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Nomen ist nicht immer Omen, oft reicht er nicht allein, da hinter kann noch viel mehr „wohnen“! Kommt! Schaut doch einfach rein!

Hamburg Ballett: Dona Nobis Pacem!

Titelbild: Pasen-Foto-Proketion von Louis Musin

Dona Nobis Pacem!/Gib uns Frieden! Eine Bitte, die nicht nur zu der ursprünglichen Bedeutung der momentanen Adventszeit passt, wenn auch subtil. Denn ein friedliches Miteinander, ohne zu verdrängen, was wir Menschen uns vor allem mit Kriegen antun, ist doch ein schönes, leider hehres Ziel.
Schon vor jenem 24.2.2022, der die Gefahr des Schreckgespenstes Krieg in greibare Nähe rückte, hatte John Neumeier sich für den Titel Dona Nobis Pacem für sein neustes Ballett entschieden. Am 4.12.2022 hatte das bewegende, von Johann Sebastian Bachs H-moll Messe inspirierte Stück seine lange und ausgiebig bejubelte Uraufführung an der Staatsoper Hamburg.

Foto Credits alle Fotos: Kiran West

Wie andere Künste hat der Tanz …

… jede Katastrophe überlebt, die die Welt gesehen hat. Dieses Zitat von Lincoln Kirstein von 1942 aus dem Programmheft des Hamburg Balletts, attestiert dieser Kunstform eine instinktive Existenz, nennt ihn Antwort auf eine blinde Notwendgikeit, die sich in fast grotesker Weise über all die beängstigenden Bedingungen menschlichen Überlebens hinwegsetzt.

Diese beeindruckenden Worte beschreiben die Aussage(kraft) von Neumeiers Dona Nobis Pacem besser als es jede Inhaltsangabe könnte, lassen sie doch viel Raum für ganz eigene Empfindungen und Gedanken. Und wie gewohnt bieten uns Neumeier, sein Ensemble, Sänger, Chor und Musiker viel zum Sehen, Fühlen, Erkennen, Hören.
Wie auch auf die Musik von Bach, ist es nötig, sich 150 Minuten lang einzulassen auf Ästetik, die mehr will als nur zu gefallen oder aus der Realität zu entführen. Im Gegenteil, diese choreografischen Szenen, wie das Günter Jena gewidmete Ballett im Untertitel heißt, zeigt erschreckende Wahrheiten, erinnert unter anderem an Hiroshima, ist aber auch getragen von Hoffnung auf -ein wenig- mehr Frieden und Hoffnung.

M. Sugai (? Junge Frau). A. Martinez (ER), L. Giesenberg (Fotograf)
Foto Credits alle Fotos: Kiran West

Im Mittelpunkt steht ER, getanzt von dem einfach in Technik, Kondition und Ausdruck mehr als überragenden Spanier Aleix Martinez. Martinez glänzt wie stets durch eine Köperbeherrschung, die weit über bloße Bewegung hinausgeht, sondern, mag dies nun auch pathetisch klingen, die Seele offenbart und -ja- freilegt. Vielleicht weigere ich mich darum , die Rolle ER allein mit Christus gleichzusetzen. Ja, dass es sich um Musik aus dem Sakralbereich handelt, dass es als Engel bzw. Geistliche bezeichnete Rollen gibt, wie auch die Großbuchstaben im Namen, deuten darauf hin, dass mit ER wirklich ER gemeint ist. Und dennoch, ist es wirklich so ein Unterschied, wenn Martinez für mich persönlich das Bewusstsein, Gewissen und Gefühlsleben von uns Menschen, egal ob männlich oder weiblich, verkörpert? Er hält uns mit seiner Kunst, seiner Intensität einen Spiegel vor, lässt uns uns selbst, unsere Ängste wiedererkennen. Denn wer kennt es nicht, dieses in der Bewegung innehalten, den Mund mit der Hand verschliessend, dieses sich zumindest innerlich Winden, die Hand suchend ausstrecken oder Ähnliches? Man fühl mit ihm, weil man durch ihn sich selbst fühlt. Irgendwie. Darum, auch wenn ich mich wiederholt wiederhole: Hochachtung, Applaus und Chapeau für diese Leistung. Die sich auch in Gesten zeigt, wie dem Einsammeln und sich regelrecht festhalten an all den Bildern, die aus einem Koffer auf die Bühne rieseln oder flattern. Und noch so vielem mehr.

Aleix Martinez (ER)
Foto Credits alle Fotos: Kiran West

Doch wer der Unbekannte einmal war, weiß keiner ….

Aber es ist ein anderer junger Tänzer, der gleich zu Beginn, noch bevor die Musik beginnt, anrührt und in Bewegung, wie auch Mimik, Verzweiflung und Angst ausdrückt: Louis Musin, als unbekannter, viel zu jung zum Töten verpflichteter Soldat. Den gesamten ersten Teil hindurch steht er, mehr noch als die Kindersoldaten, die ab und an neben den erwachsenen Soldaten über die Bühne marschieren, exemplarisch für all die, die betroffen sind von der gewissenlosen Rücksichtslosigkeit der Kriegstreibenden. Auch Musil überzeugt und bewegt, wenn hier auch mehr durch Gestik und eindringliches Spiel, als, wie sonst, durch sein tänzerisches Können. Wie schön, dass er am 26.12. sein Debüt als Fritz in Der Nussknacker gibt und sich dort dann wieder lebensbejahend und fröhlich zeigen darf.

