingt es ihr auch nicht, den Tod alter Verwandter und den Zerfall des Hauses selbst aufzuhalten, auch wenn sie es mit bloßen Händen versucht. Dramatische Szenen wie diese sind es, unter anderem, die aus „Ballett“ spannendes, bewegendes und authentisches Tanztheater machen.

Jacopo Bellussi, Anna Laudere
Alle Fotorechte: Silvano Ballone

Tänzer-Darsteller*innen wie die wunderbare Anna Laudere sind es jedoch, die, schon wenn sie einfach ganz zu Beginn auf einem Bett in einer Irrenanstalt sitzen und mehr noch später in Aktion, Williams Charakteren und Neumeiers Handlungsideen auf unvergessliche Art und Weise Leben einhauchen. Laudere umgibt besonders in dieser Partien mehr als nur ein Hauch von feenhafter Ausstrahlung. Auch gelingt es ihr als Blanche zart und zerbrechlich und doch auch auf ätherische Art stark zu wirken, wie nicht von dieser Welt, selbst wenn sie lächelt und sich bemüht, unbeschwert zu wirken.

Ida Praetorius, die am 21.09. in dieser Partie zu sehen war, ist mädchenhafter und im gewissen Maße erd- und wirklichkeitsgebundener. Sie leidet nicht weniger als Laudere, aber teilweise ganz anders. Wo Laudere immer wie in Trance, die Abenteuer mit fremden Männern hinzunehmen scheint auf ihrer Suche nach Schutz und Zuflucht, ist Praetorius‘ Suche bewusster, sie bemüht sich auch, Freude zu empfinden.

Florian Pohl (vorne) Alessandro Frola
Alle Fotorechte: Silvano Ballone

Im ersten Teil, der hauptsächlich auf der Hochzeit von Blanche und Allan Gray spielt, ziehen Praetorius wie auch Laudere alle Register einer Träumerin, die sich am Ziel ihrer Träume wähnt, Praetorius vielleicht einen winzigen Hauch kecker, Laudere eher eleganter. Beider Körper/Tanzsprache harmoniert perfekt mit den auszudrückenden Emotionen und zeugt von einer Leichtigkeit, die die Hoffnung weckt, dass mindestens eine von ihnen sich damit für eine Nominierung als Tänzerin des (kommenden) Jahres qualifiziert.

Bereits in diesem ersten Teil zeigen auch die anderen Protagonisten Neumeiers Geschick, seine Besetzungen so auszuwählen, dass jede Vorstellung andere Aspekte einer Person/Figur Geschichte zeigt.

Da sind zum Beispiel Jacopo Bellussi (mit Laudere) und Alessandro Frola (mit Praetorius) als Blanches Bräutigam Allan Grey. Bellussi ist elegant, schon von Anfang an merkt man ihm die Spannung an, die ihn beim Anblick seines Freundes (Lennard Giesenberg) auf seiner Hochzeit erfüllt. Die Kraft, die es ihn kostet, sich seiner Leidenschaft nicht hinzugeben und den Schein zu wahren, ist ihm am Gesicht anzusehen, sein Solo wie auch die persönliche Pas de deux Szene mit Giesenberg und sein Verhalten Blanche gegenüber lassen uns mitfühlen und weisen ihn einmal mehr als ausdrucksstarken Tänzer aus. Frola, ebenso bekannt durch seine Sprung- und Ausdruckskraft wie Bellussi, berührt, weil sein Allan seine Zerrissenheit von Anfang an nicht wirklich verbergen kann. Auch ist er von der Statur her weniger maskulin als Bellussi. Dazu kommt, dass Bellussi mit Giesenberg ein, wie man so schon sagt, sehr harmonisches Paar bildet. Giesenberg, der noch im Juni als cherubinhafter Pater Lorenzo in Romeo und Julia auffiel, ist hier ein selbstbewusster Südstaaten-Beau. Florian Pohl als Freund von Frolas Allan hat, steht Frola tanzt er mit Frola, eine dominante Wirkung, die an der unterschiedlichen Größe liegt. Doch auch wenn ich mich wiederhole, eine solche Veränderung der Dynamik allein durch eine andere Besetzung verleiht vielschichtigen Balletten wie Endstation Sehnsucht noch mehr Tiefe und zeigt die Vielseitigkeit „unserer“ Tänzer.

