Opern- und Leben(s)gestalten

Nomen ist nicht immer Omen, oft reicht er nicht allein, da hinter kann noch viel mehr „wohnen“! Kommt! Schaut doch einfach rein!

Hamburg Ballett: 50 Jahre „Johnny“ -(M)eine kleine, persönliche Hommage

Titelbild: https://www.kiranwest.com/

So wie es weltweit üblich ist, Leonard Bernstein „Lenny“ zu nennen, war es damals, als andere Schüler/ Studenten und ich unsere Nachmittage an der Tageskasse verbrachten um 10 DM-Karten (!!!!) für die ersten Parkett-Reihen zu ergattern, halt Gang und Gäbe Ballettdirektor John Neumeier „Johnny“ zu nennen: anerkennend, respekt- und, ja, auch irgendwie liebevoll. Auch heute nenne ich den so bei mir, dessen Werke mich immer noch faszinieren, auch wenn mir nicht alle zu 100 Prozent gefallen. Naja und auch im Titel dieses Textes, der emotionalste und auch egoistischste. den ich in diesem Rahmen je verfasste. Bei der von Isabella Vértes-Schütter charmant moderierten Gala an der Staatsoper Hamburg zum 50. Jubiläum von John Neumeier erlebte ich ein throw-back in jene Zeit, zum Beispiel bei den spontanen Stehenden Ovationen, die vor allem den „Altstars“ Ivan Liska (72, Ballettdirektor Bayerisches Junior Ballett München) und Kevin Haigen (68, Leiter des Bundesjugendballetts)) nach deren gemeinsamen Auftritt mit Ivan Urban (48) und Alexander Riabko (45) in Neumeiers Hommage an Maurice Béjart zu dessen 70. Geburtstag: Opus 100 – für Maurice. Liska und Haigen waren 1996 die Originalbesetzung, noch heute wirken sie wunderbar harmonisch zusammen, agil und ausdrucksstark. In der Mitte des Ballettes jedoch übergaben sie an Urban und Riabko, die den technisch anspruchsvolleren Teil ebenso gefühlvoll und mit Bravour meisterten. Wie schade, dass beide nur noch als Sonderdarsteller zu sehen sind.

I. Urban, I. Liska, K Haigen. A.Riabko: Opus 100- Als Pas de deux für 2×2
Alle Fotorechte: Kiran West

Süße Wehmut Erinnerung

Dass die Überschrift als eine Anspielung auf Tennessee Williams Stück Süßer Vogel Jugend gelten könnte, fiel mir erst im Nachhinein auf. Doch es passt in gewisser Weise recht gut, denn nicht nicht nur der Auftritt von Ivan Liska und Kevin Haigen ließen Erinnerungen an eine circa 47 Jahre zurückliegende Zeit aufleben, in der ein Besuch in der Staatsoper Hamburg bei Ballett- oder auch Opernaufführungen die gleiche Bedeutung für mich hatten wie für andere ein Disco-Besuch, wie man damals nannte was heute Club heißt. Diese Erinnerungen, die Erkenntnis, wie schnell Zeit und Jugend vergangen sind, trafen mich bereits bei der sehr einfühlsamen Film Collage von Kiran West. Zu sagen, dass mich viele Gefühle überrollten wie eine unterschätzte Welle im Ozean. wäre selbst für meine Verhältnisse Over the top. Aber emotional erwischt hat mich dieser Rückblick auf jeden Fall, denn ich kannte so viele Gesichter, sogar einige aus den noch in Schwarz Weiß gedrehten Sequenzen. Ein Hauch Wehmut kommt auch nun beim Schreiben wieder auf, sind doch einige der damals so geschätzten Tänzer bereits seit einiger Zeit verstorben, wie Ronald Darden oder Max Midinet, für den Neumeier unter anderem die Rolle des Königs in Illusionen – wie Schwanensee kreierte.

A. Trusch, K. Azayan, A. Ferri: Der Künstler, der nicht der Faun ist, den seine Frau erträumt Alle Fotorechte: Kiran West

Ach, wie oft habe ich die drei Tschaikowski-Ballette gesehen, die ich mir -ich gestehe es- in traditionellen Versionen nur ungern anschauen würde. Aber ich liebe auch Romeo und Julia, Ein Sommernachtstraum, Die Kameliendame, Josephs Legende oder neuere Kreationen wie Sylvia, Liliom und -unter vielen anderen- seine Hommage an Nijinsky mit seinem gleichnamigen Ballett, aus dem Alexandr Trusch, Karen Azatyan und die 60jährige Alessandra Ferri einen wundervoll ergreifenden Ausschnitt tanzten, mit tänzerischer Leichtigkeit und viel Empathie für die dargestellten Figuren. Bravi, besonders wenn man bedenkt, dass alle drei diese Rollen zuvor an zwei Tagen hintereinander komplett verkörperten.
Ja, die Art wie John Neumeier Geschichten erzählt gibt allem eine Tiefe zwischen den Zeilen, macht Ballett zu einer Art Übersetzer. „Durch seine Kunst gelingt es uns plötzlich, Gefühle, die wir bisher nicht in Worte fassen konnten, wiederzuerkennen. Und wir denken: So, genauso muss man es sagen!“ So ungefähr lauteten die Worte von Senator Dr. Carsten Brosda als er Neumeier zusammen mit Marianne Kruuse, einer weiteren Heldin der Zeit als ich begann (Neumeier) Ballett(e) zu lieben, die Ehrenmitgliedschaft der Staatsoper Hamburg überreichte.

C. Brosda. M. Kruuse. J. Neumeier: Das neue Ehrenmitglied der Statsoper Hamburg Alle Fotorechte: Kiran West

Auch das erste Stück, Ausschnitte aus Neumeiers Ballett Bernstein Dances mit der Musik der sinfonischen Dance aus West Side Story, gehört zu dem, was mich immer wieder angenehm triggert. Ach, was für eine Zeit, als das Hamburg Ballett Leonard Bernsteins moderne aber inzwischen zeitlose Version des Romeo und Julia Themas aufführte, unterstützt von Künstlern aus den USA in den Hauptrollen.
Es war recht aufregend, Babysitter für Jon Garrisons (Tony) Kinder spielen zu dürfen, die -wieder diese Sache mit der Vergänglichkeit des Süßen Vogels Jugend– heute auch schon Mitte 40 sind. Aber das (noch) größere Vergnügen war es, Lynne Charles einmal nicht ätherisch als Prinzessin Natalia in Illusionen – wie Schwanensee zu erleben sondern als Rotzgöre Anybodys und Kevin Haigen nicht als verträumten Josef oder liebenden Armand sondern als kindlichen Baby John. Ach, und mit welcher Inbrunst das gesamte Ensemble damals tanzte und sang. Und nein, nicht im Sinne des Harfenmädchens aus Heinrich Heines Deutschland – ein Wintermärchen aus vollem Herzen mit falscher Stimme“. Nein, denn alle hatten zuvor ein tolles Coaching und vor allem sie hatten viel Spaß.

Bernstein Dances: West Side Story Dances
Alle Fotorechte: Kiran West

Unübersehbare Freude an Bernsteins Musik und Neumeiers Choreografie hatten auch Christopher Evans/ (Bernstein) Ida Praetorius, Jacopo Bellussi/ Madoka Sugai und Karen Azatyan/Greta Jörgens, die alle so gut wie jeden Tag seit dem 11.6. auf der Bühne standen und dennoch -oder gerade deshalb?- vor Energie sprühten.
Ich will bei meinem Jesus wachen“ aus Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion war nach einer Grußbotschaft von Günther Jena Teil der Gala. Vor meinem inneren Auge erwachten kurz Bilder von Ivan Liska (Judas), Kevin Haigen (Johannes) und Jean Yves Esquerre (Jakobus). Aber mehr noch kam die Erinnerung an die Atmosphäre in der St. Michaelis zurück. Was für eine Innovation: Ballett in einem Gotteshaus und gleichzeitig welch wunderbare Art und Ortswahl um Bachs Oratorium, das schon beim Hören ehrfürchtig machend in den Bann zieht, durch ca. 45 ganz schlicht und in Weiß gekleidete Tänzer, denen es gelingt, durch ihren Tanz die sakralen Musik, den tiefgläubigen Sinn des Textes sichtbar und spürbar zu machen.
Gut, Edvin Revazov (Judas), Aleix Martinez (Jakobus) und Jacopo Bellussi (Johannes) fehlte die einmalig besondere Atmosphäre der hohen Decken, der Gegensatz zwischen prächtigem Altar und einfachen Holzbänken. Auch fehlt in einem Theater dieser eigentümliche, allen Kirchen anwohnende Duft und die Schwere einer Stille, die auch noch ruhig wirkt, tuscheln und flüstern Menschen miteinander. Aber es gelang ihnen dennoch, unterstützt von der sehr weichen lyrischen Stimme von Klaus Florian Vogt, die Bedeutung dieser Choreografie zu vermitteln. Neumeiers Tänzer sind halt auch heute wie damals, wie er in Kiran Wests Collage während einer Tournee in Amerika sagte, „… toll, egal was andere sagen!“

K. F. Vogt, E. Revazov, – Judas beobachtet Jacobus
Alle Fotorechte Kiran West

Ihre ganze Liebe, Zuneigung, Dankbarkeit und vieles mehr vermittelte Marcia Haydee mittels einer Video-Botschaft. Die Freude und Begeisterung über ihre herzlichen, natürlichen, mit hinreißenden Anekdoten geschmückten Worte hätte nicht größer sein können, wäre sie hier persönlich dabei gewesen! Ach doch, auch sie wäre mit Stehenden Ovationen überhäuft worden und -Sie ahnen es natürlich- gehört auch sie zu meinen throw-back Erinnerungen. Ich erlebte ihre kratzbürstige Widerspenstige aus Der Widerspenstigen Zähmung, ihre labile, nach Halt suchende Blanche aus Endstation Sehnsucht und natürlich auch ihre wunderbar hingebungsvolle Marguerite aus Die Kameliendame.

Amandine Albisson, Etoile des Ballet de l’Opéra national de Paris, und ihr Kollege, der Premier Danseur Audric Bezard, boten das erste/das violette Pas de deux aus diesem Ballett mit viel Eleganz und der bewunderungswürdigen Perfektion einer klassischen Prima Ballerina und eines Danseur Noble dar. Kameliendame ist eines der Stücke, die ihren Zauber nie verlieren werden. Und doch, fragte sich mein jüngeres Ich, das damals kaum eine Vorstellung ausgelassen hat, waren „unsere“ Armands ( z.B. Liska, Haigen, Kirk, Maillot) und Maguerites (u.a, Haydee, Scott, Charles, Lefèvre) und sind unsere heutigen Darsteller dieser Partien nicht intensiver, authentischer im Ausdruck? Es mag verklärte Erinnerung sein oder die Zuneigung zur „Heimmannschaft“, aber wie ich es bevorzuge, wenn ein Sänger zu Gunsten der Emotionen der Figuren auf einen perfekten Ton verzichtet, wünschte ich mir hier und da ein wenig mehr „Loslassen“ um Leidenschaft, Verwirrung und Zärtlichkeit noch mehr Raum zu geben.
Doch den Jubel haben sich diese beiden besonderen Gäste wohl verdient. Und, ja klar jubelte ich aufrichtig mit und dennoch….

A. Albisson, A. Bezard :Das erste Rendevous
Alle Fotorechte: Kiran West

Gefeiert, geliebt, geehrt

Einer der rührendsten Momente dieses Abends soll in dieser Hommage nicht fehlen. Nachdem John Neumeier vor geschlossenem Vorhang seine Ehrenmitgliedschaft für die Staatsoper Hamburg erhalten hatte, öffnete sich dieser. Und da standen sie, die Beteiligten des Abend ringsum die Bühne versammelt und klatschten mit dem stehenden Publikum um die Wette. Und reagierte mit Nichtachtung als ihr „Chef“ sie immer wieder durch eine Bewegung aufforderte, sich zu ihm zu gesellen. Bis er endlich aufgab und mit einem Winken der rechten Hand um das Schließen des Vorhangs bat. Die Techniker zumindest folgten ihm.
Und endlich, nach dem fast von den Stühlen reißenden Finale zur Ouvertüre von Bernsteins Oper Candide, stand er inmitten all seiner Tänzer, die ihn kopfüber von hinten nach vorne zu sich auf die Bühne gehoben und getragen hatten.

