Opern- und Leben(s)gestalten

Nomen ist nicht immer Omen, oft reicht er nicht allein, da hinter kann noch viel mehr „wohnen“! Kommt! Schaut doch einfach rein!

Hamburg Ballett- Romeo & Julia: Mit Herz, Seele und der Leidenschaft der Jugend

Titelbild: Azul Ardizzone (Julia) , Louis Musin (Romeo // Fotorechte: https://www.kiranwest.com/

Viele Herzschläge lang steht Ballettdirektor John Neumeier am rechten Bühnenrand, umarmt seine beiden Hauptdarsteller Azul Ardizzone (Julia) und Louis Musin (Romeo). Mit diesem rührenden aber nicht rührseligen Moment, bei dem drei Menschen im überwältigenden Jubel ihre eigene kleine „Insel“ bilden, endet am 11.6.23 die Eröffnungsvorstellung der 49. Balletttage des Hamburg Ballett John Neumeier und Wiederaufnahme von Neumeiers 1974 kreierten Balletts Romeo und Julia an der Staatsoper Hamburg.

Jeder kennt sie, sei es als Theaterstück von William Shakespeare, das auch verfilmt wurde mit Originaltext, aber ins Heute verschoben, mit Leonardo di Caprio und Claire Danes in den Titelrolle, als Leonards Bernsteins unsterbliches Musical West Side Story, oder, oder oder …

Und natürlich auch als Ballett mit der wunderbar Emotionen malenden Musik von  Sergej Prokofjew. Anders als einige seiner Kollegen, die in der damaligen Zeit dieses Stück inszenierten und choreografierten, stellt Neumeier die Menschen hinter den Figuren und deren Emotionen, Eigenschaften, Beweggründe dar. So tritt Julia in ihrer ersten großen Szene barfuß auf, macht Romeo in der Balkonszene einen Rückwärtssalto und schlägt Rad, bleibt die amouröse Beziehung zwischen Lady Capulet und ihrem Neffen Tybalt kein Geheimnis. Es wird sich umarmt, es wird gescherzt, die Rivalität der Familien samt ihrer Dienerschaft wird sicht- und spürbar gemacht und zum Schluss wird vor allem gelitten. Dies alles ohne tänzerische Ästhetik zu vernachlässigen, aber immer ist klar: die Personen, die sich durch Sprünge, Drehungen, Fechtkämpfe tanzen sind es, die wirklich zählen.

A. Prokopchuk (Tybalt), P. Tselikova (Gräfin Capulet) //Photo Credits: Kiran West

Das ändert sich auch nicht dadurch, dass die Bühnenbilder von Jürgen Rose inzwischen nicht mehr so sehr schlicht sind wie in den ersten Fassungen dieses Balletts. Sein Kostüme bestechen wie stets. Dass er ebenfalls beim Schlussapplaus dabei war und -ich wage es zu sagen- nicht nur für „Romeo und Julia“ sondern sein Lebenswerk bejubelt wurde, war ein aufführungsunabhängiger, aber intensiver Gänsehautmoment. Die beiden alten Herren, Jürgen Rose (86) und John Neumeier (84) sind Künstler, die die letzten Stufen, wenn auch noch nicht die aller letzte, von Karriere und Leben erreicht haben.

Ganz anders die jungen Tänzer*innen die, in welcher Rolle auch immer, diesen wunderbaren Abend gestalteten. Hier gelten (irgendwie hamburgisch/hanseatisch) Titel, wie Erste/r Solist*in, Solist*in, Gruppentänzer*in, bei den Rollenverteilungen nicht soviel wie an anderen Häusern. Jede/r bekommt eine Chance auf eine Hauptrolle, tanzt auch mal in einer weniger prominenten Position. Hier, zum Beispiel, ist bei den Hauptrollen nur Romeos exzentrischer Freund Mercutio durch Alessandro Frola mit einem Solisten besetzt. In den eher kleineren Partien der Mitglieder der Schauspielertruppe, die aus Freunden Romeos besteht und die Handlung manchmal verdeutlicht, glänzen unter anderem die Solist*innen Emilie Mazon (Luciana), Yun-Su Park (Isabella) und Lizhong Wang (Valentin). Nicht vergessen möchte ich die stets ausdrucksstarke Yaza Coll, die als Mercutios Hure nicht nur nach dessen Tod trauert, tief berührt und ihr Können und Charisma unter Beweis stellt.

