Lasst mich euch eine Geschichte erzählen, die Bilder in euch entstehen lässt! Oder ist es vielleicht eher so, dass ich euch ein Bild beschreibe, das euch eine Geschichte sehen lässt? Schaut! Lauscht, lest! Entscheidet selbst!
„Welch schönen Anblick bietet doch dieser helle Raum mit dem Fußboden aus weißem, schwarz geädertem Marmor und all seinen geheimnisvollen Gegensätzen. Sanft fällt das Licht der orange–goldenen Abendsonne durch zwei große Fenster rechts und links im Hintergrund. Der Wind weht Gardinen sanft hin und her, wie eine Meeresbrise die See, zur der hinunter die von weißen, schmalen Häusern umrahmte Straße, die durch die Fenster zu sehen ist, führt.
Links im Vordergrund steht ein runder Tisch an dem der Zahn der Zeit schon lange nagte, wie Mäuse an altem Holz, steht da, wie bewacht von zwei sich gegen überstehenden Holzstühlen, seinen langjährigen, einst weißen, nun ergrauten Gefährten, trägt seine Last mit der Würde des Alters: Zwei leere Gläser, von denen das eine untrüglich beweist: aus ihm trank eine Frau. Eine Frau deren Lippen blutrot geschminkt waren, so blutrot, wie der Inhalt der Flasche in der Mitte des Tisches einst gewesen war. Nun liegt sie da die Flasche, am Halse hängen ihr ein paar letzte Tropfen, die einen kleinen See bilden auf der Vergrößerung der Fotografie eines attraktiven ganz ins gemeinsame Glück versunkenen Paars: Ein junger Mann mit blonden kurzen Haaren hält voller Besitzerstolz eine Frau im Arm, deren Haarfarbe einem Tizian Gemälde entliehen scheint und deren Verliebtheit und Hingabe für jeden, der auch nur einen kurzen Blick auf dieses Foto wirft, unübersehbar ist, ebenso wie das süße Geheimnis, das sie augenscheinlich nahe an ihrem Herzen wachsend, in sich trägt.
Unter dem Tisch, eine kleine Familienidylle. Denn dort säugt eine weißgraue Katze ihre drei Jungen: ein schwarzes, ein grau getigertes und ein weißes. Das weiße Kätzchen liegt nicht direkt an den Zitzen der Mutter, sondern hinter ihrem Rücken und beugt sich von dort gierig hinunter zur Quelle seiner Nahrung.
Auf der Fensterbank des links-seitigen Fensters prangt in einer Flasche, ähnlich der auf dem Tisch, eine rote Rose. Einzelne Blätter liegen auf dem Fensterbrett, auch sie erinnernd an Wein oder Blut. An der Wand zwischen den beiden Fenstern hängt in einem kostbar wirkenden, glänzenden Rahmen das Werk eines begabten Malers.
Es ist kein Portrait, eher eine Momentaufnahme der Frau auf der Fotografie und zeigt diese nackt von hinten vor einem Spiegel, die flammende Mähne ihres Haars mit beiden Händen im Nacken am Hinterkopf zu einem Zopf haltend. Ihr Körper ist schlank und makellos, ihr Bauch, wie ihr Gesicht mit den geschlossenen Augen und dem halbgeöffneten Mund im Spiegel zu sehen, hier ohne jegliche Wölbung. Von den zierlichen Schulterblättern fast bis hinab zum Steiß reichende, tätowierte Flügel vermitteln auf Grund ihrer in Details verliebten Darstellung den Eindruck, sie würde sich jeden Moment einem dunklen Engel gleich in Sphären erheben, die keine Augen sehen, aber jede willige Seele umso intensiver zu erspüren vermag….
