Titelfoto: https://www.kiranwest.com/
Nein, dies soll keine Beschwerde über die – seit jeher – in Wagner- Opern-Länge stattfindenden Nijinsky Gala sein, die wie jedes Jahr die Balletttage des Hamburg Balletts und die Spielzeit der Staatsoper Hamburg beendete. Es geht mir vielmehr um die Atmosphäre die herrschte, die leise Melancholie, die über den vielseitigen, beeindruckenden Beiträgen lag, unter anderem verursacht von dem Wissen, dass die nächste Saison nichts weiter ist als ein Epilog, ein Kapitel, das keinen anderen Sinn hat als das Warten auf das endgültige Ende mit Sinn zu füllen. Den Höhepunkt fand diese unausgesprochene Traurigkeit als John Neumeier den Platz mit Tänzer Edvin Revazov tauschte und an dessen statt die Hände nach Alina Cojocaru in der Rolle des Engels im Finale von Mahlers 3. Sinfonie ausstreckte. Es war (für mich) als wolle er uns, das Publikum, festhalten, 50 Jahre der gegenseitigen Wertschätzung und Freude.

Jubel, viele Minuten lang, Standing Ovations -natürlich- inbegriffen, für die atemberaubenden Darbietungen der Gäste aus Japan und China, der Leistungen der anderen Gäste aber vor allem für unsere besondere Kompanie und John Neumeier drückte Dankbarkeit für das Gesehene aus. Aber auch Freude darüber, dass das wahre Ende erst am 14.7. 2024 kommt, dann wirklich endgültig. Denn da findet die 49. Nijinsky Gala statt, deren länge schon jetzt mit 5 Stunden angegeben ist.
„Frühling“ und „Herbst“ von Beziehungen
„Vergessene Tänze, Piano-Ballette, Gäste“ – In diese drei Teile war der Abend eingeteilt, stand die Gala im vergangenen Jahr noch unter dem Titel Anniversaries/Jubiläen, so kann diese mit Rückblicke bezeichnet werden.
Der Abend begann mit dem Reigen der seligen Geister aus der – bei Neumeier – Ballett-Oper von Christoph Willibald Gluck: Orphée et Eurydice (2017).
Ein besinnlicher, ruhiger Anfang, von Anna Laudere/ Edvin Revazov, Giorgia Giani/Florian Pohl und Xue Lin/Jacopo Bellussi zu den sphärisch leichten Klängen Glucks anmutig und elegant gestaltet.

Alle Fotoreche : Kiran West
Es folgten zwei Pas de deux zu Musik von Max Reger aus dem Ballett Fenster zu Mozart (1991). Sie skizzieren den Beginn und die Stagnation einer Liebe, der Liebe zwischen „Wolferl“ und seinem „allerliebstes Herzensweibchen Stanzerl“/Konstanze? Alexandr Trusch und Madoka Sugai sind von jeher auch in anderen Stücken ein sehr harmonisches Paar und machten hier mit ihrer Natürlichkeit und ihrer stets sehenswürdigen Tanzkunst neugierig darauf, das Stück ganz zu sehen. Sie sind zwei von vielen Tänzer*innen des Hamburg Balletts, die beispielhaft für das stehen, was das Hamburg Ballett ausmacht: nicht nur schöne Linien, exakt schöne Schrittkombinationen, Hebungen, Sprünge, sondern die Fähigkeit aus komplizierten Bewegungen ausdrucksstarke Darstellung zu machen, die von Innen heraus zu kommen scheint.
In diesem Blog gilt das außerhalb der Kompagnie auch für das Bundesjugendballett, welches mit Bob Dylans kritischem „God on my Side“ aus „Die Vergessenen“ (2022) auftrat, und für das Taras Shevchenko National Opera and Ballet Theatre of Ukraine.

