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Ballettdirektor John Neumeiers tiefe – ja seelische – Verbundenheit und Bewunderung für das Tanzgenie Vaslav Nijinsky ist ein offenes Geheimnis, das sich spätestens in seinem Ballett Nijinsky offenbart. Insgesamt drei Mal (27., 28.6 und 5.7.) bringt das Hamburg Ballett während der momentan stattfindenden 48.Balletttage die von Neumeier mit viel Empathie inszenierte und choreografierte Biografie des Menschen, der auch heute noch dafür bekannt ist, dass er Tanzkunst, Bewegung, Emotionen und Ausdruck perfektionierte.
Das Publikum honorierte besonders die hervorragende Leistung von Alexandr Trusch, der heute erneut die anspruchsvolle Titelrolle verkörpert, mit begeisterten Applaus.

Alle Fotorechte: Kiran West
Der schmale Grat zwischen Genie und Wahnsinn
Die offene Bühne zeigt jenen Salon im Suvretta House in St. Moritz, in dem Nijinsky 1919 während einer privaten Aufführung seines Balletts Hochzeit mit Gott einen Nervenzusammenbruch erlitt. Die Gäste lärmen, lachen, amüsieren sich, im Off schreit ein Mann, hysterisch, verzweifelt. Kurz danach erscheint Nijinsky, scheint niemanden wahrzunehmen, auch den frenetischen Applaus seiner Gäste, dem etwas unangenehmes, aufdringliches anhaftet, scheint er auszublenden. Sein Tanz ist ebenso weltvergessen wie exzentrisch. Dann hat er eine Erscheinung seines Mentors und einstigen Geliebten Serge Diaghilew und das Hier und Jetzt vermischt sich mit Bildern, nun Erinnerungen an Rollen, die er mit dem Ballet Russe tanzte, die für ihn besondere Bedeutung hatten und noch heute mit ihm in Verbindung gebracht werden: wie der Harlekin (Carnaval), der Goldene Sklave (Scheherazade), der Geist (Spectre de la Rose) und natürlich auch der Faun aus „L’Aprés-midi d’un faune“.

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Neumeiers Liebe zur Kunstform Tanz im allgemeinen und seine Wertschätzung Nijinskys im Besonderen machen deutlich, dass er sich bei seinen Choreografien für jene Figuren nicht nur an Bildern und Beschreibungen über die Bewegungen Nijinskys orientiert, sondern tiefer geht. So geht es auch immer wieder um die Beziehung Nijinsky/Diaghilew, wobei Nijinsky sich in jenen Traum/Erinneriungssequenzen immer in einer Rolle, wie zum Beispiel den Goldenen Sklaven, sieht, der von Diaghilew getragen und gehalten wird. Nur in einer Szene aus Nijinskys Ballett Jeux, in dem er sich, seiner Zeit voraus mit Sexualität und Partnertausch kaschiert in einem Tennisspiel, beschäftig, geht es um Vaslav und Diaghilew und darum, dass Diaghilew Vaslav gegen einen namenlosen jungen Mann austauscht.
Im weiteren Verlauf der Handlung geht es auch um die anderen Personen und Situationen in Nijinskys Leben, die ihn formten: Seine Familie, allen voran sein ebenfalls psychisch erkrankter, früh verstorbener Bruder Stanislaw. Und es geht um Romola Nijinska, immer wieder um Romola, die sich den Gatten so sehr wie den geheimnisvoll sinnlichen Faun aus dem Ballett wünscht und doch nur einen Mann hat, der mehr und mehr in seinen eigenen Welten versinkt und den sie am Ende im wahrsten Sinne des Wortes (auf einem Schlitten) mit sich zieht.

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Intensive Hingabe an Balletttanz auch heute auf der Bühne
Seien es die hysterisch lachenden Soldaten, ihr fast ohrenbetäubender, Wut ausstrahlender Gleichschritt oder oder oder. Es wimmelt in diesem Ballett von Details, die entdeckt und ihren Äquivalenten aus der Realität Nijinskys zugeordnet, Personen die besonders in der Eröffnungsszene identifiziert werden wollen, was nicht immer gelingt, ebenso wenig wie alle mit all ihren Rollen würdigen, haben sie es auch verdient.
Darum beschränke ich mich auf Folgende: Jacopo Bellussi betört als junger Mann in Jeux auch das Publikum. Anna Laudere, Patricia Friza und Matias Oberlin berühren tänzerisch wie im Ausdruck als Nijinskys Mutter, Schwester und Vater. Aleix Martinez als Stanislav Nijinsky, zeigt wieder einmal, dass er ein ganz Großer ist, wenn es um die Darstellung, das Tanzen von in sich zerrissenen, verzweifelten Seelen geht.

