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Endstation Sehnsucht ist eines der vielen Werke des US-amerikanischen Dramatikers/Schriftstellers Tennessee Williams (26.3.1911 – 25.2. 1983), in denen er sich hauptsächlich mit den (Familien)politischen Gesellschaftsstruktur des amerikanischen Südens beschäftig. Vor vierzig Jahren kreierte John Neumeier für das Stuttgarter Ballett mit Marcia Haydee (Blanche) und Richard Cragun (Stanley) in den Hauptrollen, eine schon damals umjubelte Ballettfassung, dieses brisanten, bewegenden Stoffes.
Nun gastierte und begeisterte das Tschechische Nationalballett mit seinem Gastspiel bei den diesjährigen Balletttagen das Hamburger Publikum und nicht nur Nikola Márová (Blanche) und Danilo Lo Monaco (Stanley) wurden langanhaltend und lautstark bejubelt, wenn auch -leider- nicht so intensiv wie sonst das „Heimatteam“, was aber wohl einfach in der Natur der Sache liegt, nicht an der Leistung der Gäste,

Fotorechte: Privat
Eine bewegend berührende Geschichte -fast- perfekt erzählt
Ein kleines Manko hatte dieser in den Bann ziehende Abend, wenn gleich auch auf recht hohem Niveau: die Qualität der, vom Band stammenden Musik ließ zu wünschen übrig, klang ein wenig blechern. Damit ist das „fast“ im Titel auch schon abgedeckt.
Denn alles andere passt wie die berühmte Faust aufs Auge, eine Metapher, die ich benutze, da Gewalt in diesem Stück keine geringe Rolle spielt: Die Musikauswahl an sich untermalt die Dramatik, die Dramaturgie der Geschichte: Sergej Prokofjews „Visions fugitives“, was übersetzt ja Flüchtige Erscheinungen bedeutet, untermalt den ersten Teil, der in der Irrenanstalt beginnt, in die Blanche von Schwester und Schwager eingewiesen wurde. Hier schon beginnen Sie, die flüchtigen Erscheinungen, in Form von Männern, die sie verletzten. Danach befinden wir uns auf dem Familienbesitz der Du Bois‘, am Tag der Hochzeit von Blanche und ihrem Verlobten Allan Gray, dem sie auf eine reine, fast asexuelle Art ergeben ist, eben genau wie es sich für eine einstige Southern Belle, für die ordentlicher Schein alles ist, gehört. Doch dann entdeckt sie Allans Homosexualität, er erschießt sich. Der Anfang vom Ende, das Ende aller Illusionen. Prokofjews Musik bedient alle Emotionen: Sehnsucht, Hoffnung, Zärtlichkeit und auch ein Drängen nach der Sicherheit von geordneter und, auf Grund langjähriger Tradition, verlässlicher Berechenbarkeit, lässt aber auch die Risse in der schönen mühsam aufrechterhaltenen Fassade und die Verzweiflung erahnen.

Der zweite Teil spielt im wilden, allen Zwängen und Regeln einer hochherrschaftlichen Plantage fernen, New Orleans, wo Blanche Unterschlupf bei ihrer Schwester findet, die ihrem brutalen Mann sexuell absolut hörig zu sein scheint, sein forderndes, liebloses Begehren mehr als nur hinnimmt.
Alfred Schnittkes Sinfonie Nr. 1 spiegelt es wunderbar wider. Seine Musik ist durch ihre stellenweise Atonalität, das was man, um wieder eine umgangssprachliche Metapher zu benutzen, „schwere Kost“ nennt. Seine Melodien und Klänge haben etwas Ungezügeltes auf manchmal unangenehme, aber immer das Geschehen auf der Bühne fesselnde Art. Da gibt es viel Jazziges, viele Blechbläser, aber auch Walzer- und Marschklänge und Fragmente aus den Federn von Beethoven, Haydn und Tschaikowski. Handlung, Tanz und Musik zusammen haben das Publikum auf jeden Fall fest im Griff.
Ja, durch diese bild- wie gefühlsgewaltigen Klänge und die Bühnenbilder und Kostüme, die sehr effektive Lichtregie und seine Choreografie hat John Neumeier die Essenz der literarischen Vorlage in eine überzeugende, getanzte Bühnenerzählung verwandelt, deren Wirkung und Saugkraft man nicht entkommen kann. Wie sonst Neumeiers eigene Compagnie Das Hamburg Ballett, setzte auch das Tschechische Nationalballett seine Ideen mit Verve, technischem Können und vor allem auch viel Hingabe daran, Blanche, Stanley aber auch alle anderen Figuren mit Leben und, im Fall der beiden Erwähnten, einem Teil der eigenen Seele zu füllen. Wieder bemühe ich mit: einem Teil der eigenen Seele geben eine Metapher, eine vielleicht pathetische aber absolut passende.

