Opern- und Leben(s)gestalten

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Hamburg Ballett – Liliom: Azatyan/Cojocaru oder Revazov/Praetorius? Gerne beide!

Alle Bilder vom 22.2.22 Bilder und Bericht zur Wiederaufnahme hier :https://operngestalten.de/2022/02/23/hamburg-ballett-liliom-wenn-liebe-atmet/

So sehr ich es auch liebe über zwei verschiedene Besetzungen ein und desselben Balletts zu schreiben, dies in zwei verschiedenen Berichten zu tun, liegt mir einfach nicht. Besonders wenn nur ein „freier“ Tag die beiden Aufführungen trennt. Darum gab es zunächst unter dem Titel Wenn Liebe atmet einen kurzen szenisch- musikalischen Appetizer zu John Neumeiers  wieder aufgenommenem Ballett Liliom an der Staatsoper Hamburg, so dass ich nun Zeit und Muße habe, über beide Besetzungen zu schreiben. Verschiedene Künstler unter dem Mantel vorgeblicher  Objektivität zu werten, fiel mir schon immer recht leicht. Denn Rezensionen sind immer subjektiv. Egal wie oft man „man“ statt „ich“ verwendet oder einer Meinung  den Anschein gibt, eine Tatsache  zu sein. Was diese Aufführungsserie von Liliom betrifft ist es eine Tatsache, dass meiner Meinung nach beide Besetzungen wunderbar und mehr als nur sehenswert sind. Schon Karen Azatyan und Alina Cojocaru zogen mich absolut in ihren Bann und hinein in die Geschichte von Liebe und Leid von Liliom und Julie. Besonders aber Edvin Revazov, der alternierend mit Azatyan  die Titelrolle tanzt, schlug in mir eine Saite an, die nach seiner Leistung  am 22.2.22 tiefer ging als reine Begeisterung

Ida Praetorius, Matias Oberlin.
Edvin Revazov, Francesco Cortese
Alle Fotos: Kiran West

Wie in „Wenn Liebe atmet“ zumindest angedeutet, erzählt Liliom  die Geschichte eines Menschen, der sein Leben auf dem Jahrmarkt, das er liebt, aufgibt um mit seiner wahren Liebe seriös zu werden, doch er scheitert an Arbeitslosigkeit und hilfloser Wut, die ihn aggressiv macht. Nach dem aus Verzweiflung geborenen Entschluss bei einem Raubüberfall mitzumachen, richtet er sich selbst. Im Jenseits werden seine schlechten gegen seine guten Taten aufgewogen und nach 16 Jahren erhält er die Möglichkeit, seinem inzwischen halbwüchsigen Sohn als eine Art mystischer Versöhnung einen gestohlenen Stern zu bringen. Natürlich steckt in der Geschichte viel mehr als diese wenigen Worte aussagen. Das zeigt sich auch wunderbar in Michel Legrands Musik: An den Akkordeonklängen, die den Jahrmarkt symbolisieren, und auch beim ersten Liebes-pas de deux. Neben dem Liebesthema hörbar sind die sinnlich, Leben fordernden Bigband Klänge, der Marsch der Arbeitslosen und vieles mehr.

Edvin Revazov, Ida Praetorius
Alle Fotos: Kiran West

Das Ballettensemble schlüpfte in beiden Vorstellungen in die unterschiedlichsten Rollen, sei es in Gruppen als Jahrmarktsbesucher, Arbeitslose oder Hochzeitsgäste, und überzeugte ein Mal mehr mit Tanz und Spielfreude. Das gilt auch für die wichtigen,  wenn auch tänzerisch nicht sehr umfangreichen, unterstützenden Rollen, wie den schüchternen Jungen, Julies Verehrer, den Atte Kilpinen an beiden Abenden porträtierte oder auch Louis Hasloh als rührender Trauriger Clown, der auf unauffällige Art immer irgendwo und irgendwie präsent zu sein scheint. Die Rolle des Konzipisten im Jenseits, einer Art Richter, teilten sich Nicolas Gläsmann und Lasse Cabalero (22.2.22). Gläsmann glänzte mit fast ätherischer Eleganz, Cabalero mit elegantem Stolz.