Alle Fotorechte: Kiran West
Nein, die erschreckende Situation der Ukraine und die dortigen Menschen /Tänzer*innen gehören nicht zu denen, die vergessen wurde. Auf Bitten von Tänzer Edvin Revazov genehmigte Neumeier -und, wie er betonte, sehr gerne- diesem Ensemble sein Ballett Spring and Fall (1991/1994) aufzuführen. Tänzer und Ballettmeister Alexander Riabko flog nach Kiew um die Tänzer*innen zur 48. Nijinsky Gala einzuladen. Leider wurde die Kompagnie nach ihrer energie- und gefühlsgeladenen Darbietung nicht mit Stehenden Ovationen geehrt, der Art von Applaus, mit der man meiner Meinung nach so viel mehr zeigen kann als nur Anerkennung und Dankbarkeit. Doch vor ihrem Auftritt spielte das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, unter der stets souveränen Leitung von Nathan Brock, die ukrainische Nationalhymne. Für mich war dies ein nur „klitzekleines“ aber doch wunderbares Zeichen von Solidarität für die Ukraine, aber an diesem Abend auch für diese nicht geflüchteten Tänzer*innen, die ich, sehe ich sie noch ein Mal, hoffentlich dann namentlich nennen kann.

Alle Fotorechte Kiran West
Ein wenig Leichtigkeit in diesem nicht dramatisch, doch melancholisch ernsten Block boten Ida Praetorius, Jacopo Bellussi und Alessandro Frola mit Johann Strauss‘ Tanz Neue Pizzicato-Polka. Charmant und leichtfüßig gaben sich sowohl die beiden Ersten Solisten Praetorius/Bellussi, die ebenfalls zu den beliebten und gut harmonierenden Paaren gehören, als auch Alessandro Frola, der erst vergangenes Jahr zum Solisten ernannt wurde. Nach der Vorstellung, vielleicht aus intern-politischen Gründen nicht bei offener Bühne, wurde auch Frola zum Ersten Solisten ernannt, sicherlich unter anderem auch für seinen Mercutio in Neumeiers Romeo und Julia. Auch ihm winkt eine Beförderung in den höchsten zu vergebenen Rang (Erster Solist): Karen Azatyan. Er tanzte zusammen mit Xue Lin ein anspruchsvolles, beindruckendes Pas deux aus dem Ballett Time after Time (1998, Musik: Béla Bartók) und entführten das Publikum für einige Minuten in eine Welt tänzerisch ätherischer Leichtigkeit.

Alle Fotorechte: Kiran West
„To what you said“, ein Lied, das aus Bernsteins Liederzyklus (Neumeiers Ballett Songfest (1979)) stammt, hat per se schon einen melancholisch sinnlichen an Toleranz appellierenden Inhalt. (Text: https://genius.com/Leonard-bernstein-to-what-you-said-lyrics) Äneas Humms Bass, warm und wohltönend, ergänzte die unaufdringliche Intensität, die Synchronität der Bewegungen von Christopher Evans und Félix Paquet: Sie scheinen zwei Männer (Soldaten?) zu symbolisieren, deren Seelen sich nah sind, müssen sie auch Gleichmut demonstrieren. Jede ihrer Bewegung, ihrer Gesten betont Neumeiers untrügliches Geschick für die Schönheit gleichgeschlechtlicher Pas de deux. Dass Evans beim gemeinsamen Verbeugen, Paquet spontan und äußerst herzlich umarmte, wirkte wie das I-Tüpfelchen, das Momentum das eine Aussage unterstreicht. Einige Zeit später dann gab eine Pressemeldung diesem Augenblick etwas Bitter-Süßes -eher bitter als süß-, denn Paquet gehört zu jenen, die mit Beginn der neuen Saison das Hamburg Ballett verlassen. Mir wird er nicht nur als Tom Wingfield (Die Glasmenagerie), Der Dorn (Donröschen), Polixenes in Ch, Wheeldons A Winter’s Tale und in der Triplerolle Eros/Thyrsis/Orion (Sylvia) in guter Erinnerung bleiben

