Wer kennt sie nicht, Goethes Geschichte vom Gelehrten Doktor Faustus, seinem Wunsch nach ewiger Jugend und lustvollen Leben, den der Teufel in Gestalt von Méphistophélès gerne gewährt. Gering, so sagt der Höllenfürst, sei der Preis. „Hier oben“ diene er Faust, „dort unten“ Faust ihm. Ganze 60 Jahre seines Lebens lang arbeitete Johann Wolfgang Goethe immer wieder an seinem Werk über die Sehnsüchte und Abgründe der Menschen, das wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, fast täglich auf die eine oder andere Art ´zitieren. Doch – und das ist des Pudels Kern – nicht nur die Zitate, auch die Zeitlosigkeit und die Wahrhaftigkeit des Inhalts machen den Faust so ergiebig, für Schule, neuere Literatur, Theater, Film und natürlich Oper.
Momentan findet eine Aufführungsserie der Oper Faust oder auch Marguerite von Charles Gounod an der Staatsoper Hamburg statt. Mit dem tschechischem Tenor Pavel Černoch in der Titelrolle. Im zur Seite stehen Olga Peretyatko, die am 9.11. hier in Hamburg ihr Rollendebüt als Marguerite gab und der Adam Palka, dem mit seiner Darstellung des Méphistophélès ein Hausdebüt gelang, das noch auf viele weitere Engagements an der Staatsoper hoffen lässt.
Das Publikum am 20.11. feierte alle drei und auch Alexander Joel und das Philharmonische Staatsorchester begeisterten.

Charles Gounod, schon als junger Mann fasziniert von Goethes Faust, verwendete für seine Oper jedoch nur die Liebesgeschichte zwischen Faust und Marguerite und auch Méphistophélès, den „Geist, der stets verneint“ und „die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Mithilfe von unsterblichen Melodien, wie das „Rondo vom goldenen Kalb“, der „Faust-Walzer“ oder Valentins melancholischer Arie „Avant de quitter ces lieux“, die uns fast ebenso beständig begleiten wie Goethe-Zitate, erzählt Gounod die Geschichte von Verliebtheit, Verführung, Verzweiflung, Verurteilung und letztlich Erlösung. Er lässt uns schwelgen, leiden und auch entrückt lächeln mit einer Leichtigkeit und einem Charme, wie sie besonders den französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts zu eigen waren. So wundert es nicht, dass sich Faust, spätestens seit der Uraufführung der veränderten Fassung in Paris am 3. März 1869, großer Beliebtheit erfreut.
In der besuchten Vorstellung gelang es Alexander Joel zu beweisen, dass diese Beliebtheit auch heute noch zu Recht besteht, Er führte das, im wahrsten Sinne des Wortes, harmonisch schön klingende Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit Verve, Feingefühl und setzte schon in der Ouvertüre Akzente, die mitrissen und berührten und später die vielschichtige Gefühlslage aller Protagonisten klar übermittelten.

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„Allwissend bin ich nicht; doch viel ist mir bewusst“ (Goethe)
Aber, gelang es auch Regisseur Andreas Homoki, und seinem Bühnen-und Kostümbildner Wolfgang Gussmann ebenfalls, Aussage von Libretto und vor allem Musik gut und verständlich umzusetzen? So meldet sich meine zwiegespaltene Seele, denn die Produktion von Homoki und Gussmann aus dem Jahr 2011 bietet weder viel Gefühlsseligkeit noch ein Übermaß an Provokation. Jene, die Tradionelles dem Regietheater vorziehen, wurden sicherlich enttäuscht, denn das Bühnenbild ist eher schlicht. Vorn, rechts und links der Bühne, befinden sich zwei Türen, durch die die Protagonisten, besonders Méphistophélès, oft auf der einen Seite abgehen, um wenige Takte später auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Ansonsten dominieren zwei schwarze halbrunde, bühnenhohe Elemente den Spielbereich, die Spiral-ähnlich ineinandergreifen.
Durch ihr Verschieben wird die bespielbare Bühne vergrößert, so dass ein überdimensionaler, manchmal von ebensolchen Blumentöpfen, mit rosa Tulpen umgebener, weißlackierter Stuhl sichtbar wird. Anfangs steht er aufrecht und beheimatet Marguerite oder eine Porzellan- oder Stoffpuppe, die ihr nachempfunden ist. Später ist er umgekippt, die Blumentöpfe liegen oder stehen leer da. Am Ende dann gibt es mehrere Stühle, die als der Scheiterhaufen dienen, von dem die Kindsmörderin Marguerite errettet wird. Dies kann der Zuschauer interpretieren oder einfach annehmen als ungewöhnliches Bühnenbildelement.

