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47. Hamburger Balletttage: Hamlet 21 sehen muss sein, keine Frage

Zu rockig-militärisch anmutenden Klängen deklarieren eine Knaben- und eine Männerstimme lateinische Verben aus dem Off. Eine Standtafel und eine altmodische Schulbank versetzten uns in das Klassenzimmer, in dem Hamlet (Edvin Rovazov)) und Horatio (Nicolas Gläsmann) von Polonius in Latein und dänischer Geschichte unterrichtet werden. Einige von Hamlet gesprochene Worte aus dem berühmten Shakespeare-Monolog und eine kurze von Oratio gelesene Erklärung zu Dänemarks Krieg mit Norwegen, wie von Saxos Grammaticus in der Amlethus Saga beschrieben, leiten nach diesem Prolog das eigentliche Ballett ein. Von nun an schenken sämtliche Tänzer und Michael Tippettts Klänge dem Publikum ein knapp zwei Stunden dauerndes Auf und Ab getanzter Emotionen, die in den Bann ziehen.

Ensemble
Photo Credit alle Fotos: Kiran West

Eine Geschichte in der Geschichte?

Abgesehen von den kurzen Schulzimmer-Sequenzen ist die Geschichte, die das Ballett erzählt, ähnlich der, die wir durch Shakespeares Bühnenstück kennen. Doch Neumeier lässt seine Tänzer eher die Geschichte erzählen, die Shakespeare zu diesem Stück inspirierte, eben jene obenerwähnte Amlethus-Saga. Diese beschäftigt sich mit der Dreiecksgeschichte der Brüder Horvendel und Fenge und Geruth. Die junge Frau und Fenge fühlen sich zueinander hingezogen, ihr Vater jedoch gibt sie Horvendel zu Frau. Hamlet wird geboren, wächst auf und knüpft zarte Bande zu Ophelia bevor er für Studien nach Wittenberg geschickt wird. Zurückgekehrt findet er den Vater tot und die Mutter mit Fenge verheiratet, der nun König ist. Dies und der Geist des Vaters, der ihn auffordert, ihn zu rächen, stürzt den jungen Prinzen in eine wahnhafte Verwirrung und eine derartige Wut, die ihn Ophelia misshandeln lässt. Er zerbricht an dem unerträglichen Zwiespalt  und tötet Fenge in nun fast endgültigem Wahn und übergibt die Krone an König Kollers Sohn Fortinbras, der in Dänemark einfiel um den Tod seines Vaters zu rächen. Das Ballett endet wie es begann. Im Schulzimmer. Der Prinz ruht auf dem Boden, ein aufgeschlagenes Buch über dem Gesicht. Enthält  das seine Geschichte? Handelt er irgendwann ebenso?  Oratio neckt ihn mit den Worten: Good night sweet Prince und An der Tafel steht nun in reinlicher Schrift: The Rest is silence …

Christopher Evans, Ensemble
Photo Credit alle Fotos: Kiran West

Eine spannende Einheit von Musik, Bühnenbild, Choreografie

Die Musik des englischen Komponisten Michael Tippett ist ebenso komplex, ergreifend und gewaltig wie die Szenen und Bilder, die Neumeier schafft, der neben Choreografie und Inszenierung auch für das Lichtkonzept verantwortlich zeichnet. Tippetts Sinfonie Nr.2 aus dem Jahr 1958, wie auch alle anderen Stücke vom Band kommend, gibt der Handlung des ersten Aktes einen passenden imposanten Rahmen. Im zweiten Akt bilden sein Divertimento on Sellingers Round für Kammerorchester (1954) und sein Triple Concerto für Violine, Viola, Cello und Orchester (1978/79) den musikalischen Rahmen für den zweiten Teil des Abends.

Sind die Bewegungen der Tänzer die sichtbar zum Ausdruck gebrachten Emotionen, Wünsche, Gefühle, so macht Tippett all dies akustisch spürbar. Da sind die Kriegsszenen: bombastische Klänge begleiten ein bildgewaltig aktionsreiches Szenario, bei dem eine so gut wie leere Bühne einmal mehr intensivere Wirkung zeigt als eine klassische Bühnenbildkulisse. Hier gibt es nur wenige, knapp mannshohe Metallrahmen, die als Barrikaden dienen, als Särge oder anderes.

