Titelbild: Brinckhoff Mögenburg
Es gibt so einiges, das man Regisseur Herbert Fritsch nicht absprechen kann, dessen Interpretation von George Bizets Oper Carmen am 17.09. an der Staatsoper Hamburg Premiere feierte: Er versteht sein Handwerk perfekt, setzt stets auf knallig bunte, kontrastierende aber klare Farben. Und wie auch schon in Wolfgang Amadeus Mozarts Cosi fan tutte geht es ihm nicht darum, eine Parallele zwischen Opern(libretto) und Leben zu ziehen, sondern zu zeigen, dass alles Theater ist, Freude und Spiel. Und das bis hin zum Schlussapplaus. Denn das Publikum am Premierentag wurde von Fritsch ein wenig überlistet. Der Unmut, der sich in den Jubel mischte, traf allein sein Team. Er selbst erschien wie ein Matador gekleidet am Ende, mischte sich dann unter die Darsteller. Am meisten umjubelt wurden die beiden wirklich großartigen Sängerinnen Maria Kataeva in der Titelrolle und Elbenita Kajtazi, die ihr Rollendebüt als Micaela gab.

zu ihren Füßen Ein Schauspiel von Lieben und Leben
Fotorechte: Brinckhoff/Mögenburg
Statt opéra comique, eher eine Oper voll Komik
Im Untertitel heißt Bizets Werk, opéra comique. Doch das setzt keinen komischen oder humorvollen Inhalt voraus, sondern bedeutet zum Einen, dass Rezitative durch Dialoge ersetzt wurden und zum Anderen, dass keine Götter auftreten. Und es ist auch eine Werkgattung für die „kleinen“ Leute, das Volk, denn die Helden sind nicht adelig. Carmen ist die Geschichte über eine freiheitsliebende, unabhängige Frau, den unsicheren Soldaten José und den gefeierten Torero Escamillo. Sie wie auch Don José, der Soldat, der sich unrettbar in sie verliebt, kommen aus einfachen Verhältnissen. Er erliegt ihren Reizen so sehr, dass er desertiert, zum Schmuggler wird und darüber seine Mutter vergisst und Micaela, das Mädchen, das sie für ihn als Braut erkor. Doch Carmen hat ihren eigenen Willen und Don Josés besitzergreifende Eifersucht stößt sie inzwischen ab. Einer Bevölkerungsgruppe angehörend, die sich mit der Deutung von Karten auskennt, ist Carmen ferner überzeugt, dass ihr baldiger Tod naht und Don José eng mit diesem verbunden ist. Von Micaela, die ihn und die Schmuggler furchtlos aufspürt, ihn dazu überredet sie ans Sterbebett seiner Mutter zu begleiten, verlässt er Carmen im Streit. Am Tag des Stierkampfes von Escamillo, dem Grund für Josés Eifersucht und Wut, lauert er Carmen auf und als sie sich weigert zu ihm zurückzukehren, tötet er sie um dann verzweifelt die Tat zu gestehen und um Verhaftung zu bitten.

Soldaten der speziellen Art
Fotorechte: Brinckhoff/Mögenburg
Handlung, Milieu und Dramatik machten diese Oper zum Vorläufer des Verismo. Fritsch und sein Team jedoch übersetzten „comique“ mit „komisch“ und verbannen und vermeiden jegliche Emotionen, die tief berühren könnten und auch die Nähe der Darsteller zueinander. Um das zu verdeutlichen, lässt er sie meistens nach vorne spielen, benutzt von Leyla-Claire Robin modernisierter Dialoge und bedient sich direkt oder subtil der übertrieben akzentuierten Elemente aus etwa der commedia dell‘arte. Alles bekommt dafür einen albern überzogenen Touch, der amüsiert, gut unterhält und manchmal regelecht dazu zwingt zumindest zu schmunzeln. Wenn auch unwillig und innerlich den Kopf schüttelnd, denn sie scheinen sich über alles und jeden lustig zu machen. Doch auch dies ist dieser Produktion nicht abzusprechen: Sie ist innovativ und konsequent durchdacht und erarbeitet, ein Zeugnis von überbordender Phantasie und intensiver Zusammenarbeit mit allen Darstellenden. Das verlangt Anerkennung, egal wie man zu dem Ergebnis steht, aus allen Geschichten ein Spiel im Bühnenstück zu machen.
Schon während der Ouvertüre, die bei offener Bühne stattfindet, wird diese Vorliebe klar. Die Spielfläche ist von einem goldenen Vorhang umrahmt. Im zweiten Bild benutzt Lichtdesigner Carsten Sander blinkend huschende Spotlights. Im dritten, wirklich prächtig die Berge, öffnet Micaela nach ihrer Arie „Je dis, que rien ne m‘epouvante“ (Ich sagt’ dass ich mich furchtsam nicht fühle) den Vorhang. Und immer finden die Umbauten gut sichtbar mit Hilfe der Herren von der Technik statt.

