Die Geschichte der jungen Manon Lescaut, die von einem naiven Mädchen zu einer prunksüchtigen Lebedame wird, inspirierte nicht nur zahlreiche Künