John Neumeiers Ballett Liliom, getanzt vom Hamburg Ballett an der Staatsoper Hamburg, ist eines der Handlungsballette, die zu sehen und über die zu schreiben nie langweilig wird. Zum einem wird das Stück von zwei sehr unterschiedlichen aber doch gleichwertigen Besetzungen getanzt und zum anderen ist es so vielschichtig, dass es auch für diese vierte Rezension weitere Aspekte als nur die tänzerischen und darstellerischen Leistungen der zu Recht umjubelten Protagonisten gibt.

Der Löwenanteil der Begeisterung gebührt(e) den Tänzern
„Es ist wirklich als lebten die Tänzer ihre Rollen!“ So die begeisterten Worte einer Zuschauerin in meiner Nähe an diesem Abend, die das Stück zum ersten Mal erlebte. Und wirklich faszinieren besonders Edvin Revazov (Liliom), Ida Praetorius (Julie), Patricia Friza (Frau Muskat), Francesco Cortese (Louis) und Aleix Martinez (Ficsur) durch eine außergewöhnlich spannende und sehr glaubwürdige Kombination aus Tanzkunst und Schauspiel. Aber wie meist ist es das gesamte Ensemble, das begeistert, angefangen beim Corps de Ballett, das in verschiedene Rollen schlüpft.
Aber auch Lizhong Wang als gewalttätiger, betrunkener, von Liliom letztlich in seine Schranken verwiesener Matrose, und Lasse Caballero, der als Konzipist im Himmel über Lilioms Schicksal nach den Tode entscheidet, steuern durch Tanz und Spiel viel zu dem Erfolg, ja, dem Zauber des Stückes bei. Ähnliches gilt für Ricardo Urbina. Sehr überzeugend gibt er Elmar, den arroganten, einen Pagen herumscheuchenden Sohn von Julies Freundin Marie und deren Ehemann Wolf. Eine der vielen Kleinigkeiten, die ein Stück ausmachen, ist hier, dass Elmar vollkommen zu vergessen haben scheint, dass sein nun wohlhabender Vater auch Page war als er Marie kennenlernte.

Marie und Wolf sind im Gegensatz zu Liliom und Julie die andere, die glückliche Seite der Medaille die man Liebe nennt. Einfach entzückend und berührend sind Yaiza Coll als Marie wie auch Borja Bermudez als Wolf. Ihre Liebe beginnt mit jener stürmischen Unsicherheit, die junge Liebe junger Leute, die auch im sogenannten modernen real life oft kennzeichnend ist, später dann ist ihre gegenseitige Liebe gereift und nicht zu sagen merklich zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Wichtig immer noch, ohne Zweifel, aber eben normal. Coll wie auch Bermudez geben diesen Figuren Format im tänzerischen Sinne und große Überzeugungskraft in der Darstellung.
Illia Zakrevskyis als unheilbar in Julie verliebter, schüchterner Junge lässt, dank seiner Ausstrahlung mitfühlend und sich vielleicht auch hier ein wenig selbst wieder erkennend, schmunzeln. Aber so ganz kann er die Lücke, die der finnische Tänzer Atte Kilpinen, nicht nur in dieser Partie hinterlässt, nicht füllen. Noch nicht …
Louis Haslach ist ein sehr berührender trauriger Clown, melancholisch authentisch, lässt der Sketch mit dem Hut, den er nie zufassen bekommt bis er ihn sich einfach mittels eines Purzelbaums auf den Kopf setzt, an Buster Keaton denken und auch an die Zeit der amerikanischen Depression, die 20 Jahren nach der Uraufführung von Liliom begann und auch ein Thema des Balletts ist. Immer wieder taucht er auf, eine Art Sinnbild für vergebliche Mühen? Traurigkeit und emotionale Depression?

Matias Oberlin begeistert als Mann mit den Luftballons, eine Art Schutzengel oder geistiger Begleiter für Liliom und seine Frau Julie oder auch Julie und Louis. Seine enorme Bühnenpräsenz zeigt sich bereits vor dem ersten Ton des Orchesters, wenn er sich mit vollendeter Körperbeherrschung in Zeitlupe über die Bühne bewegt. Es gelingt Oberlin mühelos gleichzeitig immer im Hintergrund und beinahe omnipräsent nie unbemerkt zu bleiben.
Aleix Martinez brilliert als Ficsur, der eine Art subtiler Gegenspieler zu dem Mann mit den Luftballons zu sein scheint: Ficsur ist ein Gauner, der, zuletzt erfolgreich, Liliom in seine Machenschafften hineinziehen will. Martinez erweckt diesen Unsympath wirklich zum Leben, macht ihn durch seinen nach vornegebeugten weitausholenden Gang, die Geste mit der er sich Drogen -Schnupftabak? Kokain?- von der Nase wischt, zu einer real wirkenden Person. Einer Person, die durch Martinez Tanzkunst, die wütend verzweifelten, hektisch eckigen Bewegungen auch tief berührt.
Patricia Friza als Vergnügungspark-Chefin, Frau Muskat, des von allen Besucherinnen umschwärmten Lilioms, hat ohne Frage, die sinnlichste Rolle in diesem Stück: Herrisch, eifersüchtig und besitzergreifend kämpft sie um ihren besten Mitarbeiter, auch Mann und „Lustobjekt“. Alles an ihren Bewegungen in den Szenen mit Liliom zeigt Stärke, Verlangen und wilde Eleganz. Friza zieht jedoch die Aufmerksamkeit auch auf sich, wenn sie nur über die Bühne geht, selbstsicher oder auch ängstlich, einen Überfall fürchtend. Denn ironischerweise ist gerade sie Lilioms erstes Raubopfer. Die Szene des beiderseitigen Erkennens besteht aus Stagnation in der Bewegung, im starren Verharren, und gerade diese Momente sind es, die Zeugnis über die Qualität eines Regisseurs und Choreografen und vor allem seiner Künstler*innen ablegt.

Ida Praetorius‚ Julie ist ein ganz anderer Typ Frau und Liebende. Sie liebt vom ersten Moment an, schüchtern und stets ein wenig kindlich naiv wirkend, so dass Liliom sie zuerst auch wie ein niedliches Kind behandelt. Und doch strahlt Praetorius ebenfalls ernsthafte Reife, Entschlossenheit und Stärke aus. Sie besticht durch ihre verhalten sinnliche, hingebungsvolle Körpersprache in den Pas de deux ebenso wie durch kleine, so aussagekräftige Gesten. Es ist herzzerreißend wie Praetorius immer wieder Liloms in einer Art Arasbesque befindliches, im rechten Winkel ausgestrecktes Bein nimmt, es hält und sanft auf den Boden zurückführt. Ganz anders als die jungen Frauen auf dem Rummel, bei denen die gleiche Geste bedrängend wirkt und nicht haltend sondern festhaltend. Wenn Julie dann ein letztes Pas de deux mit dem erst sterbenden, dann toten Liliom tanzt, möchte man ihr für diese bewegende Leistung lauthals Beifall zollen, lässt es aber, um diesen Moment nicht zu zerstören.
Wunderschön auch die Art wie Praetorius sich bemüht, erst dem kleinen Louis (wunderbar natürlich Pontus Leitl), dann dem erwachsenen (Francesco Corteso) den verstorbenen Vater näher zu bringen.
Francesco Corteso ist ein überaus ungestümer, leidenschaftlicher Louis, der mit klassischen Tanzschritten eben so überzeugt wie mit fast akrobatischen Darbietungen. Er ist jeder Zoll der Teenager, der es auf der einen Seite genießt, Zeit mit dem für einen Tag auf die Erde zurückgekehrten Vater zu verbringen, etwas zu erfahren von der Faszination Rummel, Jahrmarkt, Vergnügungspark. Er ist fasziniert von dem mitgebrachten Stern, aber auch voller Trotz und Wut, die Cortese durch unbändige authentische Körpersprache ausdrückt.
Edvin Revazov in der Titelrolle wird mehr und mehr ein Meister der kleinen, starken Gesten und des großen Ausdrucks in der Bewegungslosigkeit. So erstarrt er regelrecht, wenn seine Ohrfeige den Sohn zu Boden wirft. Noch eindrucksvoller ist der Moment, wenn Liliom zum ersten Mal Hand an Julie legt. Wenn Revazov nach dem Schlag auf seine Hand starrt, ist die Spannung spürbar, scheint die Zeit, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, still zu stehen. Dies ist ein Moment von all den vielen, die unter die Haut gehen , und die aus einem Ballett ein Tanzdrama und aus einem Tänzer einen hervorragenden Tanzdarsteller machen. Revazov ist -was ja immer wieder spannend ist- ein ganz anderer Liliom als sein Kollege Karen Azatyan. Beide sind fantastische Techniker, doch bei Azatyan liegt die Anziehungskraft in wunderbar zur Schau gestellter, ein wenig selbstverliebter Männlichkeit. Revazov wirkt melancholischer aber auch unbedarfter, was seine (Lilioms) Attraktivität betrifft, was nicht bedeutet, dass er es nicht genießt. Doch scheint er mehr noch als Azatyan ein (Liebe)Suchender, der mit seinem eigenen Gewaltpotential sehr zu kämpfen hat und einen Ruhepol sucht. All dies und auch die immer mehr in den Vordergrund drängende innere Zerrissenheit perfektioniert Revazov nahezu, und zwar auf darstellerischer wie auch auf beeindruckend tänzerischer Ebene.
Ja, er ist inzwischen 40 Jahre alt und doch bleibt zu hoffen, dass er, inzwischen Gründungmitglied, künstlerischer Leiter und Choreograf des Hamburger Kammerballetts, uns noch mindestens eine weitere Spielzeit auf der Bühne erhalten bleibt. Oder zwei oder …

