Vor etwa zwei Wochen gab die Sopranistin Aida Garifullina als Violetta in Giuseppe Verdis La Traviata ihr umjubeltes Hausdebüt an der Staatsoper Hamburg, worüber operngestalten.de gerne berichtete. Ein und dieselbe Oper mit einer außergewöhnlichen Besetzung in ein und derselben Aufführungsserie erleben zu dürfen, hat etwas Besonderes. Denn bei gleichbleibender Qualität gibt es dennoch kleine Variationen im Erleben. Noch interessanter ist es jedoch, in kurzer Zeit eine mitreißende Oper wie La Traviata mit zwei unterschiedlichen Hauptdarstellerinnen und -darstellern zu erleben. Denn nun steht die tragische Geschichte um die Liebe einer lungenkranken Kurtisane und eines jungen Mannes aus gutem Hause erneut auf dem Spielplan der Italienischen Opernwochen der Staatsoper Hamburg. Dieses Mal mit Elbenita Kajtazi in der Titelrolle und mit Stephen Castello als Alfredo an ihrer Seite. Kajtazi gab ein weiteres Rollendebüt – zumindest – hier am Haus und wurde für ihre hervorragende Leistung schon beim ersten Vorhang, der immer Violetta alleine gilt, mit Standing Ovation des gesamten Parkettpublikums belohnt.

Foto: Ida Aldrian
Ist die Geschichte auch bekannt, Erath lässt Fragen offen
Operngestalten berichtete (siehe die Links unten) schon des Öfteren recht ausführlich über Johannes Eraths Inszenierung, die sich in der rückblickenden Erzählart eher an die Romanvorlage von Alexandre Dumas als an Francesco Maria Piaves Libretto hält. Dennoch – oder darum? – habe ich mich entschlossen, Ihnen, bevor ich meine Eindrücke der Vorstellung schildere, einen kleinen Einblick in mein Gedankenkarussell zu dieser Produktion und der Geschichte im Allgemeinen zu geben. Das Wort Karussell ist mit Bedacht gewählt, denn Erath lässt seine La Traviata auf einem typischen Jahrmarktsfahrgeschäft spielen: Dem Auto-Scooter. Warum? Bei der Premiere vor neun Jahren verwirrte mich diese Szenerie derart, dass ich von den Leistungen der Sänger völlig abgelenkt war und sie nicht genießen konnte. Denn zum einem passt der Rückblick nicht wirklich zum Libretto und wenn es dennschon so sein muss, warum wird nicht deutlicher gemacht, dass Alfredo, ähnlich wie Armand im Buch, das Tagebuch der Verstorbenen liest? Dieser Frage nachzugehen ist müßig, doch es ist schade, dass Erath darauf verzichtet, anders als im Buch, einen Bezug von Violetta/Maguerite zu Abbé Prevosts Manon Lescaut. Meiner Meinung nach wäre dies nur konsequent, wenn schon, wie auch in John Neumeiers Ballett, aus der Sicht des liebenden jungen Mannes Alfredo/Armand erzählt wird. Zumindest irgendwie, denn im letzten Bild stirbt Violetta bei Erath ja bevor Alfredo sie in die Arme schließen kann. Und ob es Violettas Seele ist oder eine Traumversion Alfredos, in der die finale Liebesszene spielt, wird leider nicht deutlich.

Statt eine Verbindung zwischen der Luxusfrau Manon aus dem 18. Jahrhundert und Violetta herzustellen, verlegt Erath also die Handlung nicht nur auf den Standplatz eines Auto-Scooter-Fahrgeschäfts sondern lässt, augenscheinlich nur für Violetta sichtbar, Zirkus/Jahrmarktsartisten auftreten. Was den Scooter betrifft, erkläre ich mir das damit, dass vielleicht ein subtiler Bezug zum Heute hergestellt wurde. Da diese Karussellart ja ein beliebter Treffpunkt der Jugend ist, um anzubandeln und erste (erotische) Kontakte zu knüpfen. Den Bezug zu Schauerstellern und Artisten sehe ich im Buch nicht. Doch glaube ich mich daran zu erinnern, dass Regisseur Mauro Bolognini in seinem Film von 1981 Die Kameliendame, der laut Untertitel die wahre Geschichte der wahren Kameliendame, nämlich Alphonsine Plessis (alias Marie Duplessis), erzählt, einen Bezug zwischen Schaustellern und der jungen Modistin und Kurtisane schafft. Inzwischen erkläre ich mir diese Artisten mit einer Art Boten oder Führer, die Violetta den Weg in eine Welt voller Licht und ohne Schmerzen nach ihrem irdischen Leben weisen, den sie am Ende freudig und mit offenen Armen beschreitet.