Alle Fotorechte Kiran West
Die gefühlsbunte Klangwelt des Pianos
Wie stets wurden die einzelnen Tanzbeiträge von Ballettdirektor John Neumeier anmoderiert, nicht wie früher oft üblich auf offener Bühne, sondern vor dem geschlossenen Vorhang, was auf gewisse Weise
-ungewollt?- Distanz zur Bühne und den Tänzern schaffte und auch die typischen „Johnny“-Anekdoten sind weniger geworden. Doch in seiner Vorrede zum zweiten Teil kam der alte, so beliebte, Humor dann doch durch: „Unser wunderbarer Pianist Michal Bialk hat sich bereit erklärt, die sieben musikalisch so unterschiedlichen Stücke durchzuspielen. Danach haben Sie dann ausreichend Zeit zum Klatschen.“ Lachend wurde die versteckte Bitte um Ruhe quittiert und sich daran gehalten.
Die Ballett-Ausschnitte in diesem Block gewinnen ihre Faszination aus ihrer Unterschiedlichkeit in Musik und Aussagen. Wenn etwa in der Mitte des Blocks Olivia Betteridge, Patricia Friza, Greta Jörgens, Charlotte Larzelere, Hayley Page, Madoka Sugai und Ana Torrequebrada mit George Gershwins beschwingten Melodien fragen: Shall We Dance? (1986), möchte man ohne Zögern antworten: „Ja gerne!“ Jede, wirklich jede, brachte in den Soli oder Tänzen zu zweit oder mehreren ihre ganz eigene, entzückend junge oder, besonders im Falle von Patricia Friza, jung gebliebene Reife mit.

Alle Fotorechte Kiran West
Dass Friza wie auch Coll die Kompagnie verlassen, ist eine weitere dunkle Gewitterwolke, die im Nachgang die tänzerisch wunderbare Gala verdunkelt. Bei beiden Damen fällt es mir schwer, die Rolle zu nennen, in denen sie mich bezauberten. Es gibt derer so viele. Doch es gibt auch einen Lichtblick in dieser Gruppe reizender Damen: Olivia Betteridge, Charlotte Larzelere und Ana Torrequebrada avancierten mit der Spielzeit 23/24 allesamt zu Solistinnen. Auch ihr männlicher Kollege Louis Musin, der zwar an diesem Abend keine große Rolle tanzte aber zu Beginn dieser Balletttage als Romeo debütierte und verzauberte, steigt zum Solisten auf.
Auch Dämmern (1972) und Nocturnes (2005) waren mit wunderbaren Tänzern besetzt, unter anderem mit Matias Oberlin, dem letzten der Sieben, die befördert wurden, der nun auch Erster Solist ist. Dennoch möchte ich nun hier nur noch auf das Solo Der Fall Hamlet (1976, Musik: Aaron Copland, kreiert für M. Baryshnikov) und die drei Pas de deux: Beethoven-Projekt I (2018), Parzival – Episoden und Echo (2006, Musik: Arvo Pärt) und Désir (1973, Musik: Alexander Skrjabin) eingehen.
In Der Fall Hamlet trafen wir nach einem Jahr wieder auf Atte Kilpinen, der im vergangenen Jahr das Hamburg Ballett verließ um in seine Heimat Finnland zurückzukehren. Nun zeigte er uns ein Mal mehr, wie sehr ihm Rollen liegen, bei denen die gezeigten, getanzten Emotionen des Darstellers die Handlung bestimmen und verdeutlichen

Alle Fotorechte Kiran West
Ähnliches gilt für Aleix Martinez als Beethoven. Er ist stets einer der Tänzer, die einfach „loszulassen“ scheinen und die, sobald sie auf der Bühne stehen, halt „einfach“ tanzen, ohne sich Gedanke über ihre Technik machen zu müssen. Hier stand ihm als Beethovens Ideal Edvin Revazov zur Seite. In dieser Partie ist er das völlige Gegenteil vom emotionalen Beethoven/Martinez: elegante Beherrschung in Vollendung. Dadurch entsteht eine spannungsvolle Ästhetik oder auch eine sehr ästhetische Spannung.
In Parzifal dann erlebten wir Revazov mit seiner Gattin Anna Laudere von einer ebenfalls eleganten, doch auch einer zurückhaltend leidenschaftlichen … ich wünschte, mir würde ein Synonym für „Harmonie“ oder eine Metapher einfallen, die die Empfindungen beschreiben, die dieses Pas de deux beinhaltet und wiedergibt. Auch dieses Ehepaar: Silvia Azzoni und Alexandre Riabko vermittelten dem Publikum harmonisches Verständnis ohne Worte. Es mag sein, dass die Vertrautheit des Privatlebens die auf der Bühne erleichtert, doch für mich steht bei allen vieren ihr künstlerisches Können auch unabhängig voneinander im Vordergrund.