Ja, Musik, so heißt es, drückt aus, was nicht gesagt werden kann. Aber es gibt (für mich) immer wieder Worte, die geschrieben und hoffentlich gelesen werden wollen, auch wenn sie über eine normale Rezension hinausgehen. Hier folgen sie:
Ein Stoff der inspiriert
Ballette, die auf literarischen Vorlagen basieren, machen oft neugierig auf die Vorlage, inspirieren zu recherchieren. Warum? Werden aus Büchern Filme ist es zumindest heutzutage oft so, dass die Essenz und Aussage des ersten Werkes (zu) stark verändert wird. Als Rechtfertigung wird oft die unterschiedliche Kunstform genannt. Ein Theaterstück. wie zum Beispiel Ferenc Molnars Liliom, ist ja aber schon eine visuelle Kunstform, lebt von Worten gleichermaßen wie Bildern, optischen Reizen. Und doch bietet ein Theaterstück an sich schon viele Interpretationsmöglichkeiten. Liliom fiel bei der Uraufführung 1909 durch und wurde dennoch bis heute an Bühnen wie dem Wiener Burgtheater wie auch Volkstheater, dem Thalia Theater in Hamburg und einigen mehr aufgeführt.

Auch zu Verfilmungen inspiriert die Geschichte des Helden des Vergnügungsparks Playland, der das Bergehrtwerden von Frauen ebenso erfährt wie wahre tiefe Liebe. Liebe, die aus Verzweiflung geborene Gewalt verzeiht und auch vor dem Sohn, der seinen Vater erst im Alter von 16 und für einen Tag kennenlernt, rechtfertigt. Denn diese Gnade wurde ihm kurz nach seinem Selbstmord gewährt. Die erste Verfilmung erschien bereits 1919, die letzte (laut Wikipedia) im Jahre 1971 unter der Regie von Otto Schenk. Der letzten habhaft zu werden wäre sicherlich auch im Hinblick/Vergleich mit dem Ballett sehr interessant. Empfehlen möchte ich aber die Verfilmung eines anderen großen Erzählers. 1934 entstand das erste Exilwerk von Fritz Lang, Noch bekannter ist sicher Carousel, der Film, der auf dem gleichnamigen Musical basiert, dass sich ebenfalls auf Ferenc Molnars Liliom bezieht. Inzwischen gibt es auch eine Oper von der Komponistin Johanna Doderer (2016). Die (angebliche?) Bitte von Giacomo Puccini, für den die Geschichte um eine gerade durch ihre Liebe zu einem in sich zerrissenen Mann ja wie geschaffen schien, den Stoff vertonen zu dürfen, hat Molnar abgelehnt. Er soll -sicherlich berechtigt- befürchtet haben, dass Liliom dann als eine weitere Puccini Oper gelten würde, so aber ein Stück von Molnar bliebe.
Die Dynamik ändern aber nicht die Essenz
