Titelbild: Kiran West
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Tanz ganz und gar der Lebensinhalt von John Neumeier, dem Direktor des Hamburg Ballett, ist. Dass Tanz die Kunstform ist, die den Menschen/Tänzer „ganzheitlich“ zeigt, seine Seele widerspiegelt, wie er es nannte, gilt an aller erster Stelle und im positivsten Sinne für ihn selbst. Ist er doch Tänzer, Choreograph und hat neben seiner Compagnie Hamburg Ballett John Neumeier auch die gleichnamige Ballettschule und das Bundesjugendballett ins Leben gerufen.
Gestern nun läutete er die 50. und letzte Saison seiner Tätigkeit(en) ein, doch all seine vielen Kreationen, die Erfolge der Gastspiele weltweit werden noch lange unvergessen bleiben. Mit dem open Air Abend Tanzfeuerwerk – Die Welt des John Neumeier auf dem Hamburger Rathausmarkt bewies der 83jährige, dass er nicht nur mit Hilfe seiner Tänzer sondern auch mit eigenen Worten berührend und mitreißend erzählen kann.

Photo Credit: Kiran West
Ein Leben in 10-Tanzstationen
Eröffnet wurde der Abend von Hamburgs erstem Bürgermeister Peter Tschentscher. Der von ihm angekündigte, gewürdigte Neumeier wurde von den mehr als 4000 Zuschauer*innen, die zum Teil stehend den Rathausmarkt füllten, schon vor den ersten Worten mehr als herzlich begrüßt.
Neumeier selbst ließ uns dann anhand von Ausschnitten aus 10 seiner Ballette teilhaben an seinem Werdegang, seinem Leben, seiner Welt. Alles begann mit der Ouvertüre zu Leonard Bernsteins Oper Candide, die Neumeier in seinem Werk Bernstein Dances verarbeitete. Dieses furios lebendige Stück, dargeboten von einem großen Teil des Ensembles, unabhängig ob Gruppentänzer, Solist oder Erster Solist, sorgte als Auftakt dieses Abends sofort für gute Laune. Allerdings schlüpfte Christopher Evans hierteilweise in die Rolle des Leading Man bzw. für die Dauer der Vorstellung in die Rolle des jungen John Neumeier und führte uns so mal im Mittelpunkt stehend, mal die eigentlichen Protagonisten unterstützend. Schon seine ersten Sprünge sowie seine Energie aber auch sein zurückhaltendes Einfühlungsvermögen malten ein getanztes Bild von Neumeier. Den man, sollte man ihn mit musikalischen Begriffen beschreiben wollen, mit Fug und Recht als agile con amore (lebhaft/beweglich liebevoll) charakterisieren sollte.

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Lebhaft und mitreißend ging es dann auch, wieder mit dem gesamten anwesenden Ensemble, weiter. Shall We Dance heißt ein Neumeier – Ballett, zu dem dieser durch die Technikcolor-Musikfilme inspiriert wurde, die der kleine John mit seiner Mutter schaute. Alle können von sich, wie es in dem getanzten Titel heißt, behaupten: I Got Rhythm. Mittendrin, fröhlich, versiert und Tanzfreude versprühend, Ida Praetorius, gerade in Italien zusammen mit Jacopo Belussi ausgezeichnet mit dem Premio Positano Léonide Massine für den Pas de deux Was mir die Liebe erzählt (3. Sinfonie von Gustav Mahler“: 6. Satz). Auch ihr Partner, der frischgebackene Solist Alessandro Frola, beeindruckte durch Vitalität und Sprungkraft.

