Opern- und Leben(s)gestalten

Nomen ist nicht immer Omen, oft reicht er nicht allein, da hinter kann noch viel mehr „wohnen“! Kommt! Schaut doch einfach rein!

Staatsoper Hamburg – La Bohème: Das Leben so bitter, die Musik so süß

Die schlechten Kritiken nach der Uraufführung am Teatro Regio in Turin (1896) unter der Leitung von Arturo Toscanini verhinderten den immer noch andauernden Welterfolg von Giacomo Puccinis Oper La Boheme. Auch das Publikum der Staatsoper Hamburg bei der ersten Aufführung der neuesten Aufführungsserie (3.,7.,13.,15.,17, u 20.1.2023) konnte sich der Geschichte von Rudolfo und Mimi, Marcello und Musetta und Colline, wie auch Schaunard, vor allem aber nicht der, manchmal angenehm süßlichen doch immer dramatischen, Wirkung der Musik nicht entziehen. Regisseur Guy Joosten und seinem Team gelang 2006 eine berührende und doch zeitlos realistische Interpretation des Librettos von Luigi Illica. Auch bei ihrem dritten Debüt in dieser Saison bewies Elbenita Kajtazi, ihre besondere Fähigkeit als Sänger-Darstellerin. Doch allen Beteiligten gelang durch Stimme und Spiel die Figuren zum Leben zu erwecken, überzeugend, authentisch und bewegend und vollkommen zu Recht lange und intensiv umjubelt.

Das Leben so bitter, die Musik so süß

Giacomo Puccini versteht es wie kein Zweiter mit seinen Geschichten, die Elemente des Verismo enthalten, da sie von „normalen“ Menschen und ihren Problemen handeln, den Zuhörer in die Irre zu führen und somit die emotionale Wirkung zu verstärken. Seine Musik geht tief unter die Haut; dank wirklich genialer Akkordkombinationen, Tempi und seiner Instrumentalisierung verströmen seine Melodien eine Melancholie, der eine gewisse Süße aber auch viel Dramatik innewohnt. Sie klingt nach Liebe, Sehnsucht und persönlichem Leid und doch geht es in Puccinis Oper auch immer um allgemein gültigere Themen. Wie leicht ist es doch, an nichts anderes als die Zärtlichkeit in Rudolfos Stimme zu denken, bei seinem Che gelida manina, als an beginnende Liebe und das vordergründig poetische Selbstbekenntnis? Und wie leicht ist es dann, am Ende Rudolfo in seinem ganz persönlichen Leid versinken zu sehen. Doch gleichzeitig, mehr oder weniger subtil, lässt uns Puccini von Anfang an hören, fühlen und sehen, dass es um mehr geht: Hier zum Beispiel unter anderem um Gegensätze wie Wohlstand und Armut und die Folgen, die letztere besonders für Kranke haben kann.

Photo Credits: Hans Jörg Michel (frühere Aufführungsserie)

Keine Musik, kein Lärm, keine Bohème

Regisseur Guy Joosten, Bühnenbildner, Johannes Leiacker. Kostümbildner Jorge Jara und Davy Cunningham (Licht) ist bereits 2006 eine Produktion gelungen, die auf zu viel sentimentale Romantik verzichtet und doch oder gerade durch ihren zeitlosen Realitätsbezug tief berührt.
Keine Musik, kein Lärm, keine Bohème lautet die Schrift auf dem Vorhangprospekt zu den ersten beiden Akten. Der erste Akt spielt im Inneren eines Wohnhauses in einem nicht allzu wohlhabenden Stadt(rand)gebiet und gibt den Blick frei auf verschiedene Wohnungen und deren Bewohner, die alle eine unbestimmte Einsamkeit samt der damit verbundenen Abwesenheit von Lärm umgibt. Das gilt auch für Mimi, die Anfangs alleine über der einzigen Wohnung wohnt, aus der die Töne der Freundschaft erklingen: der Wohngemeinschaft der vier Freunde Rudolfo. Marcello, Schaunard und Colline.