Warum diese Ausschweifungen? Weil für mich Berichte, Kritiken, Rezensionen, oder wie immer man es nennen mag, schon immer mehr waren als eine Beurteilung der Leistung der Künstler*innen. Ein Ballett, lebt nicht nur von perfekten Tönen, Sprüngen oder Drehungen, sondern vor allem auch von dem, was die Ausstrahlung der Tänzer, die Geschichte, das Bühnenbild usw. bei den Zuschauer*innen auslöst. Daher sind solche Texte eine Gelegenheit, das zu tun wofür ich sie meist schreibe: Andere dazu anregen, nicht blind auf die Urteile von uns oft selbsternannten „Experten“ zu hören, sondern neugierig zu werden oder zu bleiben und vor allem dazu sich eine eigene Meinung zu bilden, selbst Hintergründe nachzulesen und dann, dem hier Geschriebenen zuzustimmen. Naja oder halt nicht. Denn es handelt sich ja um meine ganz persönlichen Eindrücke und Gedanken und inwiefern diese wirklich denen des Autoren/Choreografen gleichen…. Wer kann das schon wirklich wissen. Wichtig ist doch in erster Linie sich einzulassen auf das Dargebotene. Und Neumeiers Ballett Liliom bietet vor allem auch durch seine authentisch und sehr emotional agierenden Tänzer*innen sehr viel.

Neumeier macht in seinem Ballett aus Molnars Figur Louise, der Tochter Lilioms, seinen Sohn Louis. Eine Tochter ist auch immer eine Frau, ein Sohn gilt oft als vermeintliches Ebenbild des Vaters. Die gemeinsam erlebten oder erträumten Momente zwischen einem Vater und seinem Sohn, den er erst kennenlernt als er bereits 16 Jahre alt ist und eben auch nur für einen Tag, haben eine ganz andere Dynamik. Doch das Thema unsterblicher Liebe in Zeiten, die den einen Partner dennoch zu Gewalt verleiten, berührt tief, bleibt nah an dem Stück Molnars, dessen Text im Programmheft nachzulesen ist. Und es scheint wie auch aus dem heutigen Leben gegriffen. Denn das Leben des auch von seiner Chefin Frau Muskat begehrten Publikums- Helden zugunsten einer geliebten Frau aufzugeben, ist eine Sache. Mit langanhaltender Arbeitslosigkeit zurecht zukommen, ohne auf die berühmte schiefe Bahn zu kommen und Angehörigen gegenüber immer beherrscht zu bleiben, eine ganz andere, an keine Zeit oder Ära gebundene. Auch dass der selbstlos liebende Part dieser Liebe, hier die Ehefrau Julie, dem nach dem Tod des Vaters geborenem Kind gegenüber etwas sucht, das dem Kind zu positiven Gefühlen dem Vater gegenüber verhilft, war, ist und wird sicher immer so sein.

Sind es in den Filmen neben den Gesten und Handlungen der Schauspieler*innen die Worte, die ergreifen, so ist es im Ballett Liliom Neumeiers wunderbares Tanz-Darsteller-Ensemble und seine immer wieder faszinierende Art, Geschichten durch Tanz, unaufdringliche, aussagekräftige Kostüme, geschickte Beleuchtung und die interessanten Bühnenbilder von Ferdinand Wögetbauer zu erzählen. Aber auch die Musik von Michel Legrand gespielt vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und der NDR Bigband unter der Leitung von Nathan Brock sorgten dafür, dass der Abend -wie Ballettabende so oft- mit großem Jubel und auch Standing Ovation endete.
Birgit Kleinfeld, besuchte Vorstellung : 1.5.2023
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