Opern- und Leben(s)gestalten

Nomen ist nicht immer Omen, oft reicht er nicht allein, da hinter kann noch viel mehr „wohnen“! Kommt! Schaut doch einfach rein!

Bundesjugendballett – Die Unsichtbaren: Besonders. Vertrieben. Vergessen …

Dann ist er gefallen, der letzte Name auf der schier unendlich scheinenden Liste, die von A-Z all die Künstler nennt, die den „Säuberungsaktionen“ der Nazis zum Opfer fielen. Warum?
Entweder wegen ihrer  religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit, sexuellen Orientierung oder auch  weil ihre Kunst zu neu, zu experimentell anmutete. Auch der Vorhang fällt. Öffnet er sich wieder so gibt er nicht den Blick frei auf die Protagonisten  sondern,  passend zum Titel, auf zwei riesige leere Leinwände.
So endet John Neumeiers Ballett Collage Die Unsichtbaren, dessen Uraufführung im Ernst Deutsch Theater stattfand und die 47. Hamburger Balletttage eröffnete.

Credit aller Fotos: Kiran West

Diese letzten Minuten haben, negativ ausgedrückt, etwas von dem mahnend erhobenen Zeigefinger, der nur mahnend erhoben wirkt, weil er leise aber intensiv an einer Saite rührt, die irgendwo tief im Inneren Scham erzeugt und vielleicht sogar Schmerz. Sind doch die damaligen Taten und ihre Opfer leicht zu verdrängen. Aber vergessen …?
Positiv rundet er zusammen mit der begleitenden, von Peter Schmidt  kuratierten, Ausstellung Verstummte Stimmen einen unterhaltenden, nachdenklich machenden  Abend ab und entlässt die Zuschauer*innen gedankenvoll und begeistert in eine tolerante(re)  Realität.  Und viele/ich  werde(n) mit Sicherheit Internet und Co. benutzen um zumindest jenen im Stück erwähnten Künstlern posthum Aufmerksamkeit zu schenken, sie nie zu vergessen und sich der Sinnlosigkeit solchen politischen, ausgrenzenden Verhaltens bewusst zu werden. Gründlich. Nachhaltig.

Credit aller Fotos: Kiran West

Neumeier  verwendet Musik von – unter anderem – Gluck, Korngold und Stravinsky, Lieder  wie Irgendwo auf der Welt, Frag nicht warum ich gehe, Marschlied Erika und beschließt den Musik untermalten Teil des Stückes mit Bohemian Rhapsody von Queen. Besonders eindrucksvoll ist die Verwendung des Liedes With God on our Side von Bob Dylan, da verschiedene Persönlichkeiten und Gruppierungen die Unterstützung Gottes  für sich beanspruchen, glauben ihn zu haben. Ebenso geschickt verwebt Neumeier die Tanz- und Darstellungskünste der jungen Tänzer*innen des Bundesjugendballetts (BJB) mit dem Können der erfahrenen Schauspieler Isabella Vértes-Schütter, Louisa Stroux und Maximilian von Mühlen zu einer Collage aus Tanz und authentischen, ebenso versiert wie einfühlsam vorgetragenen Texten. Diese Briefe und Reden stammen aus den Federn von bekannten Persönlichkeiten wie Mary Wigman und Rudolf von Laban. Beide stehen für die Anfänge des Modern Dance, eine neue, dem menschlichen Körper mehr entsprechende Art von Bewegungsabläufen.

Credit aller Fotos: Kiran West

Isabella Vértes-Schütter ist Mary Wigman. Am Anfang des Stückes von den jungen Balletttänzern des BJB als Ikone des Tanzes auf die Bühne geholt, erzählt sie glaubhaft, authentisch und sehr gefühlvoll das Leben Wigmans. Vértes-Schütter ist eine Grande Dame des Theaters, die mit kleinen Gesten viel erreicht. Ist omnipräsent auch in den Tanzszenen ohne jedoch jemals den Tänzern die Schau zu stehlen, und doch würde etwas fehlen, wäre sie nicht anwesend in diesen Szenen. Besonders beeindruckend die Anklage und Verteidigung genannte Szene. Minutenlang sitzt sie regungslos auf einem Podest auf einem Stuhl. Währenddessen liefern sich ihre Kollegen Louisa Stroux und Maximilian von Mühlen ein heftiges Wortgefecht (Text: Ralf Stabel), bei dem von Mühlen die Einstellung von Mary Wigman zu den Nazis verteidigt,  während Stoux  die Anklage übernimmt.

Credit aller Fotos: Kiran West

Stoux und von Mühlen zitieren oder rezitieren Texte von weiteren Künstlern, die den Nazis ein Dorn im Auge waren  und die verurteilt worden oder- mit Glück – das nicht mehr geliebte Vaterland, das sie nicht mehr verstanden, verließen. Stoux zum Beispiel, schlüpft in die Haut der Mutter Margot Kiehl, die das Ministerium des Innern darum bittet,  ihre Tochter, obwohl diese nicht rein arisch sei, doch weiter Tanzen lernen zu lassen, da doch Großvater wie Urgroßvater dem Reich in zwei Kriegen (1870/1914) dienten. Nicht in dieser Rolle überzeugt Stroux, doch ist es die Szene, in der sie am meisten berührt. Maximilian von Mühlen spricht die ablehnende Antwort und stellt auch die anderen, Regierungs- und damit Hitlertreuen, Rollen auf eine Art und Weise dar,  dass man buhen  oder faules Obst werfen möchte um diesen widerlichen Personen, die er so fantastisch verkörpert, zu zeigen, was man von ihren Worten und Taten hält. Um  es noch einmal klar  zu sagen: Bravo, Herr von Mühlen!