Spiegelbilder aus dem Leben durch gut gezeichnete Figuren
Denn gerade die Partien von Blanche Dubois und Stanley Kowalski verlangen viel persönlichen Einsatz, besonders in der Vergewaltigungsszene von der zarten, weltfremden, alternden Schönen durch den augenscheinlich für Macht durch rohe/sexuelle Gewalt lebenden Underdog.
Aber wie stets sind auch alle anderen Rollen wichtig für die Zwischentöne der Geschichte, egal ob namentlich genannt oder als Teil des Ambientes und der Gesellschaft, in der sich die Hauptfiguren bewegen.
Am Beginn des Balletts zum Beispiel sitzt die gebrochene Blanche (Nikola Mánová) auf einem altmodischen Krankenhausbett, versunken in ihr „Ich“ und die sichere Welt ihrer Jugend, ganz Dame von Stand, mit eingebildeten Gästen Konversation machend. Dann beginnen mit der Musik die Erinnerungen und Shaw, Kiefober und ein Soldat gesellen sich in lasziven, fordernd eindeutigen Gesten zu ihr. Besonders Fraser Roach als Shaw macht deutlich: Die Tochter aus der upper-class weckt die sexuelle Machtgier in Männern aus der Unterschicht. Roach sitzt später im ersten Teil am Bühnenrand auf dem Bett, einem weiteren Symbol für das, was Blanches Leben bestimmt.

Es ist nicht allein die Art wie Roach sich als Shaw bewegt, sondern auch die Art wie er sich auf dem Bett lümmelt, Blanche aus den Tiefen der Vergangenheit immer fordernder mit Worten lockt. Um schließlich mit einem leise gesungen Lied eine Gänsehaut des Abscheu verursacht. Kennen wir sie doch alle irgendwie, diese charmant wirkenden „Brutalos“, die durch diese Mischung , zumindest anfangs faszinieren. Jakub Rasek als Allan und John Powers als Mitch vertreten eine andere Art von Männern. Rasek ist mit jeder Geste, jedem Sprung der in sich zerrissene Mann, der sich durch seine sexuelle Veranlagung in der damaligen Zeit strafbar macht und den Ausweg dann nicht in der verschleiernden Heirat sondern im Suizid findet. Als Zeitungsjunge in New Orleans, der Blanche so an ihren ehemaligen Verlobten erinnert, dass sie Annäherungsversuche unternimmt, schafft Rasek es dann mühelos eine andere Art der Zerrissenheit zu zeigen: Die faszinierende Verwirrung ob des Übergriffes weicht schnell wieder der unbeschwerten Leichtigkeit der Jugend.
John Powers als Mitch, Sparringspartner und Freund von Stanley ist schon durch sein hochgewachsenes, drahtiges Äußeres ein Gegensatz zu Stanley, dem er in allen Bereichen abgrundtief unterlegen ist. Powers ist hier auf allen Ebenen überzeugend. Im Boxkampf geht er meist in die Deckung, nie in die Offensive. Er verliebt sich auf den ersten Blick in Blanche, schüchtern und verehrend, bis er sich bereitwillig von Stanley manipulieren lässt und sich in die Reihe der Fordernden einreiht.

