Sie neigen sich ihrem Ende zu, die 47. Hamburger Balletttage, doch noch erwarten das Publikum einige tanzschön erzählte Geschichten. Wie zum Beispiel die des Balletts Liliom mit Karen Azatyan und Alina Cojocaru in den Hauptrollen. Sie beide und auch ihre Mittänzer, Anna Laudere, Aleix Martínez, Emilie Mazon, Florian Pohl, Alessandro Frola und Louis Musin begeisterten bereits in ihren jeweiligen Rollen bei der Wiederaufnahme Anfang diesen Jahres.
Das Ballett basiert auf dem Theaterstück selben Namens von Ferenc Molnár und erzählt die Geschichte eines Menschen, der sein Leben auf dem Jahrmarkt aufgibt, das er liebt, um mit seiner wahren Liebe seriös zu werden, doch er scheitert an Arbeitslosigkeit und hilfloser Wut, die ihn aggressiv macht. Nach dem aus Verzweiflung geborenen Entschluss bei einem Raubüberfall mitzumachen, richtet er sich selbst. Im Jenseits werden seine schlechten gegen seine guten Taten aufgewogen und nach 16 Jahren erhält er die Möglichkeit, seinem inzwischen halbwüchsigen Sohn als eine Art mystischer Versöhnung einen gestohlenen Stern zu bringen.

Alle Fotos: Kiran West
Die Musik von Michel Legrand, der die Musik als Auftragswerk schuf, klingt, besonders beim ersten Hören, fremd und dennoch faszinierend. Denn es ist unbestreitbar, dass es Legrand gelungen ist, die bewegende Story nicht nur zu untermalen, sondern alle Emotionen und Situationen deutlich zu machen und mit Neumeiers Choreografie, seiner Lichtregie, den von ihm kreierten Kostümen, Ferdinand Wögerbauers Bühnenbild und den Leistungen der Tänzer, der NDR Bigband und auch des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg zu einem bewegenden Ballettabend zu formen, bei dem, durch den Einsatz der Bigband wie auch eines Akkordeonspielers auf der Bühne, Lebensfreude und Träume fördernde Jahrmarktsstimmung nicht zu kurz kommt. Ebenso wenig wie das selbsterwählte, und nicht als solches empfundene, Leiden tiefer Liebe (Julie) und die Tatsache, dass man oft aus den richtigen Gründen das Falsche tut (Liliom).

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Wögenbauers Bühnenbild zeigt zu Beginn den Jahrmarkt Playland so, wie er am Ende der Geschichte ist: verlassen, verkommen, der Weltwirtschaftskrise nach dem 1.Weltkrieg zum Opfer gefallen. Über weite Teile befinden wir uns mitten drin in jenem Ort, der durch das im Mittelpunkt stehende Karussell, eine Achterbahn aus Lichtern im Hintergrund und kleinen, angedeuteten Buden mit den verschiedensten Akrobaten glänzt. Doch es gibt auch einen einsamen Platz mit Bank hinter dem Jahrmarkt sowie die Kulisse des Arbeitsamtes, ein durch einen Küchenstuhl, eine Waschschüssel und einen kargen Hintergrund stilisiertes Heim von Liliom und seiner Julie und eine weiße Wand hinter der Bank mit einem Guckloch aus dem Himmel. Die von Neumeier entworfenen Kostüme unterstreichen die jeweiligen Persönlichkeiten der einzelnen Charaktere. Zum Beispiel ist Liliom hauptsächlich in Leder gekleidet und zeigt auch oft seinen wohlgeformten Oberkörper. Julie hingegen ist eher schlicht gekleidet, ein graues Mäuslein im Gegensatz zu all den schicken Frauen, die Liliom nicht selten lautstark umschwärmen.

