Titelbild: Evmorfia Metaxaki Alle Fotorechte: Jochen Quast
Gewöhnt an die Hamburger Inszenierung, die mit bestechender Schlichtheit bei den Bühnenbildern seit 44 Jahren begeistert, stand ich der Neuproduktion von Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Oper Eugen Onegin am Theater Lübeck mit skeptischer Neugier gegenüber. Vielleicht schwang auch ein Hauch von Vorurteil mit. Skepsis und Vorurteil verschwanden ebenso schnell, wie sich die Neugier in Begeisterung verwandelte.
Zum einen besonders für die hervorragende Leistung von Evmorfia Metaxaki als Tatjana, aber auch für die Inszenierung. Lang anhaltender einhelliger Jubel von einem begeisterten Publikum schloss einen wunderbaren Abend ab, der auf eine spannende Spielzeit hoffen lässt.

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Meine Vorurteile, meine Skepsis bezogen sich übrigens nicht auf die musikalische oder gesangliche Leistung, denn die, so habe ich die Erfahrung gemacht, ist in vielen Mehrspartentheatern meist sehr gut. Nein, ich hatte eher vorurteilsgetränkte Befürchtungen was die Regie betrifft, denn es ist ja keine Seltenheit, dass gerade Regisseurinnen manchmal wenig zimperlich mit einem männlichen Charakter umgehen, dessen Benehmen Frauen gegenüber zumindest auf den ersten Blick respektlos bis sexistisch genannt werden kann. Und Onegin selbst bietet da schon eine nicht geringe Reibfläche.
Weist er, ganz der arrogante Städter, doch die junge verträumte Tatjana, Tochter der Gutsbesitzerin Larina, auf herablassende Art zurück, als sie ihm in einem leidenschaftlichen Brief ihre Liebe gesteht. Gelangweilt vom Landleben und seinen Bewohnern geht er so weit, auf einem Ball intensiv mit Tatjanas lebenslustiger Schwester Olga zu flirten, die allerdings seinem Freund Lenski von Herzen zugetan ist. Der Poet Lenski fordert, geplagt von Eifersucht, Onegin zum Duell, und wird von diesem dabei erschossen. Jahre später trifft Onegin auf die nun gut situiert mit Fürst Gremin verheiratete Tatjana. Er erkennt seine Liebe zu ihr, wird jedoch von ihr, wenn auch nur aus Pflichtgefühl, abgewiesen.

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Doch Julia Burbach überraschte (mich) mit einer wunderbar einfühlsamen Erzählweise und Empathie auch für den Titelhelden. Ihre intelligente, sehr detailreiche Regie wird durch die klaren Linien bei unauffällig modernem Bühnenbild und Kostümen noch hervorgehoben.
Agnes Hasuns Bühnenbild besteht aus mehreren ineinander greifenden, sich oft drehenden Elementen, die an deckenhohe (Seelen)Fenster erinnern. Sie erlauben dem Publikum Einblicke auch in Spielorte abseits der jeweiligen Haupthandlung. Die Beweglichkeit verändert teilweise die Dynamik der einzelnen Szenen. So singen Tatjana und auch Onegin schon ein mal, während sie hinter einer der Säulen stehen und im Finale unterstreichen die Rotationen die Dringlichkeit, mit der Tatjana vor Onegin fliehen will.
Gleichzeitig verringert dies auch ein wenig die, auch musikalische, Dramatik dieser Szene, die das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung von GMD Stefan Vladar,
ansonsten gekonnt betonen. Überhaupt trug die Leistung von Orchester und Dirigent nicht unwesentlich
zum großen Erfolg des Abends bei. Auch hier gab es klare Linien und Spannungsbögen, die Tschaikowskys Genialität deutlich machten. Denn der Komponist schafft es mit wenigen, immer variierten, stets gleichen Themen, verschiedene Situationen emotional zu verbinden. Onegin übernimmt auf Gremins Ball auf gewisse Weise Tatjanas Thema der Briefszene, Gremin gesteht Onegin seine Liebe zu Tatjana mit einer Melodie, die stark an Onegins zurechtweisende Reaktion auf Tatjanas Brief angelehnt ist usw., usw. …

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Bettina John kleidet nur Olga, Chor, Extrachor und Statisterie in extravagante, verspielte Kostüme. die im ersten Akt die Landbevölkerung wie Figuren aus einem von Tatjanas Träumen wirken lassen und dann, ganz in Schwarz/Rot gewandet, besonders während der Polonaise etwas für Onegin alptraumhaftes verbreiten.
Choreograf: Klevis Elmazaj bewegt Landbevölkerung wie gehobene Gesellschaft, mit viel Geschick und Fantasie und sorgt so dafür, dass aus Regie, Bühne, Kostüm und Dirigat ein rundes Ganzes wird.
Aber jede gute Idee am Theater benötigt ja die, die sie ausführen, von denen überzeugten wirklich alle, doch hervorheben möchte ich bei den unterstützenden Partien besonders Julia Grote (Larina) und Edna Prochnik (Filipjewna), die als Mutter und Arme stimmstark und mit viel Hingabe agierten. Entzückend verspielt und mit schönem klaren Mezzo bot sich Laila Salome Fischer dar, auf deren Siebel (Faust, November 2023) ich schon sehr gespannt bin.