A. Frola, L. Musin, F. Cortese // Photo Credits: Kiran West

Denn von den auf der Stückseite aufgeführten Tänzer*innen haben nur noch vier eine 19 vor dem Geburtsdatum, darunter Matias Oberlin, der den würdevoll mit dem Ehebruch umgehenden Graf Capulet verkörpert. Auch Florian Pohl als sich elegant bewegender edler, von Julia abgewiesener Prinz Paris ist noch im vergangenen Jahrtausend geboren, ebenso wie Priscilla Tselikova, die als Lady Capulet, durch Tanz und darstellerische Leidenschaft, das Bild einer Edeldame aus dem 16. Jahrhundert zeichnet, die relativ offensichtlich einen anderen Mann als den eigenen liebt. Als Tybalt, ihren Neffe und Geliebten, zeigt Artem Prokopchuk, der letzte, der im vergangenen Jahrtausend Geborenen, viel Empathie für dessen in sich zerrissenen, unzufriedenen, hasserfüllten und darum aggressiven Charakter. Prokopchuks Darstellung ist ebenso intensiv beeindruckend wie seine hohen Sprünge, seine Eleganz, zum Beispiel bei Julias Debütantinnenball, und die Sicherheit bei den Kämpfen mit einem der drei Freunde aus dem Montague-Clan.

Einer dieser drei Freunde ist Benvolio, pfiffig, frech, unbeschwert und mit viel Energie getanzt von Francesco Cortese, der erst vor wenigen Wochen in Neumeiers Ballett Liliom als Louis, den Sohn des Titelhelden, durch seine Intensität auf allen Ebenen fasziniert.

N.Maredo, A. Ardizzone, L.Giesenberg, L Musin//Photo Credits: Kiran West

Zwar ist er weder weltlicher Freund noch Gegenspieler, sondern eher Unterstützer der Liebenden, aber dennoch ist er ganz anders als zum Beispiel der exzentrisch- extrovertierte Mercutio: Bruder Lorenzo, wird interpretiert von Lennard Giesenberg, der nicht durch seinen blonden Lockenkopf, den man gern mit Engeln assoziiert, eine gewisse Unschuld und seine Interpretation an sich viel Ruhe und Mitgefühl ausstrahlt.

Alessandro Frolam, der hier die Partie eben jenes Mercutios tanzt, überzeugte zwar bereits als Prinz Desiré in Dornröschen doch als Individualist in einer sich befehdenden Gesellschaft scheint er sich technisch wie auch charakterlich noch wohler zu fühlen. Und auch ich sehe ihn eher als wahren Charakterdarsteller als als Prinz, auch wenn Prinzenrollen bei Neumeier ja auch immer mehr (Menschlichkeit, Schwächen, Stärken) zu bieten haben als bei anderen Choreografen. Besonders in der Sterbeszene, nach dem Unglückstreffer durch Tybalt im Duell, bestach Frola durch die perfekte Kombination von tänzerischem Können und glaubwürdigem Ausdruck: Bravo!!

A. Ardizzone L. Musin //Photo Credits Kiran West

Mehr als nur ein oder zwei „Bravos“ verdienen die beiden wirklich blutjungen Protagonist*innen Azul Ardizzone und Louis Musin. Musin ist (noch?) Gruppentänzer und zeigte unter anderem bereits als Louis (Liliom), Fritz (Nussknacker) und dem agilen Sprecher der Zimmerleute (Schwanensee) wie sehr er seinen Beruf liebt, wovon auch das Publikum profitiert. Für den Romeo gibt der knapp 21jährige wirklich ohne sichtliche Mühe, mit viel Enthusiasmus alles. Ja so könnte er gewesen sein der „echte“ Romeo: unbeschwert und so übermütig, dass er seiner Freude über die gefundene wahre Liebe nicht nur durch tolle Balance und Körperspannung oder kraftvolle Sprünge, sondern auch durch Radschlag, Rückwärtssalto oder sich einfach glücklich unter den Balkon der Geliebten auf den Rücken legend. Doch Musins Romeo wird auch reif und erwachsen. übernimmt zärtlich Verantwortung auch für Julia.
Ich komme um diese etwas klischeehaften Worte nicht herum: Er lebt die Rolle, schenkt Romeo seine Tanzkunst und für knapp drei Stunden ein kleines Stück seiner Seele.