Dass Homoki und Gussmann Maguerite, ihre Unschuld und Jugend zu dem goldenen Kalb machen, nach dem jederman(n) strebt, zeigt sich im Rondo „Le veau d’or“ besonders deutlich, denn da vergehen sich die jungen Männer an dem riesigen Marguerite-Dummie aus Stoff, während Méphistophélès im Takt wie ein Puppenspieler an unsichtbaren Fäden zieht. Dies ist die einzig wirklich provokante Szene, ansonsten plätschert die Inszenierung, nicht unangenehm, vor sich hin: Die Personenführung der Protagonisten wird den Charakteren gerecht. Auch wird deutlich, dass Méphistophélès das Spiegelbild, das Alterego, von Faust sein soll. Der Chor bildet, wie so oft üblich, eine homogene, eintönige Menge. Alle in Schwarz wie Schulkinder zur Zeit der Stummfilmzeit gekleidet, die Gesichter hinter Porzellanpuppenmasken verborgen. Einzig die Hauptfiguren Faust, Méphistophélès, Marguerite, Valentin und Sibel zeigen ihr wahres Gesicht, um es dann wieder vor der Gesellschaft zu verhüllen.

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„Was glänzt ist für den Augenblick geboren. Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren.“ (Goethe)
Méphistophélès ist dennoch immer er selbst, immer echt. Abgesehen von den beiden kurzen Momenten bei seinem ersten Auftritt und ganz am Ende, wenn er Faust fast bis aufs Haar ähnelt.
Adam Palka ist nicht nur optisch ein Méphistophélès wie er im Buche steht: groß, schlank, charismatisch und oft auch selbstironisch humorvoll. Wie zum Beispiel in der Szene mit Renate Spingler als Marthe Schwertlein. Spingler amüsiert und bezaubert das Publikum durch ihre verschroben fröhliche Art, mit der sie Méphistophélès umgarnt, wie auch mit ihrem tiefen Mezzo, der sie auch für so manche Altpartie qualifiziert. Ein kleiner aber feiner Auftritt.
Palka hat aber nicht nur eine große Palette schauspielerischer Möglichkeiten zur Verfügung, sondern einen ebenso großen, variablen und wunderschönen Bass. Er ist einfach der perfekte teuflische Bad Boy. der in der Kirchenszene stimmgewaltig nicht nur Margerite das Fürchten lehrt, sondern auch sonst sein Organ gut geführt und mal schmeichelnd, mal beschwörend einzusetzen weiß. Und dann dieses herrlich dämonische Lachen, das tief aus dem Bauch zu kommen scheint! Wunderbar!

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Alles andere als furchteinflößend, doch herzerweichend und -erfrischen natürlich ist Mezzosopranistin Kady Evanyshyn. Ihre Siebel besticht daneben durch ihre klare Stimme, die mit jedem Ton von unerschütterlicher Liebe spricht
Auch Alexey Bogdanchikov als Valentin beeindruckt. Er, der über eine Baritonstimme mit einschmeichelndem Timbre verfügt, weiß dieses Geschenk, wie er bereits besonders als Posa und auch als Eugen Onegin oder zuletzt auch als von Brétigny in Massenets Manon unter Beweis stellte, gepaart mit immer intensiver werdender Spielfreude, auch als Valentin wunderbar zu nutzen .
„Gefühl ist alles. Name ist Schall und Rauch.“ (Goethe)
Pavel Černoch hat einen klaren, metallenen Tenor, dem es an dem gewissen tenoralen Schmelz, wie auch an strahlenden Höhen manchmal fehlt. Besonders in den letzten beiden Akten stehlen ihm Palka und Peretyatko zumindest stimmlich die Schau.
Was seinen Gesang angeht, trifft das Zitat „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“, den Eindruck den er hinterließ, ziemlich genau. Schauspielerisch jedoch überzeugt er zu hundert Prozent.

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Olga Peretyatko hat in dieser Besetzung sicher den „größten“ und bekanntesten Namen, doch um eine Brücke zu der Überschrift zu diesem Abschnitt zu schlagen: sie überzeugte auch, wäre ihr Name noch unbekannt, einfach durch ihre Leistung. Ihr Sopran scheint keinen Ton zu hoch, kein Übergang zu schwer. Alles klingt leicht und strahlend. Und scheint sie zu Anfang noch das eher leere Püppchen zu sein, als das Marguerite hier gekleidet und dargestellt ist, straft sie nach der Pause jeden Lügen, dem es ein wenig an wahrem Gefühl fehlt. Denn spätestens mit ihrem ersten „Il ne revient pas! “ erwachsen die wohlige Gänsehaut, die gefühlsstarke Dartellungen oft herbeirufen, nicht allein aus ihrer tollen Stimme, sondern auch ihrer Fähigkeit, Emotionen wie Liebe, Verzweiflung und auch Wahn Ausdruck zu verleihen. Besonders ihr „horreur“ in „Tu me fais horreur!“ ging unter die Haut.
Fazit: Angelehnt an den Gefühlsausbruch Gretchens, zeigte das Publikum am Ende auch seinen Eindruck. Doch der hieß auch dank des Chors der Hamburgischen Staatsoper und Mateusz Ługowski aus dem Internationalen Opernstudio Hamburg als Wagner: Vous nous faites jubiler! (Ihr lasst uns jubeln!)
Birgit Kleinfeld, (Vorstellungsbesuch 20.11.2022)
Links:
https://www.staatsoper-hamburg.de/
http://www.alexanderjoel.com/
http://www.pavelcernoch.cz/web/
https://www.alexeybogdanchikov.com/‚
https://mateuszlugowskibaritone.com/
https://www.olgaperetyatko.com/
https://www.kadyevanyshyn.com/
http://www.renatespingler.de/