Titelbild: Madoka Sugai (links in Rot). Borja Bermudez (Mitte), Ensemble
Photo Credits Kiran West
E.T. A. Hoffmanns vor mehr als 200 Jahren (1816) erschienenes Kunstmärchen Nussknacker und Mäusekönig wurde durch die zum Libretto/Theaterstück umgeschriebene Version von Alexandre Dumas d.Ä. Die Geschichte des Nussknackers mit der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowski zu einem der bekanntesten klassischen Ballette. Es gehört zum Weihnachtsspielplan vieler Theater/Opernhäuser weltweit.
So auch an der Staatsoper Hamburg, getanzt vom Hamburg Ballett John Neumeier. Olivia Betteridge (Marie), Madoka Sugai (Louise) and Louis Musin (Fritz), gaben nach ihren Auftritten in der Schülervorstellung am Nachmittag des 21.12.2022 ihre offiziellen Debüts und verzauberten zusammen mit Borja Bermudez (Drosselmeier) und Christopher Evans (Günther) junge wie junggebliebene Zuschauer*innen. Zumindest bin ich davon völlig überzeugt… Wenngleich eine – ich nenne es mal „höhere Macht“- mich in letzter Minute davon ab hielt, mich selbst zu überzeugen. Dennoch kann ich nicht anders, als einige neutrale Zeilen zu diesem Stück zu verfassen, das trotz der gut 48 Jahre, die es auf seinem romantisch-verzaubernden „Buckel“ hat, nichts von seiner Frische verloren hat.

Photo Credits : Kiran West
Zum Geburtstag: Nussknacker, Spitzenschuhe und mehr
Anders als jene Choreografen, die sich an der Hoffmannschen Geschichte orientieren, gab John Neumeier dem Ballett eine neue Geschichte, ganz ohne tanzende Mäuse. Seine Interpretation erzählt von erster Liebesschwärmerei, vom Erwachsenwerden und vor allem von der Liebe zum klassischen Tanz. Es geht, so Neumeier, um den Abschied von der Kindheit, um jenen „zierlichen“ Übergang, wenn man aufhört, Kind zu sein und noch nicht erwachsen ist.
Hoffmann zeichnete in seinem Werk Portraits der Kinder seines Freundes Julius Eduard Hitzig. Clara, Friedrich und Eugenie, und nannte sie Marie, Fritz und Louise. Neumeier lässt diese drei in seinem Ballett erneut zum Leben erwecken, macht sie zusammen mit dem schmucken Kadetten Günther und dem exzentrischen Ballettmeister Drosselmeier zu Protagonisten.
Wie alle Werke Hoffmanns ist auch sein Märchen von Nussknacker und Mäusekönig, mehr als nur eine fantastische, manchmal unheimliche Geschichte. Ja, auf den zweiten Blick gibt es so manche „harte Nuss zu knacken“, Bilder und Metaphern zu entschlüsseln, unzählige Wege der Interpretation.

Neumeier konzentriert sich ganz auf die Entwicklung der weiblichen Hauptfigur Marie. es ist ihr 12.Geburtstag der gefeiert wird. Als Geschenke erhält sie ein Puppentheater, einen Nussknacker, dessen Holzuniform der von Günther, dem Verehrer ihrer Schwester Louise, gleicht, einer Ballerina, die der kleinen Schwester die ersten Spitzenschuhe schenkt.
Neben der Familie gibt es zwei besondere Gäste, einmal eben jenen Günther, der auch ein Freund von Maries Bruder Fritz, einem Kadetten, ist und Drosselmeier, hier kein Erfinder sondern Louises Ballettmeister.
Ein Traum, der auch nach dem Erwachen bleibt?
Von beiden Gästen träumt Marie, der eine erwacht in der Figur des Nussknackers, aber auch als Tänzer aus Louises Compagnie. Der andere bleibt ganz er selbst: der strenge, in sich selbst, aber noch mehr in die Kunstform Ballett verliebte Tanzlehrer. Er lässt Marie im Traum bei einer Probe und später auch an einer Aufführung zuschauen. Und nicht nur das, sie darf auch aktiv daran teilnehmen.
Am Ende erwacht sie, geht, den hölzernen Nussknacker im Arm, die Treppe hinauf während Drosselmeier ihr aufmunternd nachschaut.

