Titelbild: Félix Paquet, Ida Praetorius, Jacopo Bellussi/ Fotorechte Kiran West
„Du gehst schon wieder in die Staatsoper Hamburg?“- „ Ja, Hamburg Ballett John Neumeier Sylvia von Léo Delibes“ – „Aber das hast du doch …“
Ich denke Sie können sich denken wie eine solche Unterhaltung weitergeht und ich bin sicher, nicht wenige ahnen, dass die Gefragte – dass ich dann argumentiere, dass ein und dasselbe Stücke auf einer Bühne nie ein und dasselbe bietet, sogar wenn die Darsteller stets dieselben sind! Gibt es doch immer Dinge zu entdecken, die man beim ersten, ja selbst beim zweiten Sehen vielleicht übersah. Und wenn, wie am 18.10.22, drei Rollendebüts anstehen, gesellt sich zu der Vorfreude auf Tanz und Musik noch neugierige Spannung.
Und ja, mir ist bewusst, dass ich meine Artikel oft damit beginne, wie bereichernd es ist, verschiedene Besetzungen zu erleben.

Alle Fotorechte: Kiran West
Dieses Mal ( 18.10., 21.10.) waren es Ida Praetorius in der Titelrolle, Yun-Su Park als Diana und Jacopo Bellussi als Arminta, die ihr Rollenrepertoire mit großem Erfolg erweiterten und so diesen Partien, wie auch dem Stück, ganz persönliche, neue Nuancen hinzufügten.
Im Untertitel nennt John Neumeier sein Ballett, dass er im Juni 1997 für das Ballet de L’Opéra National de Paris kreierte und im Dezember desselben Jahres mit seiner eigenen Compagnie aufführte: Drei choreografische Gedichte über ein mythisches Thema. Und wirklich berühren Ida Praetorius und Jacopo Bellussi in ihren Debüts durch fast zärtliche Zurückhaltung, die, weder auf Kosten von Technik noch von Ausdruckskraft gehend, poetisch verträumt wirkt. Wohingegen Madoka Sugai und Alexandr Trusch, die in den anderen beiden Vorstellungen dieser Serie (14.10., 22.10), beide als Tanzpartner wie auch in diesen Rollen erfahren ohne je routiniert zu wirken, extrovertierter sind und nicht allein durch ihre Sprungkraft bestechen.

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Jacopo Bellussi beindruckte mich Anfang des Jahres noch in der Rolle des Endymion, denn bei ihm war der Eindruck, er würde mit (fast) geschlossenen Augen tanzen, noch größer als es bei den ersten Vorstellungen mit Alessandro Frola der Fall war. Jetzt, als Aminta, besticht er durch wunderschön weiche Bewegungen und intensiven Ausdruck, der Empfindungen und auch die Entwicklung seiner Figur spürbar macht. Ja, es war bereits ein sehr gelungenes Debüt und doch bin ich überzeugt, dass Bellussi, egal wie erfahren er in dieser Rolle werden wird, wie Trusch und doch anders, nie in Routine verfallen wird. In den beiden Pas de deux bewiesen er und Ida Praetorius neben tänzerischem Können Wandlungsfähigkeit und großes gegenseitiges Einfühlungsvermögen.
Ida Praetorius strahlt von sich aus schon eine mädchenhafte Zartheit aus und doch glaubt man ihr mit jedem Blick, jeder Bewegung die kämpferische Amazone, ebenso wie die sich zuerst gegen die Liebe wehrende, sich dann aber erst der Liebe und dann der Sinnlichkeit hingebende junge Frau. So hingerissen sie auch sein mag von den Verlockungen, die ihr der Liebesgott Eros in Gestalt des Thrysis bzw. des Orion bietet, nie vergisst sie Arminta. Der Pas de Trois auf Orions Ball, den Sylvia mit Orion und einer Erinnerung an Arminta tanzt, war an diesem Abend ein weiterer der schönsten Momente, denn er ging durch tänzerische Harmonie, die Gegensätzlichkeit der beiden Männer und Praetorius‘ Fähigkeit, durch Tanz und Gestik Sylvias Zerrissenheit zu zeigen, wirklich unter die Haut.

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Das Ziel der Kunst ist es, einfach eine Stimmung zu erzeugen, zitiere ich Oscar Wilde im Titel und ergänze, dass dies meiner Meinung nach für jedes Kunstgenre gilt. So auch für „getanzte Gedichte“ die, ähnlich wie rezitierte, nicht nur durch ihre Interpreten leben. Sie behalten ihre Lebendigkeit oft auch durch kleine aber feine Änderungen durch ihre Schöpfer, was die Dynamik und die Art der erzeugten Stimmung, wenn auch fast unmerklich oder gar unbewusst, beeinflusst.
So betritt Arminta nur hier in Hamburg die Bühne im dritten Bild mit einer Art Protestschild, das die Rettung des mystisch-magischen Waldes verlangt: Ein Hilferuf, auch danach die verzauberten Momente von damals zurückzubringen. Was sich hier in Hamburg auch in Amintas Solo zeigt, das nicht nur mit einer Geste der Hilflosigkeit, sondern auch in einem stummen Schrei endet.
Auch fehlen in der Pariser DVD-Fassung noch jene Paare, die schon vor Beginn der Vorstellung und zwischen dem zweiten und dem dritten Bild/Gedicht sozusagen a cappella im Bühnen-Vordergrund kleine Pas de deux zeigen. Einmal als mystisch-filigrane Waldbewohner und zum anderen als ein elegantes Paar auf dem Ball des Orion. Hier hat Anfangs er die Oberhand, lässt sich dann aber sanft von ihr führen. Dieser Ball scheint mir, leider ohne dass es mir möglich ist, dies explizit zu begründen, hier noch eine Spur sinnlicher als auf der Paris-DVD. Vielleicht liegt dies zum Teil aber auch an Félix Paquet in der Triple-Partie: Eros/Thyrsis/Orion.