Ätherische „Southern Belle“ zerbricht an brutalem „Macho“
Auch Blanches Schwester Stella (Alexandra Péra) unterwirft sich Stanley bedingungslos. Ihre Szenen und Pas de Deux mit Danilo Lo Monaco sind geprägt von einer Erotik, die geprägt ist von einer Körperlichkeit, die Liebe durch Gewalt und Begierde ersetzt. Dabei scheint die Gewalt und das Machtgehabe Stanleys, der sich die Führung nicht nehmen lässt, von Stella nicht nur geduldet sondern auch genossen werden. Péra ist eine wunderbar natürliche, unbedarfte Stella, dem Ehemann völlig ergeben und taub für die Zweifel der Schwester. Sie spielt nicht nur sondern tanzt auch mit dieser natürlichen Leichtigkeit. Atemlos macht die Akrobatik, von der die Pas de deux geprägt sind, einfach durch die Bedeutung, die hinter diesen intensiven aber bewusst irgendwie seelenlos wirkenden Bewegungen liegen.
Zumindest Danilo Lo Monacos fehlt nicht nur bei den getanzten Liebesakten jegliche Empathie für seine Frau und noch weniger in der Vergewaltigungsszene Blanches. Hier möchte ich betonen, dass es nicht Lo Monaco ist, dem Empathie und Seele fehlt, im Gegenteil. Er schlüpft, wie einst Marlon Brando, in Bühnenuraufführung und Film, in die Haut des Stanley Kowalski, ist Macho durch und durch. Er hat eine wunderbare Sprungkraft, hält und führt seine Partnerinnen in jeder Situation sicher. Doch ist es seine Ausstrahlung und Darstellung, die -ja- sprachlos macht. Man möchte Stanley zur Rede stellen, ihn anschreien.

Dank Lo Monacos und Márovás Leistung und der gelungenen Gratwanderung Neumeiers Choreografie reicht bei dieser Szene Atemlosigkeit oder Ergriffenheit nicht aus, um die Wirkung zu beschreiben. Hier und da war dann auch ein angedeutetes Lachen zu hören. Nein, nicht, so mein Eindruck, um zu verlachen. sondern um eine immense innere Spannung abzubauen. Denn es ist Neumeier gelungen auf der erschütternden Seite des Glaubwürdigen zu bleiben. Dazu Lo Monacos (gewollte) Zügel- und Márovás Fassungslosigkeit… Oh manno: Wow! Man sehnte das Ende dieses gefühlt Stunden dauernden Momentes herbei und war doch gefangen.
Nikola Márová hat in Erscheinung und Ausdruck von Anfang an etwas zerbrechlich Feenhaftes. Ihre Blanche sucht, wo auch immer, Halt: sei es durch fast kindliche Hingabe, in dem sie die eigene Hand küsst und dann Allan auf den Mund legt, oder den verzweifelt leidenschaftlichen Übergriff auf den Zeitungsjungen. Ihr Tanz, ihre Bewegungen sind in jeder Hinsicht ein Spiegel ihrer jeweiligen, von jeher psychisch instabilen, Gefühlswelt. Sie, ihre Blanche berührt und bewegt auf eine (von Neumeier gewollte) unangenehme Art: Keine Frau im Saal möchte sein wie Blanche, sich so offensichtlich missbrauchen lassen. Aber wenn auch nur ganz leise und tief im Innern, rührt sich durch Darstellung und Choreografie ein wenig die Unsicherheit, vielleicht doch auch etwas einer Blanche in sich zu tragen.

Fazit: Ein anspruchsvoller, tief bewegender und doch wunderbarer Abend, der neugierig auf die Umsetzung ab Herbst durch das Hamburg Ballett macht, aber auch dankbar, eine solche Kompagnie wie das Tschechische Nationalballett erlebt haben zu dürfen.
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 20.06.2023
Links:
https://www.hamburgballett.de/
https://www.narodni-divadlo.cz/en/ensembles/ballet/about-us
https://nikolamarova.estranky.cz/
https://www.instagram.com/danilolomonaco/?hl=de