Edvin Revazov, Ida Praetorius
Alle Fotos: Kiran West

Aber natürlich sind es die Protagonisten, allen voran die beiden Herren, die jeweils die Hauptrolle tanzten, die dem Stück etwas geben, das der andere nicht auf gleiche Weise geben kann: So sind in Revazovs Liliom auch die Eigenschaften, die ich Azatyan in meiner Überschrift zuschreibe, zu entdecken  und umgekehrt. Nur halt mit anderer Intensität und so andere Saiten im Zuschauer ansprechend.

    

Karen Azatyan: Liliom der zornige Wommanizer

Karen Azatyan zeichnet schon durch seine Erscheinung seinen Liliom als die Art Mann aus, die gewisse Vergnügungen und gleichzeitig aber auch Stärke und Schutz versprechen. Er genießt es, wie die jungen Mädchen  auf dem Jahrmarkt seinetwegen kreischen, ihn umschwärmen und sich ihm regelrecht an den Hals werfen. Azatyans Bewegungen strotzen vor Kraft, Können und ausdrucksvoller Selbstsicherheit. Er ist Frau Muskat, seiner Chefin, gewachsen und mehr als nur geschmeichelt von ihren sexuellen Forderungen  an ihn.

Edvin Revazov, Patricia Frizza
Alle Fotos: Kiran West


Anna Laudere, sonst meist Tanzpartnerin ihres Gatten, Edvin Revazov,  bezaubert wie stets durch federleichte Anmut, mit gewohnt wunderschönen Händen und der Fähigkeit, durch Bewegung und Mimik die dominante und eifersüchtige Frau Muskat zum Leben zu erwecken. Ihre Soli zu den Tönen der Bigband füllt sie mit viel entschlossener Sinnlichkeit und auch verhaltener Wut. Azatyans und  ihre Pas de deuxs sind ästhetisch faszinierend und drehen sich darum, dem anderen den eigenen Willen aufzudrücken, was der jeweils andere zu genießen scheint. Ganz anders die Szenen zwischen Azatyan und Julie, getanzt von Alina Cojocaru. Sie, zart und bescheiden, sieht mehr in Liliom. Sie liebt ihn mit all seinen Fehlern, seiner Unzufriedenheit, die ihn dazu bringt, sie zu schlagen. Besonders ihr erstes Liebes-pas de deux ist von berührender Innigkeit. Ihre Sanftheit gibt ihm mit jeder Bewegung, jedem Sprung, jeder Geste den Mut, sich fallen zu lassen. Cojocaru ist eine wundervoll hingebungsvolle Julie, die die Hoffnung nie wirklich verliert. Ihre Szene, wenn sie dem sterbenden und dann toten Liliom ihre Liebe beweist, geht unter die Haut. Sie und Azatyan lassen besonders hier keinen Zweifel an der großen komplizierten Liebe, die sie verbindet.

Yaiza Coll, Borja Bermudez
Alle Fotos: Kiran West

Cojocarus kleine Gesten sind subtil, doch eindrucksvoll. Sei es  wenn sie sich über die geschlagene Wange streicht oder ihrem Sohn Louis, wunderbar authentisch mit jugendlichem Unmut und weichen, wie ausdrucksvoll eckigen Bewegungen von Louis Musin getanzt, in den Sternen den verstorbenen Vater zeigt. Wenn Louis und Liliom aufeinander treffen, entspinnt sich eine Szene voller  vielschichtiger Emotionen ähnlich der Pas de Quatres mit Florian Pohl, dem fast omnipräsenten Mann mit den Luftballons. Er ist der Bote zwischen den Welten, führt und unterstützt mit lebensfroh bunten, Liebesnacht tiefblauen und reinweißen Ballons im Jenseits. An Reinheit, aber dafür nicht an Verschlagenheit, fehlt es dem herrlich schmierigen, niederträchtigen Aleix Martinez als Ficsur, einem Banditen, der Liliom nach einigen Bemühungen zum Verbrechen verführt. Martinez gelingt es, bewundernde Abneigung hervorzurufen, man möchte Liliom warnen  vor diesem Mann, dessen Bewegungen auch Qualen ausdrücken.
Letztlich ist da aber auch das unbeschwerte Liebespaar, das seinen Weg geht, liebevoll und auch erfolgreich.