Yaiza Coll
Photo Credit alle Fotos: Kiran West

Dafür verwendet Bühnen- und Kostümbildner Klaus Hellenstein übergroße Flaggen, die, geschwenkt, Tippetts kraftvollen Klängen wie auch akrobatisch tänzerischen Zweikämpfen oder Marschformationen den Hauch Dramatik mehr verleihen. Ein weiteres Beispiel für die Art, wie hier Musik, Handlung und Bewegung zu einem werden, ist die Hochzeit zwischen Horvandel und Geruth in Gegenüberstellung zu dem Pas de deux, das den ersten, leidenschaftlichen Ehebruch zeigt. Die Klänge zur Vermählungszeremonie haben etwas sphärisch Höfisches, beinahe religiös Anmutendes. Der Tanz dazu ist elegant und feierlich. Die Bewegungen sind, dies allerdings das gesamte Ballett über, häufiger als in anderen Neumeier-Kreationen, eckig, die Füße angewinkelt, nicht gestreckt, was die Förmlichkeit, das Gefangensein in Konventionen unterstreicht. Wie anders dann aber die Musik zu dem Pas de deux zwischen Geruth und Fenge, dem Mann den sie wirklich liebt! Sie unterstreicht die Leidenschaftlichkeit der Beziehung ebenso wie Geruths inneren Kampf, ihrem Bewusstsein das Verbrechen Ehebruch zu begehe. Dies mag hier und jetzt genügen, Neumeiers Geschick der Musikauswahl zu Handlungsballetten zu beschreiben, bei denen sie nicht bereits vorgegeben ist wie bei den Klassikern.

Edvin Revazov, Anna Laudere
Photo Credit alle Fotos: Kiran West

Beeindruckende Effekte- ganz ohne Effekthascherei

Klaus Hellensteins Ausstattung imponiert jedoch nicht nur durch ein geschickt umgesetztes Weniger ist Mehr in den Kriegsszenen. Es gelingt ihm im szenischen Bereich, zusammen mit Neumeiers Lichtregie, eindrucksvolle Effekte zu setzen, sei es durch eine semi-transparente Trennwand, die den Blick freigibt auf die Schatten schreitender Krieger oder Hofdamen, oder die blutrote, hochdramatisch ausgeleuchtete Wand, durch die majestätisch der Geist Horvendels tritt.
Nicht zuletzt ist da auch noch jener Vorhang dessen aufgemalte Welle mich an Katsushika Hokusais berühmtes Werk Die große Welle von Kanagawa denken lässt, und der in sanften Falten fallend die ertrinkende Ophelia unter sich verbirgt.

Edvin Revazov
Photo Credit alle Fotos: Kiran West

Doch auch die Kostüme haben, subtil aber eindrucksvoll, eine Aussage, die sich nicht allein auf die Persönlichkeit des Trägers oder seine gesellschaftliche Stellung bezieht. So empfangen die Hofdamen Hamlet bei seiner Rückkehr aus Wittenberg wortwörtlich vom Scheitel bis zur Sohle in schwarzes Tuch gehüllt unter dem sich schreiend großblumig gemusterte Kleider befinden. Ein optischer Missklang und Gegensatz zu der dramatischen Lage im Lande. Oder auch die wunderschönen blau oder violett changierenden oder schwarzen Ballkleider der Damen in der letzten Szene, dem großen Showdown von Rache, Verzweiflung und Wahn.

Eine Geschichte, nie wirklich  zu Ende erzählt.

John Neumeier ist bekannt dafür, seine Stücke immer wieder  intensiv oder auch nur geringfügig zu verändern. Am 13.6.2021 hatte Hamlet 21 an der Staatsoper Hamburg Premiere, aber John Neumeiers Interesse für dieses Stück Welt- und Schulliteratur aus der Feder William Shakespeares zeigte bereits 1976, also vor 45 Jahren, kreative Früchte in Form des Werkes Hamlet Connotations New York, bzw. Der Fall Hamlet in Stuttgart und ein Jahr später hier in Hamburg. Die Urfassung zu Hamlet 21 kam erst am 2. November 1985 mit dem Ensemble des Königlich Dänischen Theaters Kopenhagen unter dem Titel Amleth zur Uraufführung. Es folgte im Mai 1997 eine Neufassung für das Hamburg Ballett bis das Stück nun nach einer weiteren Neukonzeption, laut Neumeier selbst, „für unser Festival eine würdige Eröffnungspremiere ist.“

Anna Laudere
Photo Credit alle Fotos: Kiran West

Dies ist, wie der gesamte Anfang des Textes meiner Rezension, von Hamlet 21 aus dem vergangenem Jahr  entliehen. Und  doch möchte und muss ich etwas hinzufügen. Ja, immer noch endet das Stück mit der Standtafel und dem Schriftzug The Rest is silence mit Mozarts Don Giovanni als kurzes fröhliches Nachspiel. Nicht als Appell an die Moral, sondern um ein gutes Ende des Spieles im Spiel zu zeigen.
Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich etwas in einem Neumeier Ballett wirklich kritisiere, denn mir gefiel das eher offene, ernstere Ende, wesentlich besser. So scheint mir die Aussage ein wenig zu  verwässert, in ihrer Wirkung, wenn auch  nur um ein My, verringert. Andererseits ist dieses neue Ende vielleicht publikumsfreundlicher, stimmt positiv und hoffnungsfroh, denn  alle Totgeglaubten sind wieder da und auch Ophelia gesellt sich zu Hamlet und Oratio auf die Schulbank.