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Parallelen zwischen dem Schöpfer und seinen Werken
Es folgten nun Szenen, in denen wirklich einzelne oder wenige Personen im Mittelpunkt standen. Wie zum Beispiel die kleine Marie aus Neumeiers Version von Peter I. Tschaikowskys Der Nussknacker. Hier geht es nicht ums Erwachsen werden, das Entdecken von Leidenschaften. So entwickelt Marie an ihrem 12. Geburtstag eine Schwärmerei für Günther, den Verehrer ihrer Schwester, und entdeckt eine viel tiefere Liebe: die Liebe zum klassischen Ballett. Ihre ersten unsicheren Schritte in den ungewohnten Spitzenschuhen, so Neumeier, würden ihn an seine eigenen ersten Versuche erinnern. Diesen Moment zeigten die entzückende Emilie Mazon, die zwar sehr an ihre Mutter Gigi Hyatt erinnert, aber eine ganz eigene Persönlichkeit hat, und Mathias Oberlin als eben jener Günther. Sanft und in allen Hebungen und auch im Ausdruck sicher, gestaltet Oberlin in dem Pas de deux mit Mazon einen verzauberten Augenblick, der die Magie Ballett spürbar macht. Mithilfe von Xue Lin, als Maries, von Anna Pavlova inspirierter, Schwester Luise und Borja Bermudez, als Tanzlehrer, der im Ballett selbst an Marius Petipa erinnert, sahen wir dann eine fiktive Ballettstunde. Die elegante Ruhe und Perfektion der beiden Tänzer überzeugt ohne jeden Zweifel davon, wie wichtig es Neumeier ist, der Kunstform Ballett eine Art Denkmal zu setzen.

In seinem Ballett Tod in Venedig, machte John Neumeier aus Thomas Manns Schriftsteller Gustav von Aschenbach -natürlich- einen Choreografen. So schenkte er uns in diesem Ballettausschnitt mit Christopher Evans als Aschenbach sowie Sylvia Azzoni und Alexandre Riabko als dessen Konzepte, einen Blick in die sensible, von Schöpfungswillen getriebene Seele eines kreativen Künstlers. Dieser Pas de Trois ist einer jener Momente, die unter die Haut gehen. Durch Harmonie in Ausdruck und Tanz strahlen alle drei Ruhe und Kraft aus, machen so die Komplexität eines Schöpfungsaktes deutlich.
Schöpfen und kreieren war für Neumeier auch im ersten Lock-down unerlässlich. So entstand sein Ballett Ghost Light immer nur geprobt mit wenigen Tänzern in Räumen mit weit offenen Fenstern, um den Auflagen gerecht zu werden aber doch etwas erschaffen zu können. Anna Laudere und Edvin Revazov gelang es mühelos in ihrem Pas de deux aus diesem Stück Emotionen wie Sehnsucht, Traurigkeit, Zuneigung, Einsamkeit und leise Hoffnung sicht- und spürbar zu machen.
Verströmte ihr Tanz verzaubernde Melancholie, so sprühte Jauchzet Frohlocket aus Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium, nun erneut getanzt vom anwesenden Ensemble, Freude an Gemeinschaft und Leben.

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Die verschiedenen Wesen der Liebe
Neumeiers Liebe zu und Bewunderung für Vaslav Nijinsky, diesem vielseitigen, von persönlichem, wie dem Wahn seinen Bruders, und gesellschaftlichem Leid, wie dem 1. Weltkrieg, geplagten Künstler, zeigt sich nicht nur darin, dass er ihm die alljährliche Ballettgala widmet. Sein abendfüllendes Ballett Nijinsky ist eine liebevoll gezeichnete, aber auch erschreckend intensive Hommage und Biografie.
Besonders der gestern gezeigte Ausschnitt, der sich mit dem Wahn von Bruder Stanislav und den Vaslav zunehmend verwirrenden Schreckens des Krieges beschäftigt, stellt hohe Ansprüche an das Können der Darsteller und fordert auch fast furchterregend, aber faszinierend das Publikum. Aleix Martinez (Vaslav) gebührte der höchste Respekt für das Geleistete, seine Verzweiflung, Hilflosigkeit und Wut bereiteten eine Gänsehaut des leichten Unbehagens und großer Bewunderung. Ähnliches gilt für die brillante Darbietung von Louis Musin als Stanislav und die sehr authentisch berührende Yaiza Coll in der Rolle von Nijinskys Ehefrau Romola. Die von gefühlt tausenden Emotionen von Martinez und Coll verdienen an dieser Stelle absolut ein „Extrabravo“.
Erfüllte, leidenschaftlich zärtliche Liebe, die, zumindest im gezeigten Moment, glücklich macht, drückten Alina Cojocaru und Alexandr Trusch als Maguerite und Amand im Weißen Pas de deux aus Neumeiers Die Kameliendame aus. Die gegenseitige Hingabe, die Schönheit ihrer Bewegungen, gaben den Zuschauer*innen, die Ruhe zurück, die die trotz allem fantastische Szene vorher genommen hatte.