Auch seine Rolle ist hier eher die eines Darstellers als die eines Tänzers: Lennard Giesenberg gibt den Fotografen aber auch den Kommentator. So rezitiert er einfühlsam Auszüge aus dem Gedicht „De Profundis“ von Jean Marc Bernard, Der Schatten von Günter Kunert, aus dessen Werk der Titel zu diesem Abschnitt ist, und nicht zuletzt John Lennons berühmt-berührendes Imagine. Giesenberg bewies bereits im Sommer in Die Unsichbaren, dem Stück mit dem das Bundesjugendballett die diesjährigen Balletttage eröffnete, seine sprecherischen Fähigkeiten. Als Fotograf steht er eher für die verantwortungsvollen Vertreter der Presse, wirkt empatisch, nicht sensationslüsternd.

Lennard Giesenberg (Der Fotograf), Lous Musin
Foto Credits alle Fotos: Kiran West

Diese eher dramaturgisch-dramatischen als tänzerischen Ideen werden noch durch das überlebensgroße Foto des leblosen Musin, das die ganze Pause hindurch sichtbar ist, verstärkt. Dann ist da noch Anna Laudere, die als eine Witwe den Solaten (Musin) fast zärtlich mit ihrem Mantel zudeckt oder unauffällig, doch nicht unbeachtet, am Bühnenrand sitzend augenscheinlich in einer heiligen Schrift, welcher Religion auch immer, liest.

Aber auch durch etwas, dass ich mit der Zäsur in Gedichten vergleichen möchte. So erscheint Dirigent Holger Speck zu Beginn der Vorstellung erst wenn Musin, verschreckt und schutzbedürftig wirkend, am linken Bühnenrand kauert. Der Holger Speck empfangende Applaus unterbricht, wie auch die zwischen den Sätzen ab und zu neu zu stimmende Instrumente, den Fluß der Spannung und erhöht sie damit gleichzeitig, eben wie ein in seinem Rhythmus unterbrochenes Gedicht.

Zu dem von Giesenberg rezierten Gedicht Der Schatten gibt es eine visuell-tänzerische Interpretation, dargeboten von Alessandro Frola. Fast immer agiert er hinter einer Videowand als Schatten mit einem Körpereinsatz, der sich nicht von bewusster Umsetzung der vorgeschriebenen Bewegungen nährt, sondern tief aus dem Bauch direkt in die Muskeln, Sehnen und Gliedmaßen fließt. Ein kurzer, umso eindrucksvollerer, Auftritt.

Alessandro Frola (Der Schatten)
Foto Credits alle Fotos: Kiran West


Imagine all the people …

Ja, imagine all the people…, alle noch ungenannten Tänzer durch die dieses Ballett erst lebt und wirkt. Eigentlich haben alle 60 es verdient erwähnt zu werden, sind doch Neumeiers sinfonische Ballette stets Ensembleleistungen. Es wäre für mich unvorstellbar, ein Ballett mit der h-Moll-Messe mit einer anderen Compagnie als meiner eigenen zu erarbeiten, sagt Neumeier und es ist unübersehbar, dass hier zum einen auf unumstößlicher Vertrauensbasis gearbeitet wurde und zum anderen auch, dass er auf Altes zurückgreift, das er mit dieser Compagnie, vielleicht in etwas anderer Besetzung, erarbeitete. So erinnern einige Szenen in ihrer Dynamik an Bachs Mathäus Passion. Das leichtfüßige Solo von Alexandr Trusch im zweiten Teil lässt mich an das unschuldige Einheit austrahlende Solo des Josephs aus Josephslegende von Richard Strauss denken. Trusch strahlt hier Hoffnung und eben Leichtigkeit aus und noch nie ist mir aufgefallen, wie weich und rund seine Port de bras manchmal sind.

Wunderschön auch der Pas de deux zwischen Jacopo Bellussi und Ida Praetorius. Ida Praetorius scheint zwar nicht aus der Rolle der Aurora aus Dornröschen, mit der sie ihren Einstand in der Compagnie gab, heraus gewachsen zu sein, wächst aber mehr und mehr über sich hinaus. Egal ob in jenem (be)sinnlichen Pas de deux mit Bellussi oder den Szenen mit Martinez, Christopher Evans oder ihren Kolleginnen wie Madoka Sugai, Ida Stempelmann, Patrizia Frizza, Yaiza Coll und vielen mehr.

Ida Praetorius, Jacobo Bellussi
Foto Credits alle Fotos: Kiran West

Ja, so viele und vieles ist noch des Erzählens und Beachtetwerdens wert, allein die Gedanken und Emotionen schwirren in hier und da noch zu entwickelnder Gedankenchoreografie. Sie verlangen einfach danach, sich all den Eindrücken erneut zu widmen, wie auch den dank Marie-Sophie Pollak, Katja Pieweck, Benno Schachtner, Julian Prégardien, Konstantin Ingenpass, Vocalensemble Rastatt und Ensemble Resonanz wunderschönen Klängen .

Darum soll es nun -zumindest für dieses Mal- genügen zu betonen, dass nicht nur Hauptdarsteller Aleix Martinez den fast frenetischen Applaus und die Standing Ovations verdient hat, sondern jeder auf der Bühne und im Graben.
Danke also an alle, auch für die Abschlusszene, die auch dadurch, dass alle barfüßig tanzten, eine Hoffnung und Ausgeglichenheit verprechende Einfacheit im positivsten Sinne verbreitete.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 4.12.2022

Ensemble
Foto Credits alle Fotos: Kiran West

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