Ensemble. John Neumeier- Allein im Mittelpunkt aber nicht einsam ‚
Alle Fotorechte: Kiran Westi

Aber auch er wurde gefeiert und geehrt: der Erste Solist und Gründer von Hamburgs neuer Ballettkompagnie, des Hamburger Kammerballetts Edvin Revazov. Er wurde zurecht ausgezeichnet mit dem mit 50.000 € dotieren John-Neumeier – Preis für Choreografie. Das zur Unterstützung aus der Ukraine geflüchteter Tänzer*innen gegründete Ensemble, das inzwischen auch außerhalb von Hamburg auftritt, gab mit Ausschnitten aus Revazovs Requiem, das unter anderem den Song „Where have all the flowers gone?“ beinhaltet, hat einen äußerst beeindruckenden Einblick in sein Können gezeigt. Ja, vielleicht sieht man Revazovs Choreografien an, wo er die letzten ca. 20 Jahre tanzte. Doch erstens: So what? Und zweitens: er imitiert Neumeier in keinster Weise, ließ sich nur von ihm inspirieren um dann etwas völlig Eigenes zu kreieren. Der Tänzer ist längst auch ein Choreograf geworden, der uns sicher im nächsten Jahr mit seiner Choreografie für das Bundesjugendballett überraschen wird, die „Bedingung“ dafür ist, die gesamten 50.000€ zu erhalten und nicht nur die Hälfte.

Edvin Revazov (2.v.rechts) erhält den John Neumeier-Preis für Choreografie Alle Fotorechte: Kiran West

Anstelle eines Fazits dieses schönen und so umjubelten Abends eine kleine Entschuldigung an alle, die ich bisher nicht gebührend erwähnte. Zum Beispiel an euch, Emiliano Torres und Artem Prokopchuk für ihr von Stephan Thoss choreografiertes Pas de deux zu Frank Sinatras My Way, mit dem ihr in nur wenigen Minuten durch Tanz und Gestik soviel erzählt habt. Oder an Sie, Thomas Hampson, der Sie bei den Ausschnitten aus Yondering zusammen mit den Schülern der Ballettschule American Flair verbreiteten und nicht zuletzt bei euch, Charlotte Larzelere, Aleix Martínez und dem Bundesjugendballett, die ihr uns mit Sybil Dances, die ihr uns die Arbeit und Tanzart des Sybil Shearer Ensembles, dessen Mitglied John Neumeier einst (1961) war, näher brachtet. Und natürlich an die Dirigenten Markus Lehtinen und Holger Speck, den Pianisten Michal Bialk, das Vocalensemble Rastatt und last but not least die Symphoniker Hamburg.

Im jenen High Light Film vom Beginn sagte der Jubilar, dass die Arbeit an einem neuen Stück oft damit beginnt, dass er vor seinem Ensemble steht und sich fragt: „Was soll ich denn jetzt bloß machen?“ Ja, ihm ist bisher noch immer etwas eingefallen, dass uns, dem Publikum, zeigt, dass Tanz viel mehr ist als nur „schön“.
Danke „Johnny“, mögen Ihre Werke uns noch lange erfreuen und, auch wenn Sie ab 2024/25 das Ruder endgültig abgegeben haben, neue dazukommen.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 29.6.2023


Links
https://www.hamburgballett.de/de/news/jubilaeumsgala_2023.php
https://www.operadeparis.fr/en/artists/amandine-albisson
https://www.operadeparis.fr/en/artists/audric-bezard
https://www.klaus-florian-vogt.de/
https://www.facebook.com/alessandraferri555
https://www.facebook.com/w.thomashampson

Diese Gala war eine Veranstaltung zugunsten von:
https://www.johnneumeier.org/

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