Schon lange ist, zumindest an der Staatsoper Hamburg, die Zeit der Produktionen von Gaetano Donizettis Oper Lucia di Lammermoor vorbei, die klassisch im Schottland des 17. Jahrhunderts spielt. Regisseurin Amélie Niermeyer und ihrem Team ist eine äußerst eindrucksvolle Umsetzung des Stoffes um verbotene Liebe, Fehden, Zwangsheirat und Tod gelungen. Besonders Ana Durlovski in der Titelrolle und Oleksiy Palchykov, der in dieser Aufführungsserie kurzfristig für den ursprünglich vorgesehenen Pavol Breslik als Edgardo einsprang, entlockten dank ihrer darstellerischen und vor allem stimmlichen Leistungen langanhaltenden Jubel und Applaus.

Frauen: Wehrt euch gegen Zwang und Missbrauch!
Dies scheint mir die Hauptaussage von Niemeyer, Christian Schmidt (Bühne), Kirsten Dephoff (Kostüme), Jan Speckenbach (Video) und Dustin Klein (Choreografie) zu sein. Bei oberflächlicher Betrachtung geht es um eine schottische Variante des Romeo und Julia Themas. Nur, dass Lucia den ihr aufgezwungenen Gatten ermordet und, darüber wahnsinnig geworden, selbst stirbt, was Edgardo in den Freitod treibt. Gräber, Geister, Flüche und ähnliches sorgen oft dafür, die Geschichte als nicht mehr als ein romantisches Schauerstück zu sehen. Donizettis vielseitige, oft hochdramatische aber auch manchmal im Zusammenhang mit Handlung und Text durch ihre spielerisch leicht wirkende Komplexität fast ironisch anmutende Musik, nimmt von Anfang an gefangen und macht es nicht wirklich leicht, intensiv die Bedeutung der Geschichte zu hinterfragen. Zu schön ist es, einfach zu schwelgen, zu genießen, zu träumen.
Amelie Niemeyer allerdings macht uns vor Beginn der Oper durch Tänzerinnen, die den Text Un violador en tu camino (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) rezitieren, intelligent auf die Brisanz im Hintergrund aufmerksam. Diese Frauen tauchen per Video immer wieder auf, Lucias aus dem Hier und Jetzt, Kämpferinnen wie sie. Denn Niemeyers Lucia läuft während der Wahnsinnsarie nicht blutüberströmt und wahnsinnig über die Bühne. Sie leidet unter den sie tyrannisierenden Männern, allen voran ihrem Bruder, doch sie kämpft und bleibt auf ihre Art stark bis zum Schluss.

Figuren, die uns auf der Straße begegnen könnten
Bei mir zumindest hat Niemeyer erreicht, was für sie ( siehe making of video) der Sinn vom Theatermachen ist: Ich setze mich, dieses Mal allerdings ohne es hier näher auszuführen, mit dem Thema, das mir die Produktion offeriert, auseinander. Was nicht zuletzt aber auch an der dynamisch akzentreichen musikalischen Umsetzung von Donizettis anspruchsvoller Partitur durch das von Giampaolo Bisanti geleitete Philharmonisches Staatsorchester Hamburg. Auch der Chor der Hamburgischen Staatsoper beindruckte stimmlich aus Logen aus dem ersten und zweiten Rang, während Herren aus der Komparserie auf der Bühne agierten. Es hat immer noch etwas Besonderes, singt der Chor direkt aus dem Saal und doch, meinem Platz in der Mitte einer Reihe im Parkett geschuldet, hörte ich an einigen Forte-Stellen besonders im ersten Akt fast ausschließlich das Orchester und eben den Chor.
Aber insgesamt gesehen, tat dies den Leistungen und der Spannung auf der Bühne keinen wirklichen Abbruch. Joanna Piechowski, Gabriel Idavain und Jorre Wind spielen einfühlsam und authentisch Lucia, Enrico und Edgardo als Kinder vor der Fehde ihrer Familien. Die Herren der Komparserie, gesichtslos durch Masken, verkörpern, als aufeinander abgestimmter Bewegungschor, perfekt Mitglieder einer zivilen Armee von Bodyguards. Nicht zu vergessen Ks. Renate Spingler als Lucias Vertraute Alisa.
Auch er zeigte uns einen Widerling aus der Realität: Daniel Kluge als Normanno, den er mit schönem, gut geführtem Tenor und viel Empathie für Unsympathen charakterisierte. Wie schön, dass er in der kommenden Spielzeit als Steuermann in Richard Wagners Der fliegende Holländer zu hören sein wird.
Seungwoo Simon Yang, ab 2023/24 Ensemblemitglied der Staatsoper Hamburg, zeigt schon jetzt, noch Mitglied des Internationalen Opernstudios Hamburg, die Qualitäten eines Sängers von dem noch einiges erwartetn werden kann. Als Lucias aufgezwungener und von ihr ermordeter Gatte Lord Arturo Bucklaw gibt er einen arroganten Edelmann, der sich seines Wertes wohl bewusst ist. Sein Tenor klingt lyrisch aber kraftvoll und so wurde er bereits in seiner ersten Spielzeit als Ensemblemitglied unter anderem mit den Partien des Alfred aus Johann Strauß‘ Die Fledermaus und dem Nemorino aus Gaetano Donizettis Der Liebestrank betraut.
Raimondo Bidebent, der (geistliche) Erzieher Lucias, wird von George Andguladze mit wohltönendem, weichem Bass und einer Ausdruckskraft, die seine innere Zerrissenheit zeigt, bei der die Treue zum Familienoberhaut Lord Enrico Ashton ins Wanken gerät.