Matias Oberlin. Charlotte Larzelere.
Alle Fotorechte:Kiran West

New Orleans und Irrenanstalt

Im zweiten Teil wird die Handlung intensiver, dramatischer, wie auch die Musik, die nun von Alfred Schnittke stammt und die das Chaos in New Orleans und im Innern der Akteure auf manchmal enervierende Art verdeutlicht.

Nach dem Desaster ihrer Hochzeit und dem Verfall des Anwesens Belle Rève flieht Blanche zu ihrer Schwester Stella, die schon auf Blanches Hochzeit von der elterlichen Plantage in die Großstadt-„Hölle“ von New Orleans floh. Beiden Stellas, Charlotte Larzelere, wie auch Ana Torrequebrada gelingt es, die emotionale Gegensätzlichkeit der beiden Schwestern deutlich zu machen. Wo Blanche versucht in flüchtigen sexuellen Kontakten Halt, Schutz und, ja, vielleicht sogar eine gewisse „Struktur “ zu finden, findet Stella Vergnügen an der dominanten Sexualität ihres Ehemannes Stanley Kowalski, der aus einer ganz anderen Gesellschaftsschicht kommt als die beiden Damen und sich für den absoluten Nabel seiner Welt hält. Das zeigt er nicht nur seiner Gattin, sondern auch seinem Freund Mitch, erst in einem Sparringkampf und dann, als er erfolgreich versucht, Mitch seine Zuneigung und Verehrung für Blanche madig zu machen. Die nämlich träumt von einer Zukunft mit diesem Mann, nachdem sie erkennen muss, dass der Zeitungsjunge, in dem sie ihren toten Bräutigam zu erkennen glaubt, eher verschreckt als angetan ist von ihren Avancen.

Edvin Revazov, Matias Oberline, Charlotte Larzelere, Anna Laudere
Alle Fotorechte: Kiran West

Auch bei der Auswahl seiner Mitch-Darsteller bietet uns Neumeier Interessantes. So hätte ich persönlich Edvin Revazov eher in der Rolle des Stanley gesehen, gebe aber zu, dass sein Mitch und dessen Verhalten Blanche gegenüber etwas sehr Berührendes hat. Er (Mitch) ist Stanley hoffnungslos unterlegen, wirkt neben dem energiegeladenen Oberlin, zur Partie passend, etwas tumb. Ganz anders Christopher Evans, sein Mitch anerkennt die Überlegenheit Stanleys (hier Karen Azatyan), bleibt aber lebensfroh und wirbt auch eher fröhlich-schüchtern als unsicher um die für sein New Orleans zu elegante Südstaatenschönheit. Doch Revazov, wie Evans, gelingt darstellerisch wie tänzerisch, der Wandel vom verliebten Verehrer zum sich betrogen fühlenden Macho perfekt. Denn natürlich wirdm mit Hilfe Stanleys, Mitch am Ende klar, dass Blanches Anziehungskraft auf ihn daher rührt, dass er sie zuvor nur im rosa-weichzeichnenden Licht sah, nicht im grell-weißen.