Photo Credits: Kiran West
Kostüme und Bühnenbilder erschuf Jürgen Rose, bekannt für sein Geschick Atmosphäre und Welten auch ohne zu viel Pomp zu schaffen. Er verzaubert und lässt uns gleichzeitig wissen, was das Wichtige ist: Die getanzte Geschichte, die Kunst der Tänzer, die durch ihr Können, aber auch durch Roses Kostüme, zu den Figuren werden, die sie darstellen. Roses Kostüme passen zu den Charakteren jeder Figur, Neumeiers Choreografie und seine Compagnie jedoch hauchen ihnen Leben ein, so dass wir gemeinsam mit Marie träumen können.
Die Unvergänglichkeit von Melodien und Tänzen
Wie in den meisten klassischen Balletten gibt es auch in Neumeiers Nussknacker einen Weißen Akt, jedoch nicht mit Schwänen oder anderen Zauberwesen, sondern als Tanzstunde, als Probe, wie sie zu Tschaikowskys Zeiten an den Theatern stattgefunden haben mag. Marie darf strenges, von Drosselmeier geleitetes, Training beobachten und sogar ein Pas de deux mit ihrem Schwarm Günther ist ihr erlaubt, wirklich erwachen tut ihre Ehrfurcht vor dem klassischen Ballett jedoch erst, als sie ihre Schwester Louise und Drosselmeier beobachtet.
Das letzte Bild dann, das Divertimento, ist angelegt als ein Theateraufführung während einer Theatervorstellung. Wir werden entführt in die bunte Vielfalt der Welt. Dies ist der Akt in dem auch jene, die keine namentliche Rolle in diesem Stück haben, zum Zuge kommen, in dem sie Melodien interpretieren, die wir alle, wirklich alle kennen: Blumenwalzer, Tanz der Rohrflöten, Arabischer Tanz oder auch den Tanz der Harlekine. Dann gibt es auch noch all die Melodien und Tänze, die den Protagonisten hier zugeteilt sind. Wie zum Beispiel der Trepak, der Marsch in dem Maries Bruder Fritz und seine Freunde mit fast waghalsiger Akrobatik begeistern, den Tanz der Zuckerfee, ein ganz bezaubernd zartes Solo für Marie selbst, die dann auch zusammen mit Drosselmeier einen kurzen, frechen Tanz aufführen darf. Kurz vor dem Höhepunkt des Balletts, dem Grand Pas de deux, natürlich getanzt von Günther und Louise.
Es sind Bilder von Perfektion und Anmut, die die Aufführung in der Aufführung beenden und Marie, wie vielleicht auch uns Zuschauer*innen, langsam zurückkehren lassen ins Hier und Jetzt.

Altes schätzend, doch voller Begeisterung für Neues
Wann immer ich ein Ballett sehe, das ich schon aus der Jugend kenne, kehren auch Bilder zurück von jenen, deren Kunst ich damals bewunderte. Als Drosselmeier durfte ich Ausnahmetänzer Max Midinet, der viel zu früh verstarb, mehr als ein Mal erleben und seine Interpretation hat sich als Ideal eingeprägt, das auch nach all den Jahren kaum verblasst ist. ABER ist es nicht unser Hang zum Vergleich, der uns die Freude am Genuss von dem gibt, was anders und neu ist? Erlauben Sie mir ein flapsiges Hamburger: „Jo“ als Antwort und die Versicherung, dass ich Ihnen so gerne aus erster Hand berichtet hätte, auf welche Art und Weise Olivia Betteridge, Madoka Sugai, Borja Bermudez, Christopher Evans und Louis Musin die Zuschauer*innen für sich einnahmen und überzeugten.
Die beiden Ersten Solist*ìnnen Madoka Sugai und Christopher Evans, die Louise und Günther verkörperten, überzeugten schon in unzähligen Partien mit tänzerischer Präzision und großer Ausstrahlung. Bei Evans kommt mir da sofort sein von Aschenbach aus Neumeiers Kreation Tod in Venedig oder seine Dreifachrolle als Eros/Thyrsis/Orion in Sylvia in den Sinn.
Sugai bezaubert in jeder Partie mit Charisma, Sprungkraft und Anmut. Besonders ihre Sylvia geht immer wieder tief unter die Haut, da es ihr mühelos gelingt, die Entwicklung und Veränderung einer Nymphe glaubhaft zu machen. Ihr Erfolg bei ihrem Debüt als Louise, scheint mir zu 100% garantiert. Doch die Enttäuschung, nicht dabei gewesen zu sein, wechselt sich ab mit der Vorfreude darauf, sie bald in dieser Partie zu erleben.
Die beiden anderen Debütanten dieses Abends, Olivia Betterridge als Marie und Louis Musin als Fritz wie auch Borja Bermudez, stehen dafür, dass Titel wie Erste/r Solist/Solistin eine wunderbare Anerkennung sind, aber keine Voraussetzung dafür mit Hauptrollen betreut zu werden, denn alle drei sind – noch?- „nur“ Gruppentänzer.
Über Olivia Betteridge, die am 21.12. dem Tag ihres Schulaufführungs-Debüts ihren 23.Geburtstag feierte, kann ich leider nur sagen, dass ich mich sehr auf sie gefreit hatte. Ja, sicher habe ich sie schon oft inmitten in ihrer Ensemblekolleg*innen gesehen oder gar bewundert. Doch wie gerne hätte ich ihr mehr und ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt. Das muss nun leider warten, doch allein schon die Bilder von Kiran West, versprechen, die Ausstrahlung einer Marie, wie sie sein soll: verspielt und zauberhaft natürlich.
Aus eingangs erwähnten Gründen war ich auf Borja Bermudez‚ Drosselmeier am neugierigsten, hat er doch eine sehr jugendliche Ausstrahlung/Erscheinung. Gerne erinnere ich mich an seinen Wolf B. aus Liliom, der mich sehr berührte.
Auch er glänzte in Liliom: Louis Musin, und zwar in der Rolle des Louis und erst vor Kurzem verursachte der 20 Jährige als Ein junger Soldat in John Neumeiers neuestem Ballett Dona Nobis Pacem durch seine Intensität, Gänsehaut und Hochachtung für seine Leistung.
Gestern, da bin ich sicher, habe ich eine schöne Aufführung eines schönen Balletts verpasst, doch darüber zu schreiben erweckte dennoch etwas von der Atmosphäre und dem Zauber von Stück und Musik.
Birgit Kleinfeld
Links:
https://www.hamburgballett.de/
https://www.hamburgballett.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=183759
https://www.kiranwest.com/
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