Opern- und Leben(s)gestalten

Nomen ist nicht immer Omen, oft reicht er nicht allein, da hinter kann noch viel mehr „wohnen“! Kommt! Schaut doch einfach rein!

Staatsoper Hamburg – Stuttgarter Ballett: Man bekommt oft was man braucht, nicht was man sich wünscht

Titelbild: R, Aleman, V. Verterich , C. Fröhlich : Wie sie sich sieht und doch nicht ist
Alle Fotorechte: Roman Novitzky

Ob dies für Armand und seine Marguerite aus Alexandre Dumas Roman und somit für John Neumeiers Ballett Die Kameliendame gilt, sei da hingestellt. Doch auf mich trifft er in Bezug auf das zweitägige Gastspiel des Stuttgarter Balletts bei den 48. Balletttagen völlig zu. Ja, ich wollte unbedingt endlich einmal die Stars der Compagnie Elisa Badenes und Friedemann Vogel sehen, denn die auf Youtube und Co. verfügbaren Videos zeigen beide als Tänzer, die ihren Schwerpunkt in Perfektion des Tanzes zu haben scheinen, gerne hätte ich mich live davon überzeugt, dass sie mit Ausstrahlung und Empathie im gleichen Maße punkten. Okay, was nicht ist…
Was war, war allerdings , dass ich mit Rocio Aleman und Marti Fernández Paixa genau das Tanzpaar bekam, das all das in sich vereint, was mir bei von Neumeier so emotional gestalteten Partien so wichtig ist: Sie erweckten die beiden Hauptfiguren zum Leben, erzählten deren Geschichte nicht nur durch wunderschöne Bewegungen, Sprünge und Hebungen sondern mit viel Emotionen und echten Gefühlen. Sie machten die Entwicklung der beiden spürbar.
Nach dem gestrigen großen Jubel des gesamten und fast von Beginn an stehenden Publikums auch von hier ein herzliches Dankeschön an Aleman, Paixá und all ihre Kolleg*innen.

R. Aleman M. F-Paixa: Der erste Schlussapplaus- noch gefangen in der Geschichte
Alle Fotorechte: Simon Fisher

Zeitloser Zauber auf allen Ebenen

Kreiert hat John Neumeier sein Ballett im Jahre 1978 für Marcia Haydée und das Stuttgarter Ballett, erst drei Jahre später fand die Erstaufführung an der Staatsoper Hamburg mit dem Hamburg Ballett statt. Auch hier tanzte Marcia Haydée die Titelrolle dieses Mal mit Kevin Haigen statt Egon Madsen an ihrer Seite.

Die Ausstattung von Jürgen Rose, seine wunderbaren Kostüme, sein sehr zurückhaltendes Bühnenbild, haben auch heut nichts von ihrem Charme verloren. Die Kleider der Damen sind zwar immer im gleichen Grundton gehalten: Rot für den Roten, Gold für den Goldenen Ball, weiß für den Aufenthalt auf dem Lande, aber immer in gefühlt tausenden Schattierungen oder mit immer unterschiedlichen Details.
Die Bühne ist weitgehend leer, nur am Anfang versetzt uns die schon vor Beginn offene Bühne in jenen Aktionssaal am 16.3.1847 an dem das Hab und Gut der jung verstorbenen Kurtisane Marguerite Gautier versteigert wurde, denn Neumeier inszeniert mit Werktreue zur literarischen Vorlage und so erleben wir die Liebesgeschichte von Armand und Marguerite aus der Sicht des jungen Mannes, der sich anhand von kleinen Dingen- wie das zu versteigernde Kleid, das, ebenso wie die Eintragungen aus dem Tagebuch der Geliebten, an die verlorene Liebe erinnert.

E. Bardenes, A. Giaquinto, Agnes Su, F.Vogel: Flucht vor wahrer Liebe in eine kurze Affaire
Alle Fotorechte; Kiran West

So geschickt, wie Neumeier immer wieder kleine Details einbaut, die uns auf das hinweisen, was zwischen den Zeilen, den Schritten steht, so subtil bedeutsam scheint mir seine Musikauswahl. Eine der Kleinigkeiten ist der Moment, wenn Marguerite sich vor ihrem Gönner, dem Herzog (elegant, wie auch dominant getanzt von Matteo Crockard-Villa) offen zu Armand bekennt und ihm sein teures Geschenk, ein Collier, vor die Füße wirft. Eine ihrer „Kolleginnen“, Prudence, hebt es auf und steckt es ein. Dann ist da immer wieder Olympia (kokett gespielt und präzise anmutig getanzt von Veronika Verterich), eine weitere Kollegin Marguerites, die in wirklich jedem Bild mit kleinen, fast unauffälligen aber steten Gesten versucht, Armand als ihren neuen Gönner zu gewinnen. Das gelingt ihr kurzfristig, als Armand annimmt, seine Geliebte hätte ihm mutwillig wehgetan und nicht um ihn auf Anraten seines Vaters zu schützen.