Der letzte verwirrende Punkt sind die über die Bühne wirbelnden Herbstblätter zwischen dem ersten Bild, eigentlich Violettas Salon, und dem zweiten, das sich mit dem idyllischen Liebesleben von Violetta und Alfredo ohne Luxus auf dem Lande beschäftigt. Sollen diese Blätter schon das Ende andeuten? Ich weiß es einfach nicht und fand auch keine für mich schlüssige Erklärung im Programmheft.
Soweit meine Gedanken zu einer Produktion, die längst nicht mehr meine Fähigkeit zu genießen beeinflusst. Auch wenn ich, die ich ungewöhnliche Interpretationen durchaus zu schätzen weiß, mir für die Traviata manchmal doch ein traditionell klassisches Ambiente wünsche. Da es ein Rahmen wäre, der leichter, ohne den Hang verstehen zu wollen, Verdis schöne, vielschichtige Musik genießen lässt. Wie schon am 6.3. gelang es Stefano Ranzani und dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg auch bei dieser Vorstellung, Verdis Melodien so zum Klingen zu bringen, dass sie solide und verlässlich ihren Zauber entfalten konnten.

Die Nebenrollen waren mit Ausnahme von Hubert Kowalczyk (Il Marchese d’Obigny) und Seungwoo Simon Yang (IOS) (Giovanni) gleich besetzt mit Ida Aldrian (Flora), Katja Pieweck (Annina), Peter Gaillard (Gastone) und den beiden anderen jungen Herren vom Internationalen Opernstudio Hamburg (IOS) David Minseok Kang (Il Dottore Grenvil) und Nicholas Mogg (Il Barone Douphol). Und wie damals überzeugten sie und der Chor der Hamburgischen Staatoper stimmlich wie auch durch ihr Spiel.
Elbenita Kajtazi, Stephen Costello und Artur Rucinski in den Hauptrollen waren ein Trio, das keine Wünsche offen ließ. Durch ihre Intensität und Energie entstand eine Spannung zwischen Bühne und Zuschauern, der schadete, was sonst immer hochwillkommen ist: Szenenapplaus. Es glich einem abrupten Erwachen wurde nach einer Arie oder einem Duett, das aber Teil einer größeren Szene ist, zu früh geklatscht. Dennoch, dem Genuss an dieser Vorstellung tat dies immer nur für wenige Sekunden Abbruch, denn die Begeisterung war stets verdient.

Artur Rucinskis Vater Germont war wieder geprägt von einer Mischung patriarchischer Strenge und Mitgefühl für jene Frau, die seinen Sohn aufrichtig liebt, aber so gar nicht in sein provinzielles, provenzalisches Bild passt. Durch unaufdringlich authentisches Spiel und ebenso modellierter Stimme bestach er in der großen Szene mit Violetta. Seine Arie Di provenza il mar dann vermittelte ebenfalls tiefe Gefühle und begeisterte durch seinen mit kühler, wohlklingender Eleganz geführten Bariton.
Auch dank Stephen Costello als Alfredo war dieser Vater-Sohn-Moment von Dramatik geprägt und damit mehr als schöne Melodie. Ja, Dramatik, Spannung sind die beiden Begriffe, die diesen Abend am besten beschreiben. Denn auch der sehr kurzfristig eingesprungene Costello hat viel mehr zu bieten als einen wunderschönen, leicht metallischen Tenor und sichere, klare Spitzentöne. Er war der Alfredo meiner ersten Erath-Traviata und ungerechtfertigterweise stand ich ihm daher ein wenig skeptisch gegenüber, obwohl ja ich es war, die sich ablenken ließ von ungewohnter Szenerie. Umso größer und positiver war daher meine Überraschung, dass er wirklich zu jenen gehört, die auch bei Partien, die sie oft singen, nicht in Routine abgleiten. Denn Alfredos Entwicklung vom verliebten Jüngling über den verzweifelt zornigen Verlassenen bis hin zum tief Trauernden, verlieh er darstellerisch wie stimmlich viele Facetten.

Foto-Credits: Staatsoper Hamburg
Doch, wie schon bei ihrem Debüt als Manon in Jules Massenet gleichnamiger Oper, war sie es, die am meisten faszinierte: Elbenita Kajtazi . Unbeschwert flirtete sie mit Alfredo, machte dann mühelos den freudigen Schrecken spürbar, der Violetta bei È strano!… è strano!/ Follie!… follie!/ Sempre libera degg’io erfüllt. Es ist ein etwas abgegriffener Ausdruck, doch trifft er auf Kajtazi zu: sie lebt die Rolle. Mit unzählbaren Nuancen von kleinen Gesten und Mimik wie auch mit Körpereinsatz erweckt sie Violetta zum Leben. Stets berührte ihre emotionale Intensität, nie wirkte sie aufgesetzt oder gar übertrieben. Ihr strahlend heller Sopran, dem sie scheinbar ohne Mühe in allen Registern die schönsten Töne entlockte, macht ihre Leistung noch umso bewunderungswerter. Vor Kajtazi liegt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine große Karriere, die ihr von Herzen gegönnt ist, führt sie sie auch ebenso wahrscheinlich von der Staatsoper Hamburg fort. Möge sie bis dahin noch oft als Manon, Traviata oder in anderen Partien begeistern .Als nächstes steht die Adina aus Gaetanos Donizettis L’Elisir d’Amore an (12., 16., 18., 22.4), wo wir die junge Sängerin von einer anderen Seite kennenlernen können und werden.
Fazit: Es war einfach eine, zu Recht mit Standing Ovation bedachte, Vorstellung. Punkt.
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