Francesco Cortese, Edvin Revazov
Alle Fotos: Kiran West


Emilie Mazon, als Julies Freundin Marie, besitzt jenen mädchenhaften Charme, der mich an ihre Mutter Gigi Hyatt erinnert ohne eine jüngere Kopie von ihr zu sein. Sie schwebt geradezu in die und in den Armen ihres Liebsten Wolf (Allesandro Frola). Ihr erstes Pas de deux zeigt alle Nuancen einer beginnenden Liebe, die zum Lächeln bringen.  Von Tollpatschigkeit bis hin zu selbst vergessener Verliebtheit. Es ist eine Freude, den beiden zuzusehen, zumal es beiden Darstellern gelingt, neben der Freude auch Mitgefühl mit den Freunden Liliom und Julie aufzubringen.

Fazit: eine klug gewählte Besetzung, deren Leistung noch lange nachklingt und auch nachdenklich macht, was die Zeitlosigkeit der Geschichte angeht. Jeden dieser Menschen finden wir auch im wahren Leben wieder.

Matias Oberlin
Alle Fotos: Kiran West

Edvin Revazov: Liliom, der (un)glücklich Zerrissene

Natürlich, gilt das eben genannte Fazit auch für die Besetzung am 22.2.22. Es sind halt nur andere Typen von wie aus dem Leben gegriffenen Personen, die  sie uns zeigen.
Als erstes natürlich Edvin Revazov in der Hauptrolle, auch sein Liliom ist die Typ Mann, die jene gewissen Vergnügungen verspricht. Doch sein Charme ist der eines Menschen, der sich seiner Anziehung nicht wirklich bewusst ist, was ihn irgendwie gefährlicher, weil weniger berechenbar, macht. Seine Freude daran, mit den Mädchen zu flirten oder auch sich Patricia Frizza als Frau Muskat hinzugeben, ist nicht von dieser Unbeschwertheit getragen wie bei Azatyan. Er schlägt eine andere Saite an, berührt tiefer. Vielleicht liegt es daran, dass er uns von Anfang an einen Blick in Liloms zerrissene Seele werfen lässt. Seine Bewegungen sind nicht weniger kraftvoll aber weicher, seine Sehnsucht nach wahrer Liebe, seine Angst zu Versagen, seine Reue greifbarer.

Edvin Revazov, Marc Jubete
Alle Fotos: Kiran West

Auch Ida Praetorius ist eine absolut hinreißende Julie, die reifer wirkt aber nicht weniger hingebungsvoll oder ausdrucksvoll in den kleinen und Großen Gesten in jeder Szene. Sie passt wunderbar in ihrer Darstellung zu der von Revazov.
Ebenso wie Patricia Frizza, die auf wunderbare Art und Weise ein bisschen herrischer wirkt als Laudere, was aber natürlich auch mit der sensibleren Ausstrahlung Revazovs  zusammenhängt. Sie fasziniert durch die Schönheit ihres Tanzes jedoch gleichermaßen.

Auch Francesco Cortese als Louis und Matias Oberlin als Mann mit den Ballons stehen ihren Vorgängern, was Können und Ausdruck betrifft, in nichts nach. Marc Juberte wirkt als Ficsur bedrohlicher und gefährlicher, doch auf keinen Fall weniger faszinierend als Martinez. Und Yaiza Coll, deren Wandlungsfähigkeit und darstellerische wie tänzerische Ausdruckskraft mir immer wieder auffällt, und Borja Bermudez erfreuen in jeder Hinsicht als Marie und Wolf,  verleihen den Rollen einen ganz eigenen Flair.

Fazit: Früher besuchte ich Opern- wie auch Ballettvorstellungen hauptsächlich personengebunden, „wusste“ schon vorher, dass nur meine bevorzugten Tänzer/Sänger  mir wirklich gefallen würden. Seit längerer Zeit hat sich das jedoch geändert: Ich weiß, dass Diversität (auch) in  der Kunst, in Oper und Ballett, unabdingbar ist und dass, wer sich darauf einlässt, viel mehr Genuss erfährt und positive Überraschungen erlebt.

Birgit Kleinfeld (Vorstellungsbesuch 22.2.22)

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