Opern- und Leben(s)gestalten

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Hamburg Ballett- Dornröschen: Ein wahrhaft fantastischer Traum

Titelbild: Madoka Sugai/Alessandro Frola/Xue Lin
Fotorechte:https://www.kiranwest.com/

Ja, die Überschrift ist unbedingt im doppelten Sinne zu verstehen: John Neumeier lässt die Tänzer seines Hamburg Balletts Tschaikowskis Dornröschen als einen fantastischen Traum von Liebe, Sehnsucht und – ja -Gefahren erzählen. Zusammen mit Tschaikowskis Musik, die schon beim bloßen Hören Bilder malt und die Geschichte bereits erzählt, wird daraus hier und da, was ich als „romantischen Thriller“ bezeichnen möchten.
Zweitens überzeugten Madoka Sugai in der Titelrolle und Alessandro Frola als ihr Prinz Désiré bei ihrem in diesen Partien mit ihrer fantastischen Leistung nicht nur auf ganzer Linie, sondern sie ließen das Publikum zusammen mit ihren Kollegen einen traumhaft schönen Abend erleben.

Alessandro Frola, Madoka Sugai
Photo Credits: Kiran West

Zwei kontrastreiche Zeitebenen – eine weiterhin gültige Sicht

Dornröschen regt schon als Kinder- und Hausmärchen aus der Feder der Gebrüder Grimm die unterschiedlichsten Personen(gruppen) zu den unterschiedlichsten Interpretationen und künstlerischen Umsetzungen an. Und auch die Choreografen von Tschaikowskis Werk halten sich nicht mehr allein an eine werkgetreue Umsetzung. Schon im Jahr 1978 schwelgte nicht nur ich in der Geschichte des in Jeans gekleideten Prinzen Désiré (was ja in etwa der Ersehnte/Erwünschte bedeutet), der sich mit Hilfe einer guten Fee in die 100 Jahre zurückliegende Welt Dornröschens träumt. Er erlebt ihre Geburt, Taufe und ihr Erwachsenwerden, leidet darunter, dass er sieht wie die Böse Fee und deren Helfer negativen Einfluss auf Auroras Schicksal nehmen wollen.

Am Ende, im Finale, wurde er, wie in Ekstase tanzend regelrecht ins Hier und Jetzt zurückgeschleudert und fand seine schlafende Schöne auf einer Bank sitzend.
Schon damals ging es (auch bei Details auf der Stückseite zu lesen) Neumeier auch darum, zwei verschiedene Tanzepochen miteinander zu verbinden: Einmal die ganz klassische von Marius Petipas choreografierte Dornröschens und dann die von Désiré und Neumeier.

Alessandro Frola, Xue Lin
Photo Credits: Kiran West

Für die Neufassung von 2021 intensivierte Neumeier die Kontraste der (choreografischen) Zeitebenen, die, wie er sagt, eine gültige Sicht auf den Klassiker Dornröschen bieten.
Désiré, in einem Gewitter von seinen Freunden getrennt, findet eine Rose, die er an sich nimmt. Ich empfinde sie als eine Art Kompass, ein Symbol von und für die Gute Fee, deren Figur nun aber Die Rose heißt. So wie die Böse Fee nun Der Dorn heißt, wie der Teil der Rose und des Schönen, der Schmerzen verursachen kann.
Désiré trägt diese Blume fast immer bei sich. Nur einmal, nach einem extra eingefügten Pas de deux mit der Rose und anschließendem Solo. lässt er sie auf einer Bank liegen. Hier findet die Aurora der Vergangenheit sie und spürt von da an ebenfalls eine Verbindung zu etwas/ einem Unbekannten. Sie sucht ihn während des Rosenadagios zwischen ihren Freiern, spürt ihn intensiv, kann von ihm bei einer Hebung berührt werden, findet ihn jedoch nicht.

Die moderne Aurora taucht nun nicht mehr erst am Ende auf der Bank schlafend auf, sondern auch sie irrt, noch bevor Désiré und seine Freunde auftauchen, durch den Wald und die Rose macht Désiré immer wieder auf sie aufmerksam, wie es scheint, ohne dass die heutige Aurora es bemerkt. Mir scheint dies wie eine Botschaft an Désiré von der Rose: „Die Aurora in dieser, vergangenen Welt, ist das Seelenbild jener, die du in deiner Welt treffen wirst.“
So ist es nicht verwunderlich, dass der Prinz in der Hochzeitsszene seine Jeans wieder trägt. Mag das Grand Pas de deux auch oberflächlich gesehen noch mehr an Eleganz gewinnen, trügen beide festliches Weiß, so ist es doch folgerichtig: Désiré bleibt seinem modernen Ich treu, weiß, dass dies nicht wirklich seine Welt ist.

Alessandro Frola, Madoka Sugai
Photo Credits : Kiran West

„Symbiose“ von Musik(ern) und Tanz(enden)

Schon zu Beginn nannte ich diese Aufführung einen romantischen Thriller. Warum? Weil Tschaikowskis Musik besonders da, wo der Dorn samt Dornengestalten auftaucht, vor Spannung geradezu vibriert. Sei es zu Beginn, wenn sie unbemerkt der heutigen Aurora zu folgen scheinen. Oder wenn sie nach der Taufe das Baby aus dem Bett nehmen, zum Entsetzen von Désiré, der sehen aber nicht eingreifen kann, oder auch im Rosenadagio, wenn der Dorn, als sehr fremdartig-geheimnisvoll sein Gesicht verbergender Prinz, vergeblich versucht Aurora seine blutrote Rose zu überreichen. Es gibt noch unzählige Beispiele bei denen Musik und Choreografie gemeinsam wirklich Hochspannung erzeugen. Manchmal aber gar mit ironischen Zügen, wenn der Dorn das Baby zu einer fast fröhlichen Melodie wiegt, bevor die Gefahr wieder hör- und spürbar wird.
Dank des Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Markus Lehtinen kamen diese Details, kam dieses Zusammenspiel perfekt zur Geltung. Besonders aber auch dank der Solisten des Orchesters : Thomas.C.Wolf (Violine), Gerd Grätschei (Viola) und Olivia Jeremias (Violoncello), die die unterschiedlichen Szenen mehr als nur begleiten.

Einfühlsame Perfektion – Tosender Applaus

Wie stets kleidet Jürgen Rose alle Beteiligten in einfach wunderbare Roben, in Taufe und Hochzeit tragen die Gäste sehr stilvolle Kleider in Pastellfarben bzw. faszinierenden Rottönen. Und nur die Tänzer*innen des Triumph der Morgenröte bei der Taufe und von Armors Segen bei der Hochzeit tragen Kostüme, die nach heutigem Geschmack leicht an Kitsch denken lassen, aber genau zu der verwendeten traditionellen Choreografie Petipas passen. Die Tänzer selbst waren es jedoch, die den Hauptanteil an dem Gelingen dieser wunderbaren Vorstellung hatten, die für zu kurze drei Stunden traumhafte Freude vor Vernunft und Realität stellte.

Nicht nur die Protagonisten sorgten für hochkarätigen Genuss, schon die Freunde des Prinzen, zogen allesamt durch ihr tänzerisches Können, wie auch ihr fast akrobatisches Spielen von Trunkenheit in den Bann und überzeugten im Laufe des Stückes auch in anderen Partien. So zum Beispiel Francesco Cortese als sprunggewaltiger Reichtum im Hochzeitsdivertimento Armors Segen, einem Pas de trois, bei dem auch seine Begleiterinnen Giorgia Gianni als reizender Frohsinn und Ana Torrequebrada als energiegeladener Mut unter anderem durch Leichtigkeit in den Schrittkombinationen glänzten.

Auch die Feen in Triumph der Morgenröte bei der Taufe bewiesen einmal mehr tänzerische Perfektion und Präzision auch in traditionellen Choreografien: Hayley Page als eleganter Abendstern, Charlotte Larzelere als feuriger Merkur, Ana Torrequebrada als leichtfüßig sanfter Mond, Emilie Mazon als quirlig fröhliche Sternschnuppe, Yun-Su Park als kraftvoll sprungstarker Mars und dann Ida Praetorius als würdevolle, Ruhe ausstrahlende Morgenröte. Wie später auch beim berühmten Der Blaue Vogel-Pas de deux, das sie mit viel Charme, Esprit und technischer Mühelosigkeit absolvierte, begleitete sie Christopher Evans.

Evans verkörperte an diesem Abend den exzentrischen Hoftanzmeister Catalabutte. Er besticht durch sein komisch dramatisches Talent ebenso wie durch seine hohen weiten Sprünge, die ihm keinerlei Anstrengung zu kosten scheinen. Einfach herrlich sein Umgang mit den heranwachsenden Auroras Suni Wang (sechsjährig) und Ria Takeuchi (elfjährig) und überhaupt seine Exaltiertheit. In seiner Der Blaue Vogel-Variation allerdings, hier nun der einzige klitzekleine Kritikpunkt am Orchester, schien das Tempo ihn daran zu hintern seine Sprungkraft voll und ganz zu zeigen. Doch, wie gesagt, ist dies das „aber“, das die hohe Qualität von Evans und auch des gesamten Abends unterstreicht und glaubwürdig macht.