Die Bildmitte beherrscht ein mahagoniglänzender Konzertflügel. Auf ihm steht ein weiteres Bild unseres geheimnisvollen Tizian-Engels, dieses Mal in einem Hochzeitskleid, dessen Rot so tief ist, dass es Schattierungen aufwirft die eher dem stumpfen Schwarz der Trauer, als der leuchtenden Farbe der Liebe gleichen. Das Blumenbukett, das sie in Händen hält, ist von dem gleichen strahlenden Weiß wie ihr Lächeln und der Smoking des Mannes an ihrer Seite, der ein anderer ist als der auf dem mit Wein befleckten Foto. Dieser hier hat dunkle Haare, er ersetzt fehlende Jugendlichkeit durch den Charme elegant selbstbewusster Männlichkeit, seine Art sie im Arm zu halten ist die eines Beschützers, nicht eines Besitzers. Seine Ausstrahlung zeugt von intellektuellem, der tropfenförmige Rubin des Ringes am kleinen Finger seiner rechten Hand von materiellem Reichtum.
Vor dem Flügel befindet sich eine mit dunkelrotem Samt bezogene Klavierbank, auf der achtlos über sie geworfene Kleidungsstücke liegen. Weitere Kleidungsstücke: eine Hose, ein Hemd, eine Krawatte, Männerschuhe und Damen High heels wie auch ein weißes, durchscheinendes, schulterfreies Kleid mit weichfließendem glockenartigen Rock säumen den Weg zu rechten Seite des Bildes
Hier neben dem rechten Fenster sieht der Betrachter eine Tür. Durch ihre Milchglasscheibe fällt fahles Licht. Es ist kreisrundes Licht, das von der Mitte aus zu strahlen scheint – das Licht einer Kerze in einem abgedunkelten Raum. Ein BH aus roter Spitze, der zwischen Tür und Rahmen auf dem Boden liegt, ist ein weiterer Beweis für die Vorliebe der geheimnisvollen Frau für die Farbe der Leidenschaft. Die Tür ist weit genug geöffnet um den Blick auf das Fußende eines schmiedeeisernen Bettes freizugeben: Ein helles Laken ist halb heruntergerissen und scheint Schlieren und Flecken von dunkler Farbe aufzuweisen, die auf Grund der nur sanften Lichtquelle nicht wirklich auszumachen ist. Ein schlanker, schlaff herunterhängender Frauenarm und einige Lockensträhnen sind ebenfalls im Halbdunkel auf dem Bett auszumachen
Vor dem Bett eine Lache, die bis knapp an die Schwelle zum diesseitigen Raum verläuft, in ihr ein länglicher Gegenstand, der auf den ersten Blick wie ein exotisches, die Lust unterstützendes Liebesspielzeug wirkt, auf den zweiten jedoch als Springmesser erkennbar ist.
Am Fenster, dem Meer zugewandt, steht ein Mann, nackt bis auf ein um die muskulösen Hüften geschlungenes, weißes Handtuch, das knapp über der rechten Gesäßhälfte ebenfalls Schlieren aufweist. Schlieren wie sie hastig abgewischte Finger hinterlassen. Schlieren, deren Farbe ein leicht ins Braun gehendes Rot ist. Seine Hand mit dem Rubinring, der sanft im Abendrot schimmert, ruht auf einem weiteren Mitglied der Katzenfamilie, das auf der Fensterbank zu schlummern scheint, inmitten von nicht mehr ganz unversehrten Rosenblüten. Die linke Hand des Mannes, dessen dunkle Haare von Silberfäden durchzogen sind und dessen goldbraune Haut feucht scheint, hält er aus dem geöffneten Fenster. Ihre Haltung zeugt davon, dass er etwas aus dem Fenster fallen ließ.
Unten auf der leicht abschüssigen Straße vor dem Haus gegenüber, so ist durch die Fenster zu sehen, spielt ein kleines Mädchen mit sich allein das Hüpfspiel „Himmel & Hölle“. Verträumt schaut sie nach oben. Beobachtet, wie ein weißer Seidenschal sanft auf sie hernieder schwebt, blutigen Engelsflügeln gleich, denn aus ihm heraus fallen heile und zerdrückte Blätter roter Rosen. Landen zu ihren Füßen, verfangen sich in ihrem blonden Haar.
Das war sie meine Geschichte, die viele Bilder birgt, meine Beschreibung eines Bildes, das wie jedes eine Geschichte in sich trägt, die wir entdecken, nehmen wir uns nur die Zeit und Muße es zu wollen.
© Leonie Lucas, 2010( für die, die es noch nicht wissen, mein Pseudonym für eigene(fiktive)Texte