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Neumeier selbst gibt der Geschichte wie immer viele Zwischentöne und auch den kleinsten Nebenrollen im Ensemble eine gewisse Bedeutung: Jeder sind, nicht nur die Protagonisten. Keiner ist nur Staffage/Hintergrund für die Protagonisten.
Da ist zum einem Atte Kilpinen als Schüchterner Junge, so ganz anders in seiner stillen Verliebtheit in Julie, in seinen weichen Bewegungen, die Unsicherheit wie auch Zärtlichkeit ausstrahlen als der laute, vermeidlich starke Liliom. Kilpinen berührt ebenso wie Louis Hasloch als berührend Trauriger Clown. Nicolas Gläsmann besticht als Konzipist im Himmel und derjenige, der Liliom auf sehr elegante Weise dominant erlaubt auf die Erde zurückzukehren. Florian Pohl, als Mann mit den Luftballons und irgendwie zwischenweltlicher Wächter über Liliom, Julie und ihren Sohn Louis, ist auf unauffällige Weise omnipräsent, strahlt Ruhe und Kraft aus.

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Eine Vorstellung erneut in einer bekannten Besetzung zu sehen ist stets mit einer Art Vorfreude erfüllt und zu den Personen in diesem Stück, auf die ich mich freute, gehörte unter anderem Aleix Martinez als Bösewicht Ficsur, auf seine herrlich widerliche Interpretation, die zusammen mit seiner intensiven Körpersprache einfach fasziniert. Und Emilie Mazon und Alessandro Frola, als Julies Freundin Marie und deren Freund Wolf, entzückten auch dieses Mal durch ihre Leichtigkeit in Spiel und Tanz.
Sie gehört zu jenen, die in jeder Rolle beeindruckt durch ihre ganz besondere Bühnenpräsenz: Anna Laudere als Lilioms, ihn begehrende, Chefin Frau Muskat. Gut, eigentlich gilt es für alle (erste) Solisten in dieser Compagnie, doch Laudere zeigt bei jeder Vorstellung kleine unterschiedliche Nuancen.

Alle Fotos Kiran West
Louis Musin, als Liliom und Julies gemeinsamer Sohn Luis, wirkte noch kraftvoller in seinen Sprüngen und Bewegungen, noch emotionaler als im Frühjahr. Seine Szenen mit Karen Azatyan spiegeln die Gefühle, den inneren Kampf wie auch das äußere Kräftemessen in ästhetischer Intensität wider.
Schon in meinem Bericht vom Frühjahr erwähnte ich die rollenbedingte Sinnlichkeit und die Männlichkeit betonende Kraft, mit der Azatyan in den Bann zieht. Doch auch bei ihm fiel eine leichte Veränderung, eine Intensivierung in der Ausstrahlung auf, bei gleich bleibenden begeisternder Tanzkunst.
Alina Cojocaru lässt sich in der Rolle der Julie nicht anders als entzückend beschreiben. Doch soll dies nicht stehen für Naivität oder gar (aufgesetzte) Kindlichkeit, sondern eher für überzeugende und zum Mitfühlen animierende Authentizität. Sie lässt die Zuschauer*innen alle Höhen und Tiefen in Julies Leben miterleben. So wie Laudere als Frau Muskat oft mit ihren Berührungen von Liliom ausdrückt: Du gehörst mir!, beschwört Cojocaru ihn: Ich liebe dich. Immer. Jedes Porte de Bras, jede Schrittkombination, jede Geste und auch ihre Mimik zeigen dem Publikum nicht Alina, sondern Julie. Vielleicht auch eine Folge davon, dass diese Partie für sie kreiert wurde, doch auf jeden Fall ein Beweis für ihre Fähigkeit, ihre Liebe zum Beruf zu vermitteln.

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Fazit: Viel verdienter Jubel auch für Nathan Brock und alle Musiker und auch John Neumeier, dessen letzte Saison sich mit Sieben Meilen Schritten nähert. Möge sein Hamburg Ballett uns bis dahin noch viele schöne Ballettabende erleben lassen und sich das stets so begeisterte Publikum die Liebe zum Tanz auch noch in der Spielzeit 23/24 und weiteren erhalten.
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 30.6.22
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