Das zweite Bild zeigt das Café Momus, das einem Restaurant einer unbenannten Diner-Imbiss-Kette ähnelt, mit Eventecke in Form eines Riesenweihnachtsmannes und einiger Jongleure. Hier gibt es eine lärmende Menge und zum Schluss auch Musik durch einen Spielmannszug.
Im ersten Teil sind es Rudolfo, der Dichter, Marcello. der Maler, Schaunard, der Musiker und Colline, der Philosoph, die der Armut und den Unbilden des Lebens scherzend trotzen. Als Mimi, die mädchenhaft verträumte Nachbarin, unter einem Vorwand klopft, bringt sie die Wärme und das Licht der Liebe in ihre und Rudolfos Welt und ist auch von Anfang an ein Teil der eingeschworenen Gemeinschaft. Nun bilden diese fünf eine Art Insel der Ruhe und Stabilität in mitten der nach Konsum strebenden Menge. Bis dann Musetta mit dem reichen Alcindoro auftaucht, den sie im wahrsten Sinne des Wortes am Gängelband führt. Doch auch sie ist nicht nur materialistisch und auf Luxus eingestellt, sondern will auch Marcello zurück, der den Kampf gegen seine Liebe (gerne) verliert. Musetta vervollständigt schließlich die auch charakterlich so bunte Gemeinschaft.

Photo Credits: Hans Jörg Michel (frühere Aufführungsserie)

Fröhliches, schreckliches Leben

Auch dem dritten und vierten Akt hat Joosten einen Übertitel gegeben: Fröhliches, schreckliches Leben. Die Szenerie zeigt nun die Kehrseite der Lebensfreude. Ein riesiger, schiefer Schneemann steht auf dem Hinterhof eines Etablissements aus dem Rotlichtmilieu. Hier tummeln sich die, die am Rande der Gesellschaft und vielleicht auch der Legalität stehen, werden von Gesetzeshütern verjagt.

Hier machen die Damen des Etablissements Pause, hier merken Rudolfo und Mimi, dass sie sich einfach (noch) nicht endgültig trennen können, obwohl Rudolfo unter Mimis unübersehbar schwerer Krankheit leidet, da diese sie so quält, und sein Kummer ihr Leid noch verstärkt. Gleichzeitig trennen sich erneut die anderen beiden Liebenden Musetta/Marcello und ihr Streit spricht auch musikalisch von Lebendigkeit und Vitalität, wo bei Mimi und Rudolfo das Ende schon sanft zu erahnen/ erhören ist. Das unausweichliche Ende Mimis, und in dieser Produktion in gewisser Weise der engen Freundschaft, findet dann in jenem, nun fast Abriss bereiten, Haus aus den ersten Akt, statt. Entromantisiert, denn zwar scheinen Marcello und Musetta sich wieder gefunden zu haben. Doch die anderen stehen alle allein in verschiedenen Räume.

Photo Credits: Hans Jörg Michel (frühere Aufführungsserie)

Figuren – mit Künstlerleidenschaft zum Leben erweckt

Paolo Arrivabeni leitet das Philharmonische Staatsorchester mit Gespür für die Besonderheiten von Puccinis Partitur, ihre Wirkung und die Sänger. Seine Interpretation mag anders sein als die von Sir Thomas Beecham, die mich mein Leben lang begleitete und mein Ohr und Empfinden für eine ganz bestimmte Dynamik, bestimmte Effekte schulte. Egal bei welcher anderen Aufnahme oder welchem Dirigenten am Pult, ein Teil in mir vergleicht immer. Ganz automatisch, unbewusst und später wird mir dann klar wie spannend doch nicht nur immer andere Darsteller, sondern auch andere Dirigenten sind. Wie sehr sie zusammen mit den Orchester ausmachen, was uns wie berührt, wie begeistert. Sämtliche Darsteller auf der Bühne, inklusive des Chors der Hamburgischen Staatsoper und der Alsterspatzen, begeisterten auch am 03.01.2023 durch Spielfreude, Lebendigkeit und Gesang.