Diesen portraitiert Kartal Karagedik mit der gewohnten Intensität und Energie, die eine -rollenadäquate- Brutalität innehat, die sich neben weichen Tönen auch in seinem ausdrucksstarken und wandlungsfähigen Bariton zeigt. Enricos verzweifelte Entschlossenheit, sich und das Gut um jeden Preis, auch auf Kosten der Schwester, zu retten, stellt Karagedik auf jeder Ebene überzeugend dar.
Lange Zeit hielt ich Oleksiy Palchykov für einen der lyrischen Tenöre, deren Stimme perfekt zu Mozart passen oder auch als Conte in Giacchino Rossinis Der Barbier von Sevilla oder stimmlich ähnlich angelegte Partien. Spätestens jetzt als Edgardo bewies er, welche Kraft, welches Volumen in seinem Instrument steckt, prädestiniert, nicht sofort aber irgendwann, auch Partien zu singen, die ins Spintofach gehören. Auch sein Spiel zeugt von einer enormen Entwicklung. Es gelingt ihm, den Hass gegen Arturo und die Liebe zu Lucia durch seinen Gesang, sein Handeln im Liebesduett ohne sichtliche Anstrengung sichtbar zu machen, ebenso wie die traurige Resignation vor Edgardos Freitod.

Ana Durlovski gab, wenn ich mich nicht irre, in dieser Rolle am 24.2. 2023 ihr Hausdebüt an der Staatsoper Hamburg. Zumindest was die besuchte Vorstellung betrifft, komme ich um ein großartig mitreißend nicht herum. Stets ist sie präsent, selbst wenn sie im Hintergrund oder auf der oberen Ebene des Bühnenbildes agiert. Bis zum Schluss ist sie die Frau, die zwar an ihrer Situation leidet, aber nicht zerbricht. Oder besser, sie zerbricht bewusst und dennoch bis zum Ende kämpfend. Ihre Stimme hat einen ganz leichten metallenen Klang, der Lucias innere Stärke, die sie oft unterdrücken muss, unterstreicht. Die Wahnsinnszene zeigt durch die perfekten Koloraturen, ihre Fähigkeit nicht nur strahlend kraftvolle Höhen zu brillieren, doch auch durch sanfte schön gebundene Töne. Lucias Duett mit der Glasharmonika (Philipp Marguerre) verströmt eine tiefgehende Wärme.
Möge Ana Durlovski nicht zum letzten Mal hier an der Oper gefeiert wurden sein! Und damit beziehe ich mich nicht auf die noch ausstehende Aufführung am Freitag, den 10.3.2023 …
Fazit: Lange habe ich mich gescheut, mir diese Inszenierung, wie ich es bei mir nannte, „anzutun“. Nun freue ich mich sehr diese Produktion 2024 erneut erleben zu können. Unter anderem wieder mit Oleksey Palchikov, aber auch mit Ioan Hotea als Edgardo, Kartal Karedyk als Enrico sowie mit Emily Pogorelc und Tuuli Takala in der Titelrolle. Spannend, nicht nur des Erlebnisses wegen, neue Stimmen und Interpretationen kennenzulernen. Sondern auch aus der Neugier heraus, ob dann ebenso eine Begeisterung herrscht!
Links:
https://www.staatsoper-hamburg.de/
https://www.giampaolobisanti.com/
https://www.oleksiypalchykov.com
/http://www.renatespingler.de/