Credit aller Fotos: Kiran West

Aber natürlich lag das Hauptaugenmerk auf den jungen Tänzern, die sich sympathisch und fröhlich vorstellten und von denen keiner im Laufe des Stückes  auch nur den geringsten Zweifel daran ließ, dass sie nicht nur ihren Beruf, sondern ihre Berufung gefunden haben.
Abende wie dieser sind bei Neumeier immer Produktionen, bei denen das gesamte Ensemble im Mittelpunkt steht. Hier also Lormaigne Bockmühl, Giuseppe Conte (a.G.), Justine Cramer, Pepijn Gelderman, Lennard Giesenberg, Thomas Krähenbühl, João Vitor Santana, Mirabelle Seymour, Ida-Sofia Stempelmann (a.G.) und Anna Zavalloni. Alle boten großartige Leistungen, sei es  im Ensemble, im Pas de deux oder im Solo.

Doch gibt es  einige Tänzer*innen bzw. Szenen, die besonders im Gedächtnis bleiben. Zum einen Raymond Hilbert, Ballettmeister des BJB. Er porträtiert Harald Kreutzberg, der, ausgebildet von Mary Wigman, weltweit solistisch oder mit Partnerin wie Yvonne Georgi oder Ruth Page gastierte. Er war ein Ausnahmetalent, sah seine Kunst als unpolitisch und wurde doch von der Regierung nicht nur geduldet, doch auch benutzt. In seinem selbst choreografierten Tanz zur Musik von Erich Wolfgang Korngold gelingt es Hilbert, das Kreuzberg bescheinigte Charisma und auch dessen geschickte Dramaturgie und Figurenführung  spürbar zu machen und  durch sein eigenes Können und seinen subtilen Humor zum Schmunzeln zu bringen und zu begeistern.

Credit aller Fotos: Kiran West

Anders Giovanni Conte und Pepijn Gelderman. Ihre Darbietung als Liebende, oder auch im von Alexander von Swaine als Pas de deux angelegten  L’après-midi d’un faune, berührt durch  Sinnlichkeit im Bühnenstück. In den Szenen, die  das Leben von Swaines  (Giuseppe Conte) skizzieren, gelingt es beiden jungen Tänzern, die zärtliche, doch auch von Verzweiflung geprägte Zärtlichkeit und Liebe zwischen dem Tänzer und Choreografen und seiner Liebe zu vermitteln.  Von Swaine, von Zeitgenossen mit Nijinski verglichen, wurde des Vergehens nach §175 bezichtigt und verurteilt. Er starb in Cuernavaca im Jahr 1991. Erst 2002 wurde jenen nach §175 nachträglich Straffreiheit gewährt.

 Der Hamburger Lennard Geldermann verkörpert nicht nur tänzerisch überzeugend zum einen Jean Weidt, einen  ebenfalls in Hamburg geborenen Tänzer, der sich als durchaus politischen Tänzer verstand und immigrieren musste, sondern eben auch Rudolf von Laban. Beiden gibt er mit der gleichen Empathie  mit der er tanzt seine Stimme, rezitiert deren Gedanken und Texte ernsthaft, authentisch und ohne Pathos. 

Credit aller Fotos: Kiran West

 Vielleicht ist Ida-Sofia Stempelmann zu nennen, sucht man nach einer Protagonistin, einer Hauptrolle. Denn sie  eröffnet das Stück und ihre Kollegen folgen ihr  nach und nach, gleich einem getanzten Kanon. Aber  nicht nur das, sie schlüpft auch in die Rolle der Palucca, die berühmt ist für  den rein tänzerischen Inhalt ihrer Darbietungen, die die Liebe zu diesem Kunstgenre in jeder einzelnen Bewegung sichtbar machen. Zum Ende des Stückes  zeigt Ida Stempelmann dann ihre Vielseitigkeit: Die Leichtigkeit und Freude am Tanz weicht der Fähigkeit, auch Leid und Schwere mit dem Körper auszudrücken.

Das Publikum dankte ihr und ihren Kollegen, inklusive auch der Musiker, diese Leistung mit lang anhaltendem Applaus und Standing Ovation. Dies, und die sichtbare Freude der Protagonisten, erfüllten mit einer Art Dankbarkeit, in einer Welt zu leben, in der Künstler sie selbst sein dürfen und so auch uns bereichern.

Credit aller Fotos: Kiran West

Fazit:  Natürlich ist dieser Text nicht mehr als ein Teller, eine große Schale, die man mit Häppchen eines köstlichen, umfangreichen Büfetts füllt, passend zu Neumeiers Fähigkeit, die Haupthandlung, den Haupttanz stets mit vielen Details zu verstärken, die man mit einem Vorstellungsbesuch nicht wirklich alle erfassen kann. Es einen schönen Abend zu nennen, fühlt sich ob des Themas nicht richtig an, faszinierend passt besser. Und ich möchte mich dem anschließen, was mir ein Ensemblemitglied vor der Vorstellung sagte: Es ist ein  tolles Stück. Es bewegt, ohne niederzudrücken. Man spürt eher den Wunsch, es besser zu machen.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch Uraufführung 16.6.22

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

Antworten

© 2023 Opern- und Leben(s)gestalten

Thema von Anders Norén