Adhonay Soares da Silva- Gaston, ein früher Dandy, genießt das Leben
Alle Fotorechte: Ramon Novitzky

Bei der Musik hat Neumeier sich für verschiedene Stücke von Frédéric Chopin entschieden. In der Szene auf dem Lande Klavierstücke, ansonsten zwei seiner Klavierkonzerte. Es spielten das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und die Stuttgarter Pianist*innen Andrej Jussow und Chie Kabayashi unter der Leitung des ebenfalls zum Stuttgarter Ballett gehörenden Dirigenten Wolfgang Heinz. Bedeutsam scheint mir die Musikauswahl in sofern, dass es Parallelen gibt. Zwar war Chopin ca. 14 Jahre älter als der Autor Alexandre Dumas d.J., dennoch möchte ich ihn einen Zeitgenossen nennen. Wie Marguerite erlag auch Chopin der Tuberkulose und wie Armand unterhielt auch Chopin eine recht skandalöse Beziehung, nämlich zu George Sand, der Schriftstellerin, die Männerkleider trug und oft wechselnde, jüngere Liebhaber gehabt haben soll.

E. Bardenes, F. Vogel: Ein letzter verzweifelter Liebesakt.
Alle Fotoreche Roman Novitzky
(4.7.2023)

Eine Geschichte – zwei Kompagnien – verschiedene Prioritäten

Doch vielleicht bin ich auch nur zu sehr an Neumeiers Art gewöhnt, mithilfe seiner Tänzer Geschichten zu erzählen, die stets mehr als eine Ebene haben. Warum also nicht auch eine, die mit der Musikauswahl zu tun hat?
Eines ist jedoch sicher Das Stuttgarter und das Hamburger Ballett sind so unterschiedlich wie die Regionen, aus denen sie kommen. Doch sind es die sonst als kühl geltenden Hamburger, die mehr Wert auf Emotionen und authentische Menschen auf der Bühne zu legen scheinen. Die Stuttgarter hingegen glänzen eher durch Balletttanz im wirklich klassischen Sinne, ist die tänzerische Qualität auch in beiden Compagnien gleich hoch, so sind die Stuttgarter doch eher in die Kategorie Ballerina und Ballerino einzuordnen, für die Hamburger ist der Begriff Tanz-Darsteller irgendwie passender.
Es war eine wunderbare Vorstellung und es lag nur an Kleinigkeiten, dass mich das Stuttgarter Ensemble insgesamt nicht so in den Bann zog, wie es das Hamburger tut. „Lokalpatriotismus“, falsch verstandene Loyalität? Nein, wirklich nicht. Mir gefällt nur die Intensität des Hamburg Balletts in Spiel und Ausdruck noch ein wenig mehr.

Jason Reilly : Duval Père ist fest entschlossen den Sohn aus den Fängen der Kurtisane zu befreien
Alle Fotorechte: Roman Novitzky

Agnes Su und Clemens Fröhlich bestechen tänzerisch als Manon und DeGrieux und überzeugen als das Liebespaar, dass eine ähnliche Geschichte erlebte. Nur das sie, anders als Marguerite selbst, in ihrer Liebe zu DeGrieux auf Luxus und Kokettieren verzichten kann. Und in Marguerites Version sogar einen Annäherungsversuch bei M. Duval, getanzt vom sehr ernsthaften Jason Reilley, wagt.
Auch Adhonay Soares da Silva, als Armands Freund Gaston, begeistert durch hohe Sprünge, sichere Schrittkombinationen und einer Portion charmanter Frechheit. Die junge Mackenzie Brown ist eine wahrhaft entzückende Prudence, die ihrem Partner weder in tänzerischem Können noch in der Ausstrahlung nachsteht.
Eduardo Santori als Graf N ist ganz der liebenswerte Trottel, der nicht anders kann, als Marguerite erfolglos aber beharrlich nachzulaufen