David Minseok Kang als Hauswirt Benoit war der typische selbstgerechte Kleingeist, der ganz unter dem Pantoffel seiner Ehefrau steht, die hier stumm und doch sehr energisch wirkend mitspielt. Ein weiterer kleiner doch wichtiger Einfall der Regie von der -für mich- namenlosen Darstellerin gut umgesetzt.

Photo Credits: Hans Jörg Michel (frühere Aufführungsserie)

Der junge südkoreanische Bass Han Kim macht aus dem kurzen Auftritt des Alcindoro ein kleines Kabinettstückchen und man weiß nicht so recht, soll man ihn nun bedauern, ob der Art wie Musetta ihn behandelt, oder doch einfach nur belächeln, wenn ihm am Ende das Freundessextett auch noch über den Tisch zieht und mit der Rechnung sitzen lässt.

Sie stehen zwar nicht so im Mittelpunkt wie Rudolfo/ Mimi und Marcello/Musetta aber doch sind sie so wichtig für die Geschichte, auch die zwischen den Zeilen: Schaunard und Colline. Der Bass- Bariton Chao Deng verleiht Schaunard eine ganz besondere Quirrligkeit, die einem armen Musiker gut ansteht, der auch Armut zusammen mit den Freunden humorvoll-ironisch mit angenehmer Stimme und übermütigem Tanz zelebriert.

Hubert Kowalczyk, ehemaliges Mitglied des Internationalen Opernstudios Hamburg, gab sein Debüt als in sich gekehrter, tiefsinniger Philosoph Colline und beeindruckt besonders mit dessen Arie Vecchia zimarra, senti. Sein Bass hat eine warme, wunderschöne Wärme und Fülle und durch seine Gestik gelingt es Kowalczyk deutlich zu machen. dass es um mehr geht als um den Verkauf eines Mantels um Musetta und damit den Freunden Geld zu geben. Es ist ein Abschied vom bisherigen Leben.

Photo Credits: Hans Jörg Michel (frühere Aufführungsserie)

Katharina Konradi, nach langer Abwesenheit von der Bühne der Staatsoper wieder zurück, macht schon mit dem ersten Lacher hinter der Bühne klar, dass Musetta voller Energie, Lebenslust und Entschlossenheit ist. Dieser Eindruck von natürlicher Koketterie unter der ein weiches Herz schlägt, setzt sich bei ihrem Quando m’en vò  fort. Herrlich auch ihr Ausbruch im dritten Akt, wenn Musetta sich gegen Marcellos Eifersucht wehrt, berührend ihre Sorge und Ernsthaftigkeit im letzten Bild. Stimmlich hat Konradi nichts von der Strahlkraft und Leichtigkeit, besonders auch in den Höhen, verloren. Im Gegenteil, ihre Stimme scheint an Fülle gewonnen zu haben.

Kartal Karagedik zeigt als Marcello ein Mal mehr seine Affinität und auch sein Geschick für wie aus dem Leben gegriffenen Rollen, wie zuletzt sein bemerkenswerter Dottore Malatesta in Donizettis Don Pasquale. Er ist einfach ein wunderbarer Sänger-Darsteller, der alle Facetten des Charakters Marcellos mühelos und authentisch beherrscht, auch mit seinem gutgeführten, kraftvoll ausdrucksvollen Bariton. Mit viel Schmelz und Gefühl in der Stimme nimmt er sich im dritten Bild der verzweifelten Mimi an, um gleich darauf energisch mit seiner Musetta zu streiten. Er und Katarina Konradi ergänzen so das Duett von Mimi/Rudolfo Dunque: È Proprio Finita! auf eine Art und Weise, die die andere tragische Seite einer Liebe zeigt und so diese ergreifende Szene vervollkommnen.

Elbenita Kajtazi
Photo Credits: Staatsoper Hamburg

Schon in Bizets Carmen waren sie ein unglückliches Paar: Tomislav Mužek und Elbenita Kajtazi. Damals gab er den regiebedingt eher tumben Don José und sie die, ebenfalls dank der Regie, recht kokette Micaela. Als Rudolfo ist Muzek alles andere als tumb, er ist der verträumte Dichter, immer ein wenig lebensfremd aber stets liebenswürdig zum Scherzen mit den Freunden bereit. Vor allem aber auch fähig, zu lieben und mit der Geliebten mit zu leiden. Dabei überschreitet Muzek nie die Grenze zur Übertreibung, die statt Ergriffenheit Peinlichkeit hinterlassen kann. Sein Che gelida manina singt er mit zartem Schmelz, wie auch mit sicheren strahlenden Höhen und seine Duette mit Elbenita Kajtazi: O soave fanciulla, Dunque: È Proprio Finita! oder seine Szenen mit ihr mit letzten Akt weisen ihn als Tenor aus, der seine schöne Stimme gefühlvoll einzusetzen weiß und hier und da emotionale Klangbilder mit ihr malt.

Sie ist eine wahre Meisterin im stimmlichen Malen von Klangbildern und besitzt die Fähigkeit den Eindruck zu vermitteln, sie lebe die Partien die sie singt: Elbenita Kajtazi. Ihre Mimi ist einfach bezaubernd und verspielt. Und das bereits bevor sie an die Tür ihrer Nachbarn klopft, denn das Bühnenbild erlaubt von Anfang an einen Blick in das kleine behagliche Reich der Näherin. Es ist ja immer so eine Sache wenn ein Künstler mit der Darstellung einer oder mehrerer Rollen extrem beeindruckte. Die Erwartungen -zumindest meine oft- steigen und steigen und …
Vielleicht lag es daran, dass der Funke der vorbehaltslosen Begeisterung anfangs ausblieb. Ihr Sì, mi chiamano Mimì verwandelte Töne und Worte in Bilder vor dem inneren Auge. Ja, sie zog wie immer mit wunderschön klarem Sopran in ihren Bann, ebenso wie mit ihrer schüchternen Koketterie beim Schlussduett des ersten Aktes. Und auch im zweiten Akt, der ja eher dem Großen Ganzen oder Marcello und Musetta gewidmet ist, überzeugte sie als frisch verliebte und über Menschenmenge und Atmosphäre staunende junge Frau. Doch erst im dritten Bild, dann mit dem ersten Huster, erreichte sie stimmlich und darstellerisch höchstes Niveau und entfaltete jenen Zauber, der nur wenigen gegeben ist, immer wieder zu Tränen rührt und den sie sich durch klugen, verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Gabe hoffentlich noch viele Jahre erhält. Brava!

Elbenita Kajtazi
Photo Credits: Staatsoper Hamburg

Fazit: La Bohème ist mit Sicherheit, die einzige Oper, für die ich – bislang – ungefähr 13 Personen brauchte um an deren Händen meine Besuche des Stückes abzuzählen. Die Qualität der Aufführungen mache ich nicht nur daran fest, wie sehr es Musikern und Darstellern gelang die ergreifenden Melodien Puccinis so zu spielen, dass sie mehr als nur schön klingen, sondern wirklich einen tiefen Nerv treffen. Dass dies hier der Fall war, beweist Ihnen sicher auch die Ausführlichkeit meines Textes und bewies den Ausführenden am Ende der Vorstellung der tosende Applaus.
Birgit Kleinfeld. (Vorstellungsbesuch,03.01.2023)

Links:
https://www.staatsoper-hamburg.de/
https://blog.staatsoper-hamburg.de/das-ist-zum-sterben-la-boheme-legt-den-finger-in-die-wunde/
https://de.wikipedia.org/wiki/La_Boh%C3%A8me
https://elbenitakajtazi.com/
https://www.katharina-konradi.com/
http://www.tomislavmuzek.com/
https://chaodengbassbariton.org/2016/04/06/lebenslauf/

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