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Hamburger Kammerballett: „Sind sie nicht toll?“ – Ja sind sie!

Titelbild alle Rechte: Irina Gurvitch

Am 14.4.2023 machte das First Stage Theater seinem Namen alle Ehre. Gut, das kleine, direkt in einem Wohngebiet liegende Theater ist auch sonst eine Art Sprungbrett für junge Künstler*innen, die noch in der Ausbildung zum Musicaldarsteller*innen sind oder sie bereits beendet haben. An diesem Wochenende jedoch war es im wahrsten Sinne des Wortes die erste Bühne für aus ihrer Heimat Ukraine geflüchtete Tänzerinnen und Tänzer, die in Hamburg nicht nur ein neues Zuhause sondern auch die Möglichkeit fanden, ihren Lebenstraum Tanzen weiterzuleben.

Ein Fotoalbun in tänzerisch bewegter Form: Britten-Tanz

Dieser allererste Abend mit dem Namen White Noise war ein voller Erfolg. Strahlend standen am Ende die beiden Gründer der Kompagnie, Isabelle Rohlfs und Edvin Revazov, neben ihren ebenfalls glücklichen Tänzern. „Sind sie nicht toll?“ fragte Edvin Revazov, künstlerischer Leiter des Ensembles, das Publikum, dessen Standing Ovations sicherlich Antwort genug waren.
Revazov, Erster Solist im Hamburg Ballett, der sein choreografisches Können bereits mehrfach in den Veranstaltungen Junge Choreografen bewies, zeichnet auch für diesen Abend verantwortlich und weckt die Hoffnung auf ein baldiges, abendfüllendes Ballett. Denn schon mit dem ersten Stück, Britten Tanz, wird unter anderem sein Sinn für intelligente, platzsparende Lösungen und auch für subtile Spannung und ebensolchen Humor deutlich.

Requiem eine weitere am 14.4. nicht aufgeführte Produktion den Hamburger Kammerballets und Gästen ( u. a.: A. Riabko, S. Azzoni)


Drei der Musikerinnen sitzen schon weit vor Beginn des Stückes auf circa drei Meter hohen Podesten, Leiterstufen gibt es keine und auch eine der Tänzer*innen sitzt regungslos auf einem solchen Podium. Nach einem Prolog, in dem diese Anordnung eine humorvolle Rolle spielt, beginnt das Stück und zieht durch die Anmut der Tänzer und die von Revazov wunderbar in Bewegung umgesetzte Musik. Es stimmt, was im Programmheft steht, die Ensembletänze, Pas de Deux, Pas de Trois und Soli sind wie Momentaufnahmen aus einem Fotoalbum, das dramatische, romantische und auch komische Augenblicke festgehalten hat. Revazov, und besonders natürlich auch seinen Tänzern und Musikern, gelingt es abwechslungsreich und einfühlsam Bilder in die Köpfe des Publikums zu transportieren. Bilder, die neugierig machen auf den Rest der Geschichte(n). Sicher nicht nur aufgrund der eher beengten Bühne wird auf große Sprünge verzichtet. Die Bewegungen sind klein ohne beengt zu wirken, sondern eher intim und sehr intensiv.
Dann aber wieder gibt es fast komische Augenblicke. Ist es ein Kind, das auf den Boden sitzend ein rhythmisches Solo mit Händen und Füßen spielend „tanzt“? Und was steckt hinter den, ab und zu in belustigender Weise, im Hintergrund über die Bühne laufenden Tänzern? Und sind es nicht gerade diese, kunstvoll beinahe an Lächerlichkeit grenzenden Momente, durch die das Stück an Tiefe gewinnt? Ein Paradoxon? Ich finde nicht.