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Neugierig auf seinen noch ausstehenden Lenski macht Noah Schaul, dem es gelingt aus dem kleinen Couplet des spleenigen Monsieur Triquet ein angenehm zu hörendes Kabinettstückchen zu machen. Rúni Brattaberg als Gremin allerdings konnte mich an diesem Abend ebenso wenig erreichen, wie es stimmlich bei dieser Vorstellung der Lenski von Gustavo Mordente Eda tat. Bei beiden fehlte mir das gewisse Etwas, das sonst dafür sorgt, dass mir Gremins „Lyubvi fse vozrastï pokornï/Ein jeder kennt die Lieb auf Erden“ und Lenskis „Kuda, kuda/Wohin, wohin“ unter die Haut gehen. Aber wer weiß, wie es bei meinem nächsten Besuch sein wird.
Darstellerisch jedoch gab Mordente Eda seinem Lenski genau die richtige Mischung aus Verliebtheit, leidenschaftlicher Eifersucht und Weltentrücktheit. Wunderschön seine Umsetzung der Ideen Burbachs, dass Lenski Olga seine Liebe gesteht, während er auf einer Schaukel sitzend verträumt in die Ferne statt in das Gesicht der Geliebten schaut, sein verzweifelter Trotz vor dem Duell, wenn Onegin sich versöhnen möchte oder auch die dynamische Art, in der er dem ehemaligen Freund immer wieder als Geist erscheint.

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Diese beiden jedoch begeisterten nicht nur mich vom ersten Auftritt an: Jacob Scharfman in der Titelrolle und Evmorfia Metaxaki als Tatjana. Scharfmans Onegin ist von Anfang an viel mehr als nur der weltmännische Dandy, der auf die Welt der Larinas herabschaut. Er ist vielschichtig und komplex, flieht vor Bindungen jeglicher Art und sehnt sich augenscheinlich doch danach. Da ist dieser Moment, wenn er zusammenzuckt, weil er Tatjanas Hand berührt, der fast manische Überschwang, mit dem er Olga über die Tanzfläche wirbelt, der intensive Wunsch, sich mit Lenski zu versöhnen, der trotzige wirkende „Dann-eben nicht“ Schuss, der für Lenski tödlich endet, die Verzweiflung über die Tat, die ihn noch Jahre später verfolgt, die Erkenntnis der tiefen Liebe, die er für T,atjana spürt. Welch ausdrucksstarke Szene, wenn Onegin währen Gremins Arie, davon träumt, Ruhe und Frieden in Tatjanas Schoss zu finden. Auch stimmlich zieht Scharfman alle Register, seinen wunderschön voll klingenden Bariton der jeweiligen Situation und Stimmung entsprechend zur Geltung zu bringen. Dabei sind Spiel und Gesang in der letzten Szene von einer Intensität, die zeitweise befürchten lässt, Onegin würde in seiner Liebesraserei einen Schritt zu weit gehen. Bravo für Stimme und Überzeugungskraft!

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Evmorfia Metaxaki bezaubert bereits, wenn sie während des Vorspiels Onegin durch eine Art (Seelen) Fenster entdeckt, ihre Natürlichkeit ist so berückend wie ihr außerordentlich ausdrucksvoller Sopran, der uns Tatjanas Hochs und Tiefs mitfühlen lässt. Wie sie Tatjanas Schüchternheit Onegin gegenüber zum Ausdruck bringt, die ja schon von Liebe geprägt ist, überzeugt und ihre Briefszene ist etwas ganz Besonderes. Das liegt einmal daran, dass Tatjana ihn während des Schreibens herbeiträumt, mit ihm redet, mit ihm agiert und sich so völlig losgelöst ihren Wunschträumen hingibt. Es war das erste Mal, dass ich eine Briefszene erlebte, die mich tief berührte und gleichzeitig lächeln ließ. Oh, ich habe schon viele wunderschöne Briefszenen erleben dürfen, aber noch nie hörte ich neben Leidenschaft soviel Leichtigkeit und Jubel in diesem wunderschönen Stück Musik, dieser Arie. Im letzten Akt dann wird Leichtigkeit von verzweifelter Leidenschaft abgelöst, spürbar im Spiel, hörbar in der sicher geführten Stimme. Doch auch in allen Szenen dazwischen überzeugt Metaxaki auf ganzer Abend.
Fazit: Was für eine schöne Spielzeiteröffnung! Und wie wunderbar, dass das Deutschlandticket auch jenen, die nie einen fahrbaren Untersatz hatten, ermöglicht, Theater wie dieses mehr als ein Mal zu besuchen
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 2.9. 2023
Link:
https://www.theaterluebeck.de/produktionen/eugen-onegin_2023-24.html