Tod in Venedig ist eines der Ballette, die John Neumeier für sein Hamburg Ballett nach einer literarischen Vorlage kreierte, nämlich Thomas Manns gleichnamige Novelle. In der letzten Vorstellungen dieser Aufführungsserie tanzen Christopher Evans und Atte Kiplinen an der Staatsoper Hamburg die Hauptrollen des Gustav von Aschenbach und dessen platonischer letzten Liebe Tadzio. Thomas Mann nannte sein Werk Tragödie einer Erniedrigung, John Neumeier sein Ballett einen Totentanz. Das Ballett ist beides, doch am Ende scheint die Erniedrigung weggewaschen und es bleibt der Tod, der in einem (Traum)Moment der Liebe eintritt. Die Bühnenbilder von Peter Schmidt, meist Projektionen aus der Natur, und die elegant dezenten Kostüme von Schmidt und Neumeier lassen viel Raum für Tanz, Illusionen und das Sich Einlassen auf Musik und Geschichte.
Viel Popularität erlangte Manns Werk auch durch Benjamin Brittens Oper von 1973 und noch mehr durch Luchino Viscontis inzwischen zu einem Kultfilm avancierten Werk mit Dirk Bogarde als Komponist Gustav von Aschenbach und Björn Andresen als Tadzio. Visconti bediente sich als Untermalung, ja Leid- oder Leidensmotiv, Gustav Mahlers Adagietto aus der 5. Sinfonie. Auch Neumeier änderte von Aschenbachs Profession, machte aus dem Schriftsteller der Novelle einen Choreografen, doch ist seine Musikauswahl eine andere. Er greift unter anderem auf Werke des Meisters der strengen Formen, Johann Sebastian Bach, zurück aber auch und das im Laufe des Stückes mehr und mehr, auf Musik von Richard Wagner.

Alle Fotos: Kiran West
Bach passt gut zu dem asketischen, hyperdisziplinierten Aschenbach vom ersten Teil des Abends. Dem Künstler, der selbst die Vorbereitungen zu seiner Arbeit oder das Trinken des Kaffees in einem vorgegebenen Takt zelebriert. Auch bei der Arbeit mit seinen Tänzern, dem Ensemble, wie auch seinem Friedrich der Große, La Barbarina und namenlosen Tanzpaar, genannt Aschenbachs Konzepte, führt er ein hartes Regiment bei dem Gefühle oder auch Mitgefühl ihm gegenüber keinen Platz haben. Dennoch erklingt auch hier schon Wagner. Zuerst eine Elegie und dann, als Aschenbach aufgrund der sich selbst gestellten Ansprüche zusammenbricht, ist es Isoldes Liebestod aus Tristan und Isolde, der erklingt. Von nun an wechseln Bach und Wagner sich ab. Doch es sind jene Bachwerke, die trotz oder vielleicht doch wegen, ihrer Formstrenge einer gewissen Leichtigkeit oder Emotionalität Raum geben.
Und doch geht es nicht ohne Bach, denn er ist es, der Aschenbach auch in Venedig seinen Halt gibt und gleichzeitig kann er sich doch auch mit ihm fallen lassen, sich Träumen von und mit Tadzio hingeben, dem Jungen in den er sich in Liebe verliert, dem er aber nur in Tagträumen nahe sein kann, denn in der Realität ist er kaum zu einer Interaktion mit ihm fähig. Seiner Begierde kann er nur in einem geträumten Bacchanal nachgeben und hier, wo Reinheit fehl am Platz und auch nicht erwünscht ist, herrscht wieder Wagner vor, und zwar dessen furioses Bacchanal aus der Oper Tannhäuser. Aschenbach erwacht aus diesem Bacchanal mit Lippenstift- oder Rougeflecken auf dem rein weißen Hemd. Oder ist es doch Granatapfelsaft, den er in der Novelle trinkt und der laut einiger Interpretationen als der Trunk des Hades und ein Symbol für den nahenden Tod gilt?

