Seit Beginn des Krieges haben tausende Mitglieder der künstlerischen, wissenschaftlichen und intellektuellen Elite Russland verlassen. Zahlreiche andere wurden und werden mit Berufsverbot belegt oder verhaftet. Vor wenigen Tagen wurden in Moskau vollkommen überraschend zwei Frauen verhaftet, die 38-jährige Regisseurin Schenja Berkowitsch, eine Schülerin von Kirill Serebrennikov, und die Schriftstellerin Swetlana Petrijtschuk. Ihnen drohen bis zu sieben Jahre Haft. Schenja Berkowitsch ist eine der wenigen herausragenden Künstlerinnen, die sich entschieden hatte, nach dem Überfall auf die Ukraine nicht ins Exil zu gehen.

Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov, der selbst von Straflager bedroht war und jahrelang im Hausarrest lebte, arbeitet derzeit als „artist in residence“ am Thalia Theater. Nachdem er schon mehrfach den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilt hat, meldet er sich jetzt in einer empörten Protestnote auch zum zunehmenden Staatsterror nach innen zu Wort.
„Zwei junge Frauen sitzen in Käfigen. Der russische Staat hat sie wegen ihrer Antikriegshaltung und zur Einschüchterung anderer dort eingesperrt. Die Namen der Frauen sind Swetlana Petrijtschuk und Schenja Berkowitsch.

Nach Ausbruch des Krieges reiste Sweta mit ihrem Mann nach Deutschland, nach Hamburg, und kehrte buchstäblich für einen Tag nach Russland zurück, um Dokumente abzuholen. Sie wurde auf dem Flughafen verhaftet. Schenja Berkowitsch war in Russland geblieben und wurde ebenfalls verhaftet. Schenja Berkowitsch, meine ehemalige Schülerin, meine Kollegin: Ehrlich, begabt, anständig, aufopferungsvoll, einzigartig. Mutter von zwei Kindern mit schweren gesundheitlichen Problemen. Regisseurin, Dichterin, Dramatikerin. In einem normalen Land wäre man stolz auf sie, aber im heutigen Russland wird sie mit Anschuldigungen konfrontiert, die an Absurdität und Dummheit kaum zu überbieten sind. Schenja war aktiv gegen den Krieg. Sie hielt auf der Straße Mahnwachen, schrieb Gedichte. Man wirft ihr vor, „den Terrorismus zu rechtfertigen“, für eine Theateraufführung, die in Wahrheit den Terrorismus bekämpft und seine Ursachen, seine Entstehung künstlerisch erforscht.

Es ist notwendig, dass die Menschen in der ganzen freien Welt von Schenja Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk wissen. Man kann auf die Menschlichkeit der russischen Justiz und die Vernunft dieses Staates nicht mehr zählen. Denn dieser Staat nimmt tatsächlich eine große Zahl ehrenhafter Menschen als Geiseln, darunter jetzt auch Schenja und Sweta. Wie man mit diesem Terror zurechtkommen soll, weiß niemand. Für diejenigen, die jeden Tag ukrainische Städte bombardieren, Frauen, alte Menschen und Kinder töten und all diese Verbrechen rechtfertigen, kostet es nichts, „irgendwo“ ein Theater zu zerstören oder das Leben von „irgendwem“ zu ruinieren, jetzt auch von Schenja Berkowitsch, Swetlana Petrijtschuk und ihren Familien.
Lasst alle Menschen auf der Welt wenigstens ihre Namen kennen! Lasst sie ihre Stücke lesen! Lasst sie die Gedichte von Schenja lesen! Lasst es geschehen – wenigstens dies!“ – Kirill Serebrennikov, Protestnote vom 7. Mai 2023.

Zudem greift Serennikov zu einem für seine Verhältnisse außergewöhnlichen Mittel und widmet seine derzeit entstehende Aufführung „BAROCCO“ den „artists at risk“, in Russland und weltweit.
„Ich widme die Aufführung von ‚BAROCCO‘ allen politisch verfolgten Künstlerinnen und Künstlern – in Russland und überall auf der Welt.“ – Kirill Serebrennikov
In „BAROCCO“, ursprünglich 2018 im Moskauer Hausarrest entstanden, geht es um die 68er Revolten und die Selbstverbrennung von Jan Palach auf dem Prager Wenzelsplatz. Unter dem Eindruck der radikal veränderten Lage entwickelt Serebrennikov die Inszenierung weiter, die Premiere ist für den 25. Mai geplant. Karten für die Premiere sowie für die weiteren Vorstellungen in dieser Spielzeit (26., 28., 29., 30. Mai) sind bereits im Vorverkauf erhältlich.
Pressemeldung, ThaliaTheater. 08.05.2023