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Paquet überzeugt als Eros mit Leichtigkeit und Lebensfreude versprühenden Schrittkombinationen, ebenso wie als Verführer Thyrsis und letztendlich sinnlicher Orion, dessen Bewegungen und Sprünge selbstsichere Überlegenheit beweisen. Doch fällt bei einem direkten Vergleich sicher noch einiges an Änderungen auf, das das Ensemble betrifft, dessen Leistung in mir wieder den Wunsch erweckte, doch endlich alle – oder zumindest viele – Namen zu kennen um die Einzelnen besser zu würdigen zu können.
Auch die Beziehung Sylvia/Diana scheint mir von Neumeier intensiviert worden zu sein: Sylvia erhält hier im ersten Bild von Diana einen Bogen als Geschenk. Diesen bietet Diana ihrer ehemaligen Amazone als Traumbild mit Frack bekleidet, während des großen Balls bei Orion erneut an, doch sie lehnt ab und dennoch erscheint Diana ihr nun im Abendkleid, wieder den Bogen haltend über die Bühne schreitend, am Ende des Bildes erneut: Vergangenheit, die immer ein Teil von ihr sein wird. Yun-Su Park ist von einer sehnig anmutigen Biegsamkeit, strahlt als Diana Kraft und Autorität aus wenn sie mit ihren Amazonen zusammen ist. Die Ballszene mit Sylvia gestalten beide Damen gefühlvoll, die Figuren sind nun, anders als am Anfang, auf Augenhöhe: Zwei Welten und doch verbindet sie ein unsichtbares Band, was deutlich zu machen Park/Diana mühelos gelingt, auch wenn Praetorius/Sylvia standhaft bleibt ohne feindselig zu werden.

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Wie anders aber ist Yun-Su Parks Diana in ihrem Solo im ersten Akt, ihrer Erinnerung an den Geliebten Endymion, den sie in ewigen Schlaf versetzte. Jeder Schritt, jede Geste ist sehnsuchtsvolle Verletzlichkeit die sich im Tanz mit Endymion (Alessandro Frola) in natürliche, mitfühlende Hingabe wandelt. Letzterer bewies an diesem Abend endgültig, dass er die Ernennung zum Solisten wirklich verdient hat.
Und denke ich an diesen Abend zurück, an meine Stimmung, meine Empfindungen, so ist es dieses Pas de deux im ersten Akt, das mich tänzerisch wie ausdruckmäßig am tiefsten bewegte, ist der Abstand zu Genuss und Freude an all den anderen schönsten Augenblicken auch gering.
Wie auch bei den vergangenen von mir besuchten Sylvia-Vorstellungen sorgte das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Markus Lehtin für den Klang, der untermalte und bestärkte, was die Tänzer durch ihre Sprache aus Bewegung und Emotionen sichtbar machten. John Neumeiers Aussage aus dem Jahr 1997, dass es besonders Delibes‘ Musik ist, die uns anspricht (nicht die Geschichte), stimme ich bereits seit dem ersten Besuch des Stückes zu. Seine Meinung: „Sie ist unüberhörbar von Richard Wagner beeinflusst,“ begann ich erst nach und nach zu teilen. Sicher zu einem gewissen Teil auch dank Lehtin und des Orchesters.

A. Frola, Y.-S.Park, M.Lethin, I. Praetorius. J.Belussi, F. Paquet
Hinten: Ensemble
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Fazit: Die Aufgabe des Künstlers ist, zu erdichten, nicht zu berichten. Wieder ein Zitat von Oscar Wilde und wieder eines, das mir passend scheint zu Sylvia, dieser von Neumeier und seinen Tänzern vom eigentlichen Libretto Jules Barbier und Baron de Reinachs losgelösten Szenen aus dem Leben einer jungen Kämpferin, die ihre erste Liebe nicht leben kann oder darf, die Welt der Sinnlichkeit kennenlernt und endlich reift oder/und sich anpasst.
Egal, welches der Zitate Sie vorziehen, dieser Abend schenkte dem dankbar und intensiv applaudierenden Publikum einen auch musikalisch stimmungsvoll poetischen Abend. Danke an alle!
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 18.10.22
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Weitere Informationen/Berichte über Léo Delibes‘ Sylvia