White Noise: „weißes Rauschen“ im Kopf nach Verlust und Leid

Dass das zweite Stück, White Noise, vom ersten Wabern des Bühnennebels bis zur letzten Pose der Tänzer*innen tiefbewegend war, steht außer Frage. Auch White Noise beginnt bereits bevor der erste Ton, das erste Rauschen erklingt. Stühle werden platziert, die Bühne gehört allein einer Tänzerin, man spürt Einsamkeit, Unsicherheit, Angst vor dem wie Donner grollenden Rauschen. Diese Stimmung bleibt das ganze Stück über erhalten. Wieder sind es Momentaufnahmen, doch dieses Mal sind es jene. die man nicht gerne in einem Album festhält, sondern am liebsten tief im Inneren begräbt, hoffend, sie zu vergessen, wissend , dass dies nie geschehen wird.
Da sitzen Frauen auf Stühlen unter denen Männer liegen, Männer, die samt der Stühle über die Bühne gleitend verschwinden wie im Krieg gestorbene Ehemänner/Brüder/Söhne. Das Rauschen wich Musik von Alexander McKenzie, bei dem sie speziell in Auftrag gegeben wurde. Wieder entsteht eine wunderbar berührende Symbiose zwischen der nun im Bühnenhintergrund gespielten Musik, Choreografie, Ausdruckskraft und Bewegungen der Agierenden. Da ist Sie, die sich an die schönen Momente mit Ihm erinnert. Oder auch das junge Mädchen, das die Eltern sterben sieht.
Vielleicht sehen und empfinden andere etwas anderes. Doch eines ist unumstößlich: auf künstlerisch beeindruckende Art und Weise werden hier schreckliche Ereignisse, traurige Erinnerungen nachdenklich machend und durch Tiefe und eine gewisse Schönheit beeindruckend, dargeboten,



Ein erster, siegreicher Schritt, dem noch viele folgen mögen

Fazit: Ein absolut gelungenes, zu Recht lange umjubeltes Debüt eines Ballettensembles das sicher noch viele erfolgreiche Aufführungen, vielleicht irgendwann sogar in einem eigenen Theater, vor sich hat. Es sei mir verziehen, dass ich die Namen der Tänzer*innen hier an dieser Stelle nur aufzähle: Kateryna Andrenko, Anna Solovei, Ihor Khomyshchak, Viktoriia Miroshyna, Anastasiia Ilnytska, Nikita Hodyna und Aleksandr Solovei bilden das feste Ensemble. Gäste waren/sind Oleksii Potiomkin und Olena Karandieieva Allesamt überzeugend durch präzise Leichtigkeit und technische Perfektion ebenso wie durch die Übermittlung von wahren Gefühlen berührend.
Die Musik Brittens und Mackenzies erweckten Asilia Garipova (1.Violine), Benas Gocentas (2.Violine), Lin Miao (Bratsche), Elisabeth Kogan (Cello), wie auch Maria Narodytska und Julia Voropaeva (beide Piano). mit viel Gefühl für Klang und Tänzer zum Leben.

Anfangs war es die Unsicherheit, nicht jedem Programmheftbild die richtige Person zuzuordnen, denn so wirklich sicher bin ich mir nur, dass Revazovs Kollege vom Hamburg Ballett Alexandre Riabko einen Gastauftritt in Britten Tanz hatte. Doch bald war der Grund ein anderer: an diesem speziellen Abend, in diesem besonderen Projekt geht es nicht um einzelne Personen sondern um Menschen, deren Liebe zum Tanz sich durch die dramatischen Ereignisse in ihrem Heimatland zwar verändert hat, doch ungebrochen geblieben ist. Das zeigten sie als Team, zu dem auch die Geschäftsführerin/Pressesprecherin Isabelle Rohlfs und der künstlerische Leiter Edvin Revazov gehören, mit viel Leidenschaft, Empathie und Können. Und das scheint, zumindest für den Moment, das Wichtigste.
Herzlichsten Dank! Большое спасибо! Bis bald! до скорой встречи!

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 14.4.2023

Links:
www.hamburger-kammerballett.de
https://www.youtube.com/@edvinrevazov2858/videos?view=0&sort=dd&shelf_id=0

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