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Neumeier zeichnet neben Chorografie und Inszenierung auch für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich. Hier verwendete er teilweise die Originalentwürfe von Léon Bakst und Alexandre Benois. Die Melodien von Frédéric Chopin, Nikolaj Rimskij-Korsakow, Robert Schumann und im zweiten Teil allein Dmitri Schostakowitsch geben dem Abend den musikalischen Rahmen. Entstanden ist eine überzeugende und tief bewegende, getanzte Biografie, die auf romantisierende Weichzeichner ebenso verzichtet, wie auch auf provozierende Scharfzeichner/Schockmomente. Und gerade dies ist, was so bewegt, ja, erschüttert: Alles ist glaubwürdig inszeniert und ebenso dargestellt.
Borja Bermudez ist ein wunderbar trauriger Petruschka, Ida Praetorius als Tamara Karsavina interpretiert nicht allein die Ballerina aus Petruschka sondern auch andere von Karsavina getanzte Partien. Christopher Evans besticht als ätherischer Geist der Rose und auch als kecker Harlequin, Karen Azatyan zieht unter anderem als die beiden verschiedenen Arten von Sinnlichkeit verkörpernden Partien, wie den verführerischen Goldenen Sklaven und den animalisch erotischen Faun, in den Bann.

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Ein Trio vom Schicksal verbunden: Serge, Romola, Vaslav
Edvin Revazov ist ein sehr eleganter Serge Diaghilew, dominant beherrschend aber auch beschützend und (ver)führend. Es gelingt Revazov ohne Mühe, die Faszination des Dandy-Impresarios ans Publikum weiterzuleiten, durch seine Geschmeidigkeit, seine Kraft und seine Ausstrahlung. Auch ihr fehlt es nicht an Ausstrahlung: Alessandra Ferri als Romola Nijinska.
Ferri verkörpert die Frau, die den sensiblen und gefeierten Vaslav begehrt und von ihm als Faun träumt, mit viel Empathie und jugendlichem Charme und entwickelt sich mit ihrer Figur spürbar immer weiter bis hin zu jener, die resigniert ihr Schicksal akzeptiert. Ihre tänzerische Leistung, ihre Leichtigkeit und Biegsamkeit verdient zusätzlich zum gezeigten Können auch Anerkennung, da sie das Rentenalter eines Tänzers schon um ca. 15 Jahre überschritten hat und entlockt -zumindest mir- noch so manches Wow!. Und mal ganz ehrlich, wer von uns, die nie eine Balletttänzerkarriere hatten oder mit 60 noch einen bürgerlichen Beruf, kann sagen, ohne sich zu belügen, dass er noch dieselbe – ja selbe, nicht nur gleiche oder ähnliche- Leistung wie mit 20 liefern kann? Also Frau Ferri ist wirklich recht nah dran!

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Alexandr Trusch ist mehr als nur recht nah dran, mich von seiner stets wachsenden Vielseitigkeit nicht nur zu überzeugen sondern auch zu faszinieren. Große Worte? Vielleicht, doch verdient! Erst am Samstag habe ich ihn in seiner, für mich, besten Darstellung als Arminta in Sylvia gesehen. Eine Rolle, die mit der des Nijinsky nicht vergleichbar ist. Diese Partie gehört zu jenen, die, wie ich es immer gerne nenne, ein Stück der Seele des Tänzers verlangt. Und davon gibt Trusch viel: Er leidet, liebt, verzweifelt, lächelt weltentrückt, zählt fast hysterisch laut den Takt und ist jede Sekunde authentisch, ja – noch so ein Klischeesatz, den ich liebe- lebt die Rolle.
Und auch seine tänzerischen Fähigkeiten scheinen sich noch weiterzuentwickeln. Hut ab und wenn auch nur schriftlich die von Herzen gegebenen Standing Ovation mit allem drum und dran: Trampeln, Klatschen, Jubeln.
Fazit: Kurz und knapp: Alle hatten an diesem Abend Standing Ovation mit allem drum und dran: Trampeln, Klatschen, Jubeln, verdient! Naja, Trusch und Ferri halt ein bisschen mehr.
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 27.6.23
Links:
https://www.hamburgballett.de/