Christopher Evans, Ida Praetorius
Alle Fotorechte: Silvano Ballone

Die größte und positivste Überraschung bei der Besetzung war für mich Matias Oberlin als Stanley Kowalski an der Seite von Anna Laudere. Noch vor dem Besuch der ersten Vorstellung war ich überzeugt, Karen Azatyan, der diese Partie mit Ida Praetorius tanzt, wäre vielleicht nicht die bessere aber doch ausdrucksstärkere und schockierendere Wahl, besonders in der absoluten Schlüsselszene, der brutalen Vergewaltigung von Körper und Seele Blanches. Warum? Niemand ist frei von gewissen Erwartungen oder vielleicht sogar (positiven) Vorurteilen und für mich persönlich scheint Azatyan durch sein Äußeres prädestiniert für männlich markante Rollen wie die Titelpartie in Neumeiers Ballett Liliom oder eben hier. Doch weit gefehlt, ja, Oberlin füllt die Rolle so authentisch aus, dass man ihn (Stanley) als widerlich empfindet und sich fragt, was findet Stella an diesem Kerl und vor allem: man leidet mit Blanche mit. In der Vergewaltigungsszene stehen sich Laudere und Praetorius in nichts nach. Beider Verzweiflungsschreie scheint man nicht nur zu sehen, sondern spürt, ja hört sie beinahe auch. Die Leistung beider Paare verdient absolute Hochachtung. Denn bei aller Ästhetik überwiegt doch das Grauen, dass die Behandlung der Damen durch die Herren auslöst. Sie werden über die Bühne geschleift, über den Rücken oder auf den Boden geworfen und die brutalen sexuellen Aktivitäten sind überdeutlich.

Matias Oberlin, Anna Laudere
Alle Fotorechte: Kiran West

Man möchte selber schreien, fasst den, hoffentlich nicht nur für den Moment des Theater-Entsetzens gelten, Entschluss, (noch) aufmerksamer zu sein und die Augen nicht (mehr) zu verschließen, beim Anschein nachbarlicher häuslicher Gewalt. Am tiefsten unter die Haut geht jedoch der Moment des seelischen und sexuellen Missbrauchs, wenn Blanche mit am Bettrahmen nach oben gestreckten Beinen auf dem Boden liegt und Stanley vom Bett aus erst mit einer Hand sehr langsam herunter zu ihrem Oberschenkel streicht, dann über ihr in den Handstand geht und sich auf sie fallen lässt.

Noch jetzt, beim Schreiben entsteht ein unangenehmer Gänsehautmoment, der in erster Linie Oberlins Stanley gilt. Es ist halt so, bei bestimmten Äußerlichkeiten erwarten wir bestimmte Verhaltensweisen, und sei es auch unbewusst. Anders als, wie bereits erwähnt, Azatyan ist Oberlin von Gesicht, Figur und Ausstrahlung der typische Prinz Desiree oder auch Günther (Nussknacker) und ähnliches. Eigentlich. Doch ähnlich wie Marlon Brando in dem Film von Elia Kazan, wirkt Oberlin nur auf den allerersten Blick als der melancholische Outcast, eher Träumer als Bad Boy. Doch ganz schnell zeigt er ein ganz anderes Gesicht. Er wird zum brutalen Egomanen, der immer die erste Geige spielen will, und zerstört was ihn daran hindert, wie zum Beispiel Blanche. Nicht selten umgibt Oberlin ein Hauch von Wahnsinn, der die Luft anhalten lässt. Eben weil man diese, zum sonstigen Eindruck von Oberlin sogar nicht passenden Charakterzüge, bei ihm weniger erwartet als beim so arabisch-maskulinen Azatyan.

Matias Oberlin.
Alle Fotorechte: Kiran West

Doch es steht außer Frage, dass beide Stanleys ihre Blanches völlig zerstören: Blanche will fliehen, doch Stanley kommt ihr zuvor, so dass das Ballett endet wie es begann: in der Irrenanstalt, wo Blanche sich in den Wahn ergibt, der sie einweisende Arzt sei ihr toter Bräutigam Allan.

Fazit: Ja, ich präferiere die Besetzung Laudere/Oberlin, weil für mich diese beiden mein persönliches Bild von Stanley und Blanche am besten erfüllen. Doch damit möchte ich die Leistung von Praetorius/Azatyan nicht ein my schmälern. Im Gegenteil, die Diversität der Charaktere/Besetzungen ist wunderbar! Und ich freue mich darauf, beide Paare noch mindestens ein weiteres Mal und das Ballett ganz neu zu erleben. Denn das ist doch das Besondere an gut erzählten Geschichten, sie bergen immer Neues in sich – und sei es durch die Menschen, die sie erzählen.
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuche 17.09./21.09 23

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