Unangefochene Begeisterung für alle Tänzer

Ensemble
Photo Credit alle Fotos: Kiran West

Edvin Revazov tanzte erst am vergangenen Donnerstag die Rolle des Tennessee in John Neumeiers Ballett Die Glasmenagerie und wird am 1.7. sein Rollendebüt als Leontes in Christopher Wheeldons A Winter`s Tale geben. Beides Partien, die  starke dramatische aber keinerlei humorvolle oder kindlich-naive Züge haben. Ganz anders Hamlet. Zumindest im ersten Teil  gibt Revazov Hamlet tänzerisch wie darstellerisch eine Unbeschwertheit, die schmunzeln lässt und ich so noch nie an ihm gesehen habe. Er ist einfach der kleine Junge, der junge Mann, der mit seiner Mutter scherzt, mit der militärischen Strenge des Vaters nichts anfangen kann und sich an seinem Flirt mit Ophelia erfreut. Aber er ist auch ebenso der zerrissene Rächer, der sich in Gewalt und Mord flüchtet, der Zyniker, der Mutter und Stiefvater anklagt. Diese Vielschichtigkeit zeigt sich auch in seinen tänzerischen Leistungen, seiner Fähigkeit mit dem gesamten Körper durch Sprünge, Schrittfolgen und Gesten Hamlets  Gefühlsregungen sichtbar zu machen.

Seine Szenen mit  Ophelia (Anna Laudere) sind, wie immer, von  absoluter Harmonie erfüllt.  Laudere ist eine wunderbare Ophelia, von  rührender Reinheit über überschwängliche Verliebtheit in Hamlet, pures Entsetzen ob seiner plötzlichen Brutalität bis hin zur in den  Selbstmord treibenden Verzweiflung, beherrscht sie berührend jede kleinste Nuance der Gefühlsklaviatur. Besonders wenn sie sich,  nun einen  vertrockneten Zweig und keine frischen Blumen mehr im Arm, durch enge Rahmen ähnlicher Versatzstücke zwängt, geht unter die Haut. Ihre außergewöhnliche Anmut, die sich für mich auch in extrem schönen Porte des Bras und Händen zeigt, unterstützt diese Ausstrahlung und intensiviert sie. Oder ist es umgekehrt? Macht ihr Ausdruck ihren Tanz so bemerkenswert?

Nicolas Gläsmann, Alexandr Trusch (Hamlet, 16.7. 21), Ensemble, Ivan Urban
Photo Credit alle Fotos: Kiran West

Wirklich bemerkenswert ist auch  Yaiza Coll als Geruth. Ihre Bewegungen sind von Grazie und Leichtigkeit geprägt und auch sie beherrscht die Kunst, mit  geringer Körpersprache und wenig Mimik sehr viel zu sagen. Das gilt für ihre Mutterliebe und Glück verströmenden Szenen mit Hamlet ebenso, wie für die unübersehbare Pflichtschuldigkeit, die sie Ihrem Gatten Horvendel, dargestellt von dem kriegerisch majestätischen Marc Jubete, oder  die verbotene Leidenschaft, die sie für Fenge, Félix Paquet, entgegenbringt. Gleich mit welchem Pas de deux-Partner, Coll überzeugt und begeistert. Félix Paquet,  Marc Jubete  und Christopher Evans (König Koll/Fortinbras) gehören neben dem Ensemble augenscheinlich zu den in diesen Balletttagen am meisten Beschäftigten, was aber ihrer Freude an Tanz und Spiel keinerlei Abbruch tut.  Ähnliches gilt für den wunderbar rezitierenden  Nicolas Gläsmann (Oratio) der hier eher seine angenehme Stimme als seine ebensolche Tanzkunst demonstriert, wie für den gestrengen, von Ivan Urban dargestellten,  Polonius. Und nicht zuletzt für die humorvoll akrobatisch versierten Gaukler: Borja Bermudez, David Rodriguez und Ricardo Urbina.

Fazit: Ein Abend  mit Leistungen, für die die Tänzer vielleicht noch viel mehr  Worte verdient haben, als ich gebrauchte, die Produktion aber wirklich genauso viel schriftliche Aufmerksamkeit Wert ist, wie ihr hier gegeben wurde. Doch live wurden die Tänzer, wie auch John Neumeier, der sich  während der Balletttage stets seinem Ensemble und dem Publikum dankend beim Schlussapplaus zeigt, mit viel absolut verdientem Jubel und Standing Ovation belohnt.

Birgit Kleinfeld , Vorstellungsbesuch 25.6.22

Links:
https://www.hamburgballett.de/
https://www.kiranwest.com/


 

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