A. Ardizzone L. Musin //Photo Credits Kiran West

Für Sie gilt das alles noch um einiges mehr: Azul Ardizzone , die am kommenden Sonntag ihren 16.(!!!) Geburtstag feiert. Einzig vielleicht die unübersehbare zärtliche Fürsorge besonders ihres Romeos würde ihr jugendliches Alter vermuten lassen, wüsste man nicht, dass sie noch Schülerin im Ballettzentrum Hamburg ist. Es gibt gar nicht genug Hüte, die ich vor ihrer fantastischen Leistung ziehen könnte! Dass ein so junger Mensch so intensiv große und echt wirkende Gefühle an ein Publikum in einem ausverkauften Haus (ca.1800 Plätze) vermitteln kann, und das bereit ist mit ausgefeilter Technik und offensichtlicher Leichtigkeit, ist ….
glauben Sie es mir oder nicht, mir fehlt ein passendes Wort, außer dass ich ein zweites Mal nicht um die Sache mit dem „eine Rolle leben“ herumkomme. Ardizzone besticht durch fast unschuldige Natürlichkeit: Sie macht einfach, was sie schon lange zu lieben scheint: Eine Figur durch Tanz und Ausdruck zum Leben zu erwecken, und auch sie gibt ohne (zu) Zweifel(n) für kurze Zeit nicht nur ihre hohe körperliche Leistungskraft sondern wie selbstverständlich ihre Seele: Nach und nach wird aus dem im Bad mit ihren Cousinen Rosalinde (Oivia Betterridge), Helena (Justine Cramer) und Emilia (Carolin Inhoffen) herumalbernden Mädchen, eine auf den ersten Blick verliebte, dann immer intensiver liebende junge Frau, die ganz bewusst erst das Tiefschlaf bringende Gift und schließlich das Tod bringende Messer nimmt.

Azul Ardizzone , // Photo Credits: Kiran West

Fazit: Okay, die Bläser des Philharmonischen Staatsorchesters der Staatsoper Hamburg schienen, vielleicht auf Grund der Hitze, einige Anfangsschwierigkeiten mit ihren Instrumenten zu haben. Aber dies ist Meckern auf sehr hohem Niveau, denn die Zusammenarbeit zwischen dem Orchester unter der Leitung von Simon Hewett ließ keine Wünsche offen. Also: Welch wunderbarer Auftakt, dessen Manko allein darin liegt, dass es in diesen Balletttagen keine weitere Möglichkeit gibt, es vielleicht (sogar zum zweiten Mal) zu genießen. Die Bewunderung, besonders für die Leistungen von Azul Ardizzone und Louis Musin, ist auch jetzt noch so enorm, wie es der Jubel und die Standing Ovations nach der Vorstellung waren.

A. Ardizzone// Photo Credits: Kiran West

Ganz tief im Innern und leise bringe ich aber mein mit „Beschützerinstinkt aus der Ferne“ behaftetes (Mutter) Herz nicht zum Schweigen. Daher ein kleiner, persönlicher Nachtrag.
„Liebe Azul, danke für deine so wunderbare Julia! Sei Stolz auf dich, genieße den Erfolg und all das mehr als verdiente Lob, von uns, die es mit Überzeugung für alle sichtbar äußern! Glaub immer an dich! Geh deinen Weg, achtsam und ohne etwas zu überstürzen, auch wenn dich irgendjemand (wir, die Medien?), wohlmeinend hetzen und „hypen“ will! Lebe deinen Traum noch lange und ganz bewusst, wie es für dich alleine gut ist! Klingt nach Belehrungen durch eine Fremde? Dann sieh es mir bitte nach, denn es ist nichts als vielleicht ungeschickt zu sagen: Du bist schon jetzt so toll und es wäre schön dich auch noch in zwanzig Jahren so offensichtlich glücklich nach einer Vorstellung erleben zu dürfen!
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 11.06.23


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