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Diese Musik endet erst, als Aschenbach sich zu einem geschminkten Gecken mit gefärbter Perücke verwandelt/ erniedrigt hat. Jetzt kann er Tadzio auch weniger scheu entgegentreten und ihm am Strand den Ball zuwerfen. Musikalisch wie szenisch fast so aufregend wie das Bacchanal, ist der Totentanz der Choleraepedemie. Es ist die Adaption für Gitarre(n)von Jethro Tull des 5.Satzes der Bachsuite für Laute. Ruhig und noch mehr berührend endet das Ballett. Nachdem eine Traumversion seiner Mutter ihm Schminke und Demütigung abgewaschen hat, gibt sich Aschenbach einem letzten Traum, sprich Pas de deux, mit Tadzio hin. Welche Musik wäre da passender als die sinfonische Version von Isoldes Liebestod aus Richard Wagners Tristan und Isolde? Alle Last scheint abzufallen von Aschenbach, als er auf den, die Zeigfinger und die Daumen wie ein Fernrohr vor die Augen haltenden, Tadzio zutritt. Ergibt sich einem letzten Traum mit dieser großen Liebe hin, lässt sich von ihm sozusagen in den Tod führen, stirbt ihm zu Füßen, während Tadzio, wie auch bei allen anderen Pas de Deuxs, da steht wie am Anfang des Tanzes.
Ein Schluss, der das gesamte Publikum einige Sekunden schweigen lässt, bis Jubel sich Bahn bricht.
Die Stücke, die nicht vom Band kommen, spielt Sebastian Knauer, wie immer ein einfühlsamer Begleiter für alle Tänzer und ein Pianist, der Technik und Ausdruck souverän verbindet.

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Wie immer zeigt auch das Corps de Ballett, dass es den Ansprüchen Neumeiers entspricht, nämlich nicht nur Ballerina/Ballerino zu sein, sondern, wie ich es gerne nenne, Tanzdarsteller. Jeder Einzelne ist ein wichtiger Teil im großen Ganzen, denn es gibt stets mehr zu sehen und zu entdecken als die Hauptdarsteller. Etwas, dem ich oft ein wenig ambivalent gegenüber stehe, einfach weil es mir sehr gefällt, aber auf der anderen Seite immer das Gefühl gibt, ich hätte trotz meiner ja nicht sehr kurzen Berichte, doch noch mehr erwähnen müssen um dem Stück und auch der Leistung der Tänzer gerecht zu werden.
Xue Lin, als Aschenbachs La Barbarina, wie Barbara Campanini, die gefeierte Tänzerin am Hofe Friedrich des Großen,genannt wurde, vereint brillante Technik mit unnahbarer reiner Anmut.
Zwar ist unter den Partien, bei denen die Tänzer Rollennamen haben, Jaschu die am wenigsten umfangreiche, doch Pietro Pelleri strahlt als Tadzios Freund viel jugendliche Frische, Übermut aber auch ehrliche Emotionen Tadzio gegenüber aus und verbindet dies mit guter Technik.
Alessandro Frola als Aschenbachs Friedrich besticht vor allem durch sein Talent, der Kunstfigur so zu entsprechen, wie Aschenbach sie will: selbstsicher, kraftvoll und königlich, aber gleichzeitig bringt er Aschenbach auch Sympathie entgegen, ist menschlich um den Menschen zu erreichen. Der jedoch wehrt sich meist dagegen.
Ida Praetorius und Karen Azatyan als Aschenbachs Choreografiekonzepte, bestechen durch absolute Harmonie und, besonders zu Beginn, absolute, tänzerisch körperliche Disziplin. Denn auch ihre Duette oder Pas de Deuxs mit Aschenbach leben davon, reiner Tanz zu sein in Perfektion. Erst im zweiten Teil werden, dank Aschenbachs Veränderung, ihre Bewegungen und auch ihr Ausdruck weicher und emotionaler. Auch das erfüllen die beiden ganz und gar, und auch wenn ich sie als Aurora noch nicht erlebte, kann ich doch sagen, dass die junge Dänin Ida Praetorius ein wirklicher Gewinn für Hamburg ist. Und Karen Azatayan bewies erneut sein Können als Tänzer wie auch als Partner.