Mitte: Madoka Sugai, rechts: Alexandr Trusch. oben: Alessandro Frola
Photo Credits : Kiran West

Edvin Revazov und Anna Laudere gaben ein elegantes, zärtlich ihr langersehntes Töchterchen liebendes Königspaar und selbst in dieser, eher kleinen, Partie kann ich nicht anders als die wunderbar weichen Port des bras und die schönen Hände von Anna Laudere zu erwähnen.

Matias Oberlin lehrte als Dorn nicht nur auf mitreißend-dramatische Weise Aurora das Fürchten, seine Bühnenpräsenz besticht im gleichen Maße wie auch seine Sprünge samt Gespür für Spannung im körperlichen wie auch dramaturgischen Sinne. Borja Bermudez, Nicolas Gläsmann und Artem Prokopchuk als Dornengestalten unterstreichen und unterstützen durch ihr tänzerisches Können diese Ausstrahlung und Wirkung noch,

Sie ist der Ruhepol, der Anker im Sturm der Widrigkeiten des (Traum) Lebens: Xue Lin als Rose. Ihre Anmut hat etwas wahrhaft feengleiches, auch ihre Port des Bras sind besonders weich. Hebungen, Sprünge, komplizierte Schrittkombinationen, alles verbindet sie mit einer sanften, eben beruhigenden Ausstrahlung.

Wer würde sich ihrer Führung nicht anvertrauen? Alessandro Frola tut dies ohne Frage, sein Désiré findet schnell mehr Halt und Sinn in der Welt, die ihm durch die Rose offenbart wird, als bei seinen lautlärmenden Freunden. Auffällig die Intensität, mit der er sich erst gegen den Sog in die andere Welt wehrt, sich ihr dann aber ganz hingibt, mit Freude und auch Schrecken beobachtend was mit Aurora geschieht. Schön auch die Innigkeit beim Pas de deux, mit der gerade erwachten noch etwas scheuen Aurora. Das ekstatische Finale, das ihn wieder zurück bringt in seine eigene Welt, gestaltete er mit einer Vehemenz und Energie, die einige Zuschauer*ìnnen noch während der Darbietung zu bewunderten Lauten verleitete. Die Sprünge bei der Variation des Prinzen im Grand Pas de deux wünsche ich mir vielleicht irgendwann, wenn er in dieser Rolle etwas mehr Erfahrung hat, ein klein wenig höher. Doch ist auch dies Meckern auf aller höchsten Niveau, denn Frola bot eine wirklich ausgezeichnete Leistung.

Bleibt noch sie, Madoka Sugai. Um zu beschreiben, wie sie die Rolle der Aurora tanzte, reicht im Grunde genommen ein Wort: Perfekt!
Okay, ich betone immer wieder gerne, dass Perfektion ein wenig von Stagnation hat, doch – hier das dritte „Aber“ – auf Sugais Leistung trifft das ganz und gar nicht zu. Ich bin überzeugt, dass sie, wie auch bei ihrer „Sylvia“, immer wieder kleine Änderungen in Ausdruck und Ausstrahlung vornehmen wird, so dass man nie müde wird sie auf der Bühne zu erleben. Und tänzerisch? Ihr Rosenadagio war, um es lax zu sagen: „Der reine Wahnsinn„. Diese Sicherheit in der Balance, die Anmut, die Sprünge… Alles stimmte einfach voll und ganz. Dieses Stück ist durch die Länge, durch die Anforderungen der Choreografie, sicher das Schwierigste an dieser Partie und so wundert es sicher nicht, dass auch alle anderen Soli, Szenen und Pas de deuxs unter die Haut gingen und gleichzeitig staunend lächeln ließen. Ich kann nur wiederholen, auch wenn mich eine kleine aber ganz leise Stimme unprofessionell nennt: Wahnsinn! Perfekt!

Fazit: Der wieder so langen Rede, kurzer Sinn: Ein wunderschön traumhafter Abend und dem langanhaltenden Jubel, samt Standing Ovation, möchte ich hier noch ein intensives „Braaavo“ hinzufügen.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 03.02.2023

Link:
https://www.hamburgballett.de/

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