Alle Fotorechte: Kiran West
Klassisches, Asiatisches, Perfektes und – Abschied
Den dritten Teil des Abends eröffneten Ida Praetorius und Francesco Gabriele Frola (English National Ballet) mit einem Pas de deux aus Blumenfest in Genzano (1858) von August Bournonville. Frola, der Bruder von Alessandro Frola, bestach besonders durch seine Sprungkraft, die so manch staunende Ausrufe hervorrief. Ida Praetorius bezauberte auch hier mit Charme und dem Beherrschen rein klassischer Tanzschritte. Diese reine Freude an schönen Bewegungen wurde mit dem Beitrag Bhakti III ( Maurice Bejart, 1968) der japanischen Gäste Dan Tsukamoto und Akimi Denda (beide The Tokyo Ballet) durch den Zauber indischer Klänge und perfekter Körperbeherrschung abgelöst. Der einzige Weg diese Leistung zu beschreiben? Ein tief aus dem Herzen kommendes, bewunderndes „Wahnsinn!“ Womit ich, was ja selten vorkommt, mein „Wortfeuer“ verschossen habe, bevor ich mich zu One Thought for a Lifetime (2023), von Fei Bo für John Neumeier zum 50. Jubiläum choreografiert, geäußert habe.

Alle Fotorechte: Kiran West
Qiu Yunting und Li Wentao (beide National Ballet of China) boten einen -lassen Sie es mich mit meiner westlichen Unwissenheit sagen- „Zen-artigen“ Beitrag zu Musik von Alan Qin, der trotz oder vielleicht gerade wegen einer wirklich spannenden, ja, aufregenden Vollkommenheit innere Ruhe verbreitete. Ich gebe es zu, die asiatischen Gäste würde ich gerne noch oft sehen. Doch Dorothée Gilbert und Hugo Marchand (beide Ballet de l’Opéra national de Paris), die einen Pas de deux aus dem Ballett Le Rouge et le Noir (2021) darboten, eher nicht. Warum nicht? Ich empfand ihren Tanz als leere und -Entschuldigung- fast lustlos dargebotene, tanz-technische Perfektion.
Im Finale dann gelang es, auch dank der Musik des 6. Satzes aus Mahlers wunderbarer 3. Sinfonie, Alina Cojocaru, regelmäßige Gasttänzerin beim Hamburg Ballet, und Edvin Revazov uns in die so geliebten wahren, tief empfundenen, durch Tanz gezeigten Gefühle zurückzuholen. Die lösten bei dem einen oder der anderen Gänsehaut und Tränen aus als Edvin Revazov und John Neumeier sich erst lange umarmten und dann Neumeier, wie eingangs erwähnt, Revazovs Platz übernahm.

Alle Fotorechte: Kiran West
Fazit: Das Finale der Jubiläumsgala, nämlich die quirlig fröhliche Ouvertüre von Bernsteins Oper Candide, hätte die Melancholie, die über der Veranstaltung lag, sicherlich verringert. Aber nein, es war richtig so. Warum? Weil, so finde ich inzwischen, wirklich das Hier und Jetzt, die Stimmung von Ensemble und Publikum, widergespiegelt wurde.
Aber wenn die Candide Ouvertüre samt mit vom Hamburg Ballett ins Publikum getragenen Neumeier am 3. September auf dem Rathausmarkt getanzt werden würde, ja, das wäre schön!
Links
https://www.hamburgballett.de/
Programmübersicht:
https://www.hamburgballett.de/de/news/nijinsky_gala_2023.php