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Am 13. Juni 1886 ertrank Ludwig II von Bayern, bekannt als Märchenkönig, gemeinsam mit dem Arzt, der ihm wenige Tage zuvor „hochgradige Paranoia“ attestiert hatte, unter auch heute noch ungeklärten Umständen im Starnberger See. Schon 1976 machte John Neumeier Ludwig zum Protagonisten in seinem Ballett Illusionen -wie Schwanensee nach Peter Tschaikowskis Klassiker Schwanensee. Nun fand am 19.2.2023 die letzte Vorstellung einer Aufführungsserie mit drei unterschiedlichen Besetzungen statt, die jede – wie stets – Choreografie und Geschichte durch Können und Persönlichkeit, ihr ganz eigenes „Gewisses Etwas“ verleihen. Das gilt auch für Edvin Revazov als sehr in sich gekehrten König, Ida Praetorius als mädchenhaft liebende „Prinzessin Natalia“, Anna Laudere als ätherische „Odette“, Florian Pohl als des Königs Widersacher „Der Mann im Schatten“ und Matias Oberlin als des Königs Freund „Graf Alexander“.
Jubel und Standing Ovations waren vom ganz Ensemble wohlverdient.

Photo Credits: Kiran West
Von innerer Zerrissenheit statt Widersachern von Außen
Neumeier erzählt nicht einfach die Geschichte eines Prinzen, der für seine Liebe zu der, durch einen Zauberer in einen Schwan verwandelten, Prinzessin Odette mit ihr zusammen stirbt, sondern lässt uns die Geschichte eines im Ballett zwar namenlosen Königs erleben, der eben an Ludwig II. erinnert. Der König fühlt sich bei einer privaten Theateraufführung zu der Figur der Odette mehr hingezogen als zu seiner eigenen Verlobten. Und auch seinen Wunsch mit dem Schloss Neuschwanstein etwas einmaliges, nie dagewesenes zu schaffen, stellt er über die Realität, verfängt sich mehr und mehr in diesem inneren Kampf, ja Wahnsinn, der als „Mann im Schatten“ zu einem ewigen, erst am Ende akzeptierten, Verfolger und Gegner wird.
Das Ballett beginnt als das Ende schon nah ist und erzählt dann in Erinnerungen und Szenen das Hier und Jetzt, wie es zum Bruch mit Verlobter und Mutter und es somit zur Absetzung und Gefangennahme kam. In einem der schönsten Finale und eindrucksvollsten Pas de deux überhaupt, dann ergibt sich der König erst dem Wahn und dann dem Tod durch Ertrinken (siehe Titelbild).
Auch nach all den Jahren, haben Jürgen Roses Bühnenbilder und Kostüme nichts an ihrer Schönheit verloren. Rose hat einfach einen Sinn für Details und Farben ohne die Szenerie in welcher Art und Weise auch immer zu überfrachten, besonders schön auch die durch Spenden finanzierten neuen „Schwanenkleider“.

Freude an allen Tänzern dank guter Leistung und Musik
Tschaikowskis wunderbare Musik bewegt auch beim nur Hören: vom weltberühmten Schwanenthema, dem oft Dramatik verheißenden Leitmotiv des Stückes, über den niedlichen, wieder perfekt synchron dargebotenen Tanz der vier kleinen Schwäne bis hin zu den beiden Grand Pas de deux, dem Schwarzer Schwan-Pas de deux aus dem dritten Akt bis hin zu jenem im zweiten Akt, dessen Violin-Solo Joanna Kamenarska wunderbar gefühlvoll interpretierte. Umso bewunderungswerter, da die Empathie sich nicht allein auf die Musik, sondern auch auf die Tänzer beziehen muss, auch wenn dies in den Tempiangaben von Komponisten berücksichtig wurde. Aber auch Karmenarskas Kollegen vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Dirigent Nathan Brock sorgten für eine wunderbare Harmonie zwischen Graben und Bühne. Egal in welcher Szene, egal welche Emotionen im Vordergrund stehen: Leid, Verzweiflung, Liebe oder, wie besonders im Bild der Richtfestfeier, die Lebenslust des Volkes.