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Nach der Liebe, die innere Zerstörung nicht mehr heilen kann, die einer Kurtisane ein Stück ihrer Reinheit und Unschuld zurückgibt, folgte das Werk Opus 100 – for Maurice. Geschrieben für den 70. Geburtstags von John Neumeiers gutem und, da verstorben, sehr vermissten Freund und Kollegen Maurice Bejart.
Unter anderem zu den Klängen von Simon & Garfunkels Bridge over troubled water widmen Edvin Revazovu und Alexandre Riabko ihr Können der tänzerisch wie darstellerisch anspruchsvollen Aufgabe ein Pas de deux, das die intensive, von Liebe und Vertrauen geprägte Freundschaft zum Thema hat. Es ist ein leiser Pas de deux, will sagen es geht in erster Linie nicht ums Kräftemessen und hohe Sprünge, sondern um Intimität und viele gegenseitigen Berührungen, die aber nicht mit homoerotischem Verlangen zu verwechseln sind. Revazos und Riabko bilden ein wunderbares Duo, ihre Stärke ist, dass sie, ähnlich wie es bei manchen Sänger*innen manchmal der Fall ist, an einigen Stellen gemeinsam zu atmen scheinen.

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Für mich war es der schönste Moment des Abends, der eigentlich nur aus schönen Momenten bestand, und zwar weil Alexandre Riabko noch einmal in all seiner tänzerischen Ausdruckskraft zu erleben war, bevor er ab jetzt leider nur noch als Sonderdarsteller zu sehen sein wird.
Der letzte der 10 Höhepunkte der Veranstaltung war der 6. Satz aus der 3. Sinfonie von Gustav Mahler
Was mir die Liebe erzählt. Eine kleine Vorschau auf die Wiederaufnahme des gesamten Werkes am 18. 09. Um 18:00 Uhr im Großen Saal der Staatsoper Hamburg. Madoka Sugai und Karen Azatyan tanzten hier ein Paar, das sich augenscheinlich innig liebt, etwas sucht und etwas gibt und doch nicht für einander bestimmt scheint. Madoka Sugai strahlte mit jeder Phase eine ernste aber doch kindlich reine Reife aus, Azatyan schien der Beschützer/ Suchende, der an Sehnsucht und Einsamkeit fast zerbricht.

(Was mir die Liebe erzählt – 6.Satz 3.Sinfonievon Gustav Mahler)
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Diese Rollen bilden den Mittelpunkt des Satzes, doch es gibt auch andere Paare, andere Beziehungen, andere Lieben. Am Ende jedoch bleibt der Mann (Azatyan) allein im Bühnenhintergrund zurück, während die Frau (Sugai) langsam, würdevoll und völlig unerreichbar am Bühnenrand entlang schreitet. Neumeier durchschritt, bevor alle bis auf Azatyan und Sugai die Bühne verließen, die Menge und nahm anstatt seines Tänzers dann den Platz des Sehnsuchtsvollen ein, den Mund wie zum Schrei geöffnet, die Arme nach der Geliebten ausgestreckt. Der Geliebten, die vielleicht nicht wirklich eine Frau ist sondern, ähnlich wie die blaue Blume der Dichter, ein Symbol für ein unbestimmtes, unstillbares Verlangen.
Dieser Moment, wie auch schon die kleine Szene während des Ausschnitts aus Der Nussknacker, als Neumeier sich zu Marie und Gunther, die Luise beobachten, setzte, zeigte das große Charisma, das John Neumeier hat, die wunderbare Gabe auf verschiedenste Art und Weise in den Bann zu ziehen.
Ein letzter Wechsel der Personen läutete dann das Ende ein. Christopher Evans übernahm nun wieder die Rolle des jungen John und mit umjubelter Reprise der Candide Ouvertüre endete dieser wunderschöne Abend.

Der Jubel und die Standing Ovations sprachen schon ein wenig von Abschied. Denn nun hat sie wirklich begonnen, John Neumeiers letzte Saison als Ballettdirektor der Compagnie, die seinen Namen trägt. Möge sie gefühlt länger dauern als sie wirklich sein wird. Abende wie diesen hält sie auf jeden Fall bereit.
Birgit Kleinfeld, 03.09.2022
Links:
https://www.hamburgballett.de/
https://www.kiranwest.com/