Alle Fotos: Kiran West
Miguel Wansing Lorrio verbreitet als jüngerer Aschenbach anfangs einen Hauch von kindlicher Glückseligkeit, wenn die Mutter ihn Huckepack trägt. Sein Tanz und seine Ausstrahlung sind von jener Leichtigkeit geprägt, die der Figur des erwachsenen Aschenbachs abhanden gekommen sind, so sehr der sich, wie die gemeinsamen Szenen zeigen, auch danach sehnt.
Patricia Friza zeigt in ihrer dreifach-Rolle als Aschenbachs Assistentin, seine Mutter und Tadzios Mutter ihre Vielseitigkeit. Als Aschenbachs Assistentin kennt sie dessen Gewohnheiten genau, bewegt sich mit ihm in zackigem Gleichschritt, in schwarzem Hosenanzug und mit strengem Dutt. Doch in den Szenen, in denen Aschenbach von seiner Mutter träumt, gleicht sie einer ätherischen Fee, von ätherischer Leichtigkeit in Hebungen und Sprüngen, wunderschönen Port de Bras, auch in den Szenen mit den beiden Aschenbach-Versionen.
Florian Pohl und Matias Oberlin treten hier in den unterschiedlichsten Rollen ausschließlich als Doppelpack auf. Als Wanderer erscheinen sie Aschenbach nach dessen Zusammenbruch, als Gondoliere führen sie ihn nach Venedig, dort necken sie ihn erst als geschminkte Gecken, erleben dann mit ihm sein (Traum)Bacchanal, machen ihn als Friseure selbst zum Gecken und sind dann die Gitarristen des Totentanzes. Alle Rollen erfüllen die beiden jungen Tänzer mit viel Charme und Wandlungsfähigkeit. Es ist unverkennbar, wie viel Freude sie an den verschiedenen Parts und auch an allen Bewegungen haben. Abgesehen von Atte Kilpinen und Christofer Evans sind es diese beiden, die zeigen wie sinnlich und ausdrucksstark, ohne wirklich homoerotischen Touch, die Pas de Deuxs oder Pas de Trois sind, die John Neumeier kreiert.

Atte Kilpinen ist ein wirklich perfekter Tadzio. Er tollt mit seinen Freunden über die Bühne, strotzt durch hohe Sprünge und natürliche Bewegungen vor Jugendlichkeit, gibt sich verspielt lebenslustig aber auch trotzig seinen Freunden gegenüber. In der realen Welt ist er Aschenbach gegenüber stets höflich. Es hat etwas fast schüchtern zärtliches wenn er Aschenbach, nachdem er ihn versehentlich umrennt, die Hand reicht und ihn dann über die Bühne zieht, bevor er aufsteht. In den Pas de Deuxs ist Kilpinen von einer Ernsthaftigkeit und auch Hingabe an Szene und Bewegung, die in den Bann ziehen und Tadzio lebendig werden lässt.
Christopher Evans is tein ebenso perfekter Aschenbach: Groß und sehr schlank wirkt er besonders im ersten Teil, gekleidet in schwarze Hosen und schwarzen Rollkragenpullover, streng und intellektuell. Seine Bewegungen und auch sein Tanz sind ebenso streng und asketisch. Erst bei der Begegnung mit den Wanderern oder auf der Gondelüberfahrt werden seine Bewegungen weicher. Es sind ja oft die kleinen Dinge, die einen tiefen Eindruck hinterlassen. Hier ist es der Moment, wenn Aschenbach und die Wanderer die Hände auf dem Boden kreisen lassen als strichen sie durch Wasser. Überhaupt ist Evans der Mann für kleine Gesten mit tiefer Wirkung, sei es die Art, wie er auffällig unauffällig den Blick auf Tadzio vermeidet, oder wie er die Hand küsst, die der Junge berührte. Auch tänzerisch ist alles an ihm Stärke und Gefühl, selbst in den Szenen, in denen Aschenbachvöllig diszipliniert scheint. Evans gelingt es einfach, besonders auch im Tanz mit dem ebenfalls fantastischen Kilpinen, Sehnsucht, Leidenschaft und innere Zerrissenheit zum Ausdruck zu bringen
Fazit: Immer wieder einmal wird ja Kritik an der Monopolstellung, die John Neumeier hier innehat, laut, gerade ja auch weil mit der Saison 2023/24 (?) sein Abschied näher rückt. Ich weiß nicht, wer die Nachfolge antreten wird, und auch wenn auch ich neugierig bin, Neues kennenzulernen, so hoffe ich doch noch lange Werke von John Neumeier und seiner Kompagnie genießen zu dürfen. Erzählen sie doch zusammen immer wieder Geschichten auf eine Art und Weise, die nicht nur mich ehrlich und aufrichtig jubeln lässt.
Birgit Kleinfeld Vorstellungsbesuch,1.2.2022
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