Groß und Klein tollt über die Bühne, es gibt Wettkämpfe und besonders er tut sein Bestes die Aufmerksamkeit des Königs zu erringen: der Sprecher der Zimmerleute, mit Tanz- und Spielfreude dargestellt von Aleix Martinez. Sonst eher der Mann für die Zerrissenen, Leidenden, sprühte er hier wirklich vor Fröhlichkeit und positiver Energie in jedem Sinne. Er, der sonst eher die Tragenden Rolle interpretiert, ist nur ein Beispiel dafür, dass in Hamburg auch erste Solist*innen einmal „kleinere Brötchen backen“, Gruppentänzer*innen im Gegenzug aber auch die Chance bekommen wichtige Partien zu tanzen. wie zum Beispiel Charlotte Larzelere. In dieser Vorstellung war sie als eleganter Großer Schwan zu bewundern, nur wenige Tage zuvor debütierte sie in der Partie der Prinzessin Natalie. Olivia Betteridge, ebenfalls Gruppentänzerin und dieses Mal der quirlige Schmetterling in der Tanzpantomime Schmetterlingsfang auf dem Maskenball zu sehen, verkörperte in einer anderen Besetzung dieser Serie Prinzessin Claire, die Verlobte vom Freund des Königs Graf Alexander.

Matias Oberlin zieht in dieser Partie alle Register: Ist sprunggewaltig, ein Sicherheit gebender Partner und drückt in Tanz, Mimik und Gestik seine Zuneigung und Sorge zum König , wie auch seine große Verliebtheit in Prinzessin Claire aus. Diese, getanzt von Xue Lin, die ich vor einigen Wochen noch als ätherische Fee/Rose in Dornröschen sah, wirkt hier leider sehr farblos und blass, zeigte technisch jedoch in ihren Soli, dem Liebes pas de deux und dem russischen Tanz auf dem Ball, gewohnte technische Versiertheit.
Die Liebende, der Schwan, der Schatten und der Visionär
Die Innigkeit, die sich trotz aller Kritik dennoch im Umgang miteinander bei Alexander und Claire zeigt, ist genau das, was sich Prinzessin Natalia für sich und den König wünscht. Ida Praetorius macht dies durch Blicke und Gesten überdeutlich, besonders rührend ist es, wenn sie sich ihm auf Spitze in kleinen Schritten nähert oder auch zurückweicht. Es gelingt Praetorius viel Leid in diese Bewegungen zu legen. Besonders in der Abschiedsszene macht sie, wenn sie sich dem König knieend rücklings die Arme nach ihm ausstreckend flehend darbietet, die Verzweiflung überdeutlich spürbar. Im davor stattfindenden Grand Pas de deux, wenn Natalia sich, gekleidet wie eine Schwanenprinzessin, am Ziel ihrer Wünsche glaubt, strahlt sie vor Glück und Selbstsicherheit. Dies zeigt sich auch in den Bewegungen, bisher grazil und weich, demonstrieren ihre Sprünge nun Stärke und die berühmten 32 Fouettés wurden bewunderungswürdig mit einer Präzision ausgeführt, die Praetorius fast an der Stelle verharren ließ an der sie sie begann. Sie ist wirklich eine zauberhafte Natalia, die tänzerisches Können und emotionalen Ausdruck wunderbar in sich vereint,