Und doch, irgendetwas fehlte mir, oder besser noch war mir zu viel. Nennen Sie mich kleinlich, aber wenn die Anordnung der Tänzer so perfektioniert wird, dass alle ähnlich großwirken oder es bei einem Pas de Trois dreier Herren auch wirklich sind, dann fühlt sich das für mich persönlich einfach „falsch“ an. Ich ziehe eine gewisse Diversität halt vor. Es mag weniger ästhetisch perfekt sein, wenn zum Beispiel der nicht sehr hoch gewachsene Aleix Martinez direkt zum Beispiel mit Florian Pohl und Matias Oberlin zusammen tanzt, die ihn beide um mehr als einen Kopf überragen. Für mich persönlich ist das einfach ein Teil „wahres Leben“ in der Kunst. Und ich mag, dass es hier so ist, so wie die Stuttgarter sicher ihre vielleicht etwas eleganter wirkende Lösung vorziehen.

C. Fröhlich, A. Su: Manon und DeGrieux: Liebe mit Verzicht auf Luxus
Alle Fotorechte :Roman Novitzky

Rocio, Marti und die Sache mit der Seele

Sie jedoch zogen mich von Anfang an in ihren Bann durch ihre Natürlichkeit, ihre „Verschmelzung“ mit ihren Rollen: Rocio Aleman und Marti Fernández Paixà. Ich kann es nicht anders sagen : Sie tanzten mit Leib und Seele. Fernandez Paixá ist anfangs ein ernsthafter, großer Junge, der aber schnell zum liebevoll liebenden Mann wird und nicht nur an der Trennung von Marguerite, sondern auch seiner verzweifelten Verletztheit leidet, die ihn dazu bringt, die Geliebte für die letzte Nacht vor allen Leuten zu bezahlen. Er ist Rocio Aleman tänzerisch ein sicherer Partner, dessen Ernennung zum Ersten Solisten in der vergangenen Saison wohl verdient scheint. Seine Leidenschaft in der Darstellung steht außer Frage und dass technisch, zum Beispiel bei der Kraft der Sprünge, vielleicht noch ein wenig Luft nach oben ist, was aber Erfahrung und Zeit richten werden, meine ich durchaus positiv: Denn sich weiterentwickeln können bedeutet doch in erster Linie, nicht zu stagnieren oder in Routine gefangen sein.

R. Aleman, M. Fernández Paixà : Leidenschaft, Liebe und dennoch Verzicht.
Alle Fotorechte: Roman Novitzky

Rocio Aleman ist einfach entzückend, wenn sie beim ersten Treffen mit Armand kokettiert. Es berührt, wie sie erst gegen ihre Gefühle ankämpft. um ihnen ganz bewusst mehr und mehr zu erliegen, um für die kurze Zeit die ihr vergönnt ist, glücklich zu sein. Der Schmerz, den sie ausstrahlt, wenn sie, dem Tode schon nahe, bewegungsstarr auf einer Bank sitzt, während Olympia schamlos mit Armand flirtet, geht unter die Haut. Wie eigentlich jede Szene nach der Pause, also im dritten Akt. Tänzerisch ist sie von wunderbarer Anmut und Leichtigkeit, aber bei jedem Solo, in jedem Pas de deux ist sie doch in erster Linie dennoch immer Marguerite. Und gerade darum bescherten sie und ihr Partner Marti Fernández Paixà immer wieder Momente der Rührung und traurig-wohliger Gänsehaut und auch tonlose Seufzer des sich einfach in die Geschichte Hineinfallenlassens und Genießens.

J. Neumeier, R. Aleman, C. Fröhlich, M.Fernandez Paixà: Die Freude am Jubel
Ale Fotorechte Simon Fisher

Fazit: Ach, was soll ich weiter auf hohem Niveau „meckern“! Die Hauptrollen rissen mit und so soll es sein! Danke Rocio Aleman, Marti Fernández Paixà und alle anderen!

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 5.7.2023

Links:
https://www.stuttgarter-ballett.de/
https://www.hamburgballett.de/

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

2 Kommentare

  1. operngestalten 9. Juli 2023 — Autor der Seiten

    DAS, lieber Simon, beschäftigt sich dann mit der heutigen Nijinsky Gala! Und das übernächste beschäftigt sic dannmit dem tollen Projekt: Un Mare di Danza, einer Charity Veranstaltung in Genua!

  2. Simon Fisher 9. Juli 2023

    Danke, liebe Birgit. Ich habe alles gelesen und eine Menge dazu gelernt! Ich wünsche viele weitere kritische aber glückliche Ballettbesuche und freue mich auf das nächste Kapitel!

Antworten

© 2023 Opern- und Leben(s)gestalten

Thema von Anders Norén