Die Mutige und der Naive?
Fotorechte: Brinckhoff/Mögenburg
Über Karikaturen sollte man nicht nur schmunzeln, sondern auch nachdenken (A. Dunker)
Nicht nur die von José Luna in Colorblocking konzipierten Kostüme, all die so phantasievoll geschminkten Gesichter, für die jeder einzelne Mittarbeiter aus der Maske Respekt und Dank verdient, machen aus dem Chor ein wahrhaftiges und allen anderen ein bunt-gemischtes Völkchen von Individualisten. Herbert Fritschs Personalführung sorgt dafür, dass hier nichts und niemand stereotyp ist.
Die augenscheinlich intensive Arbeit mit den Darstellern zeigt sich aber nicht nur beim gutdisponierten Chor der Hamburgischen Staatsoper oder den Alsterspatzen, dem Kinder- und Jugendchor der Staatsoper.
Auch Hausdebütant Blake Denson als Brigadier Morales, wie alle anderen Soldaten in eine knallrote Uniform gekleidet, die an Marionettentheater denken lässt oder Holzspielzeug, überzeugt in seiner Darstellung auf ganzer Linie. Sein gestern vielleicht nicht optimal eingesetzter dunkler Bariton macht neugierig auf mehr.
Hubert Kowalczyk macht aus seiner Rolle als Zuniga, Josés Kommandanten, ein kleines Kabinettstückchen. Zuniga ist hier nicht böse und brutal, sondern eher eitel, verschlagenen und erotischen Abenteuern gegenüber mehr als aufgeschlossen dargestellt, mit dem Hauch von Lächerlichkeit, die Gesetzeshütern in gewissen Stücken gerne zugeschrieben wird.

Freundinnen im Tanzesrausch
Fotorechte: Brinckhoff/Mögenburg
Und auch bei den anderen Partien bleibt Fritsch konsequent. Er gibt durch sie unsere Schwächen und Fehler auf manchmal Slapstick-artige Weise preis. Theater auf dem Theater darf das und es sind stets die Rollen, nie die Darsteller selbst, die überzogen und albern wirken. So ist Escamillo (Kostas Smoriginas) ein tumber Gockel, wie unschwer an seiner Kopfbedeckung auszumachen, und an der selbstgefälligen Art, wie er sich von allen feiern lässt und ignoriert, dass so manches weibliche Wesen für ihn in Ohnmacht fällt. Was besonders die stimmliche Präsentation seines Toréador, en garde angeht, gibt es allerdings noch viel Luft nach oben.
Carmens Freundinnen Mercedes (Ida Aldrian) und Frasquita (Katrina Galka) halten jenen von uns, die nicht tanzen können und es dennoch tun, den Spiegel vor, wenn sie in der erste Szene des 2. Akts „Les tringles des sistres tintaient“ der anmutig tanzende Carmen und den Spotlights ohne jede Grazie hinterherjagen. Doch dieser kleine Moment von (Fremd)Scham wird sofort abgelöst von hoher Anerkennung für die stimmliche und schauspielerische Leistung der beiden Sängerinnen. Die sich auch in vielen anderen Szenen sehen und hören lässt, besonders im Kartenterzett, bei dem das Kartenmischen und -legen simuliert wird. Denn abgesehen von der überdimensionalen Blume Carmens für José und einem Paar Kastagnetten, wenn sie für ihn tanzt, verzichtet Fritsch auf Requisiten.

Mitgefühl oder „Bühnentrauer“?
Fotorechte: Brinckhoff/Mögenburg
Bariton Nicholas Mogg als Dancairo und Tenor Ks. Jürgen Sacher als Remendado ergänzen das Quartett von Carmens Freunde auf wahrhaft buffoneske Weise, haben etwas von zwei Tölpeln, die nach mehr streben. Was an dieser Stelle leise seufzen lässt, ist die Konzeption an sich, nicht die ohne Zweifel mit viel Offenheit für Neues und Können gestaltete Umsetzung.
Die Kunst sich immer wieder neu in dieselbe Partie zu verwandeln
Bei aller Bereitschaft, sich einzulassen auf das was Fritsch mit Team und Künstlern erarbeitete, drängt sich doch immer wieder ein Warum? Ach, nein… oder ähnliches in die Gedanken, die kaum etwas oder jemanden finden, auf den sie sich vorbehaltlosen einlassen können. Auch sich für die Zeit der Aufführung in den sonst immer so romantisch gezeichneten Don José zu verlieben, ist wohl nicht gewünscht. Obwohl Bizet ihm doch nicht nur die wunderschöne Blumenarie, sondern unzählige andere sanfte oder romantisch leidenschaftliche Melodien zuschrieb.

Eitelkeit trifft freiheitsliebende Selbstbestimmung
Fotorechte: Brinckhoff/Mögenburg
Tenor Tomislav Mužek weiß seinen sehr lyrischen Tenor auch wirklich gut einzusetzen, mit Schmelz, Kraft und Sicherheit. Aber der Charakter, der hier José zugeschrieben wird und die Mužek mit Spielfreude umsetzt, ist doch etwas fraglich. Es schlägt ja schon eine Saite der Mütterlichkeit an, wenn er mit den Kindern scherzt. Aber wenn er die Blume nie, wirklich nie wieder loslässt, bei jedem lautem Ton in seiner Umgebung zusammenzuckt und durch die Berge in einem Morgenmantel schreitet …. Nein, da ist dann endgültig Schluss mit zeitweiligen verliebt sein oder auch nur Respekt. Doch auch hier sein betont Mužek macht seine Sache wirklich gut. Wie schön, dass er auch noch als Rudolfo in Puccinis La Boheme zu sehen sein wird.
An seiner Seite als Micaela in Carmen und als Mimi in La Bohéme die wahrhaft entzückende Rollendebütantin Elbenita Kajtazi. Sie ist von jeher eine Künstlerin, die ihre Rollen zu leben scheint. Ihre Partie wurde im Hinblick auf andere Produktionen aufgewertet. Sie ist hier nicht das kleine schüchterne Mädchen vom Lande, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die gerne flirtet aber gleichzeitig eifersüchtig, doch vor allem mutig, liebt. Wenn sie José den Kuss von der Mutter gibt, erinnert das an ein bekanntes Porzellankinderpärchen. Aber wenn sie nicht José, sondern Carmen vom nahendem Tod der Mutter erzählt, hat dies eine tiefe Intensität, die sich in Stimme und Gestik zeigt und die mutige Ansage Ich nehme ihn jetzt mit an die Rivalin ist. Aber nicht nur hier malt sie durch Stimmmodelation Bilder von Emotionen. Ihre Arie im dritten Akt ist ein Gänsehautmoment, wie er doch in jede dramatische Oper gehört.

Fotorechte: Brinckhoff/Mögenburg
Eine Meisterin der Dramatik ist auch Maria Kataeva als Carmen. Diese Rolle gibt Fritsch nie der Lächerlichkeit preis, doch auch sie ist auf ganz andere Art verführerischer als üblicher Weise. Von Anfang an strahlt sie eine Stärke aus, die fast maskulin wirkt, was nicht heißen soll, dass diese Carmen männlich wirkt. Wo Micaela, mädchenhaft kokett ist, liegt Carmens oder Kataevas erotische Anziehung darin, dass sie es nicht nötig hat zu tändeln. Sie weiß wer sie ist und was sie will. Jede Geste zeigt, dass sie es ist die entscheidet, sie sich niemandem unterwirft, selbst Escamillo nicht. Wenn sie, einer goldenen Ikone gleich, José mitteilt, dass Carmen in Freiheit geboren wurde und in Freiheit sterben werde, geht das tief unter die Haut. Wenn sie sich ihm regelrecht zum Töten anbietet um sich dann das nicht existente Messer selbst in den Bauch zu rammen, hält man für einen Lidschlag die Luft an. Und auch ihre Tänze im zweiten Akt, ihr Umgang mit den Kastagnetten, dabei ihren wandlungsfähigen Mezzo erklingend, reizt das einfach zu Jubelstürmen. Und das sie bei perfekter Stimmführung in allen Lagen zu einem ebenso intensiven Minenspiel fähig ist, prädestiniert sie für viele andere Opernheldinnen.
Was die Erwähnung des Dirigenten Yoel Gamzou angeht, würde ich mich, zumindest was diesen Abend angeht, an Shakespeare’s Hamlet halten: Und der Rest ist Schweigen. Das Tempo, das er das Philharmonische Staatsorchester Hamburg schon mit dem ersten Ton anschlagen lässt, rasant zu nennen wäre untertrieben. Vielleicht ist der Mangel an Akzenten und Gespür für die Aussagekraft der Melodien an die Produktion und ihre Aussparung von Emotionen angepasst, aber gut tut dies weder dem Werk noch den Musikern. Die wurden in den Unmut über Gamzous Interpretation hineingezogen. Unverdient, denn nicht nur die verschiedenen Soli in den Zwischenspielen ließen hören, was die Musiker eigentlich können, von den Streich- bis hin zu allen Blasinstrumenten. Danke dafür.

Abschied vor Volksheld und Madonna
Fotorechte: Brinckhoff/Mögenburg
Was dem einen sin Uul ….
Fazit: Ja, es ist ein zweischneidiges Schwert, wenn etwas mit dramatischem Inhalt, so farbenfroh und humorvoll interpretiert wird. Die einen – wie ich- ziehen Dramatik, Emotionen und Nähe zum Libretto und dem Ursprungstext der Novelle von Prosper Mérimée vor und hätten durchaus noch einige Jahr mit der Inszenierung von Jens Daniel Herzog leben können. Doch diese Inszenierung wird einem anderen von Erwartungen nicht vorbelasteten Publikum farbenfroh die Tore in die Welt der Oper öffnen und das ist etwas durchaus Gutes.
Wie dem auch sei: Die Saison ist eröffnet, mit großem, verdient umjubelten, Erfolg für die drei Protagonist*innen. Bleiben wir gespannt, neugierig und offen für wen und was sie uns noch bringen mag.
Birgit Kleinfeld, Premiere 17.09.2022
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