Photo Credits Kiran West
Dass Anna Laudere in der Partie der Schwanenprinzessin Odette den weltfremden König durch ihre ätherische Anmut sofort in Ihren Bann zieht, steht außer Frage. Besonders in dieser recht kurzen, doch so anspruchsvollen Partie können nur wenige Laudere das Wasser reichen Jede Bewegung von den Zehen bis in die Fingerspitzen ist Fließen und Leichtigkeit. Gleichzeitig umgibt sie in dieser Rolle etwas Überirdisches im Sinne von nicht fassbar und unwirklich. Sie ist ganz diese Märchengestalt und doch gleichzeitig auch die Tänzerin, die sich über die Aufmerksamkeit beim König erregt, wundert und die darum ehrerbietig knickst um sofort wieder Odette zu werden.
Florian Pohl ist als Der Mann im Schatten immer auf irgendeine Art und Weise anwesend. Sei es als immer wieder auftauchende Vision in den Szenen, die in der Realität spielen, als Zauberer Rotbart im Odette Akt, der sich am Ende dem König ebenso offenbart, wie es auf dem Ball der so fröhliche ausgelassene schwarze Clown tut. Pohl hat hier eine wirklich intensive Bühnenpräzens, die sicher auch aus dieser komplexen Partie selbst entsteht. Er überzeugt durch eine selbstverständliche Dominanz gepaart mit tänzerischer Eleganz. Nur als Schwarzer Clown beim Schmetterlingsfang und auf dem Ball im Hintergrund herumalbernd, zeigt er eine andere, unbekümmerte Seite. Mit fast unheimlicher Leichtigkeit wird er dann vom Spaßmacher für die Augen des Königs wieder zu dessen Bedrohung: Elegant, nicht greifbar und distanziert, bis er im letzten Pas de deux, das wirklich eher von Hingabe (der König) und Annahme (Der Mann im Schatten) kündet als von einem wahren Kampf, doch die Oberhand gewinnt. Pohl wirkt, hält er den in dem den See symbolisierenden Blauen Tuch eingewickelten König auf den Armen, äußerst eindrucksvoll. Scheint eher Retter denn Richter.

hoto Credits :Kiran West
Dieses nun schon mehrmals erwähnte wunderbare Final-Pas de deux ist für mich stets der Höhepunkt des Balletts und ich sehe diesem Moment stets mit mehr Erwartung entgegen, wie andere vielleicht den 32 Fouettés der Tänzerin. Aber so harmonisch und aussagekräftig dargeboten wie von Florian Pohl und Edvin Revazov geht er unter die Haut und erfüllt alle Hoffnungen auf ein faszinierendes Finale.
Doch nicht nur in diesem Finale bestach Revazov an diesem Abend. Er hat im letzten Jahr eine deutliche Entwicklung durchgemacht, was seine Ausstrahlung betrifft. Man glaubt ihm jede Begeisterung für sein Bauwerk. die Furcht vor der Mutter und deren Ehemann Leopold, die würdevoll von Patricia Friza und Félix Paquet dargestellt wurden, und auch all die anderen Emotionen, die er in verschiedenen Facetten präsentiert. Zu diesen gehört. zumindest im Richtfestakt, auch eine gewisse Verspieltheit, aber immer wieder dominiert diese tiefe Weltentrücktheit. Auch in seinem ersten Solo in eben diesem Akt, das den König intensiv charakterisiert. Auch tänzerisch fasziniert Revazov in diesem Solo, das eher langsame und auch anhaltende Bewegungsabläufe verlangt, ungemein. Doch auch die Schnelligkeit, die Sprünge im Grand Pas de Deux überzeugen. Und Odette, wie Claire. Laudere, wie Praetorius ist er ein verlässlicher Partner. Letztendlich jedoch ist es die positive Entwicklung in Ausdruck und Darstellung, die mich für ihn in dieser Partie einnimmt.
Fazit: Es war ein schöner Abend, der zwar die Erinnerung an in der Jugend erlebte Aufführungen und die damaligen Besetzungen wachrief, aber gleichzeitig auch Freude, Begeisterung und -nennen Sie es pathetisch-Dankbarkeit erweckte. Jahrzehnte später etwas ganz anderes aber auf keinen Fall weniger Schönes dargeboten zu bekommen. Dank an dieser Stelle auch speziell an all die ungenannt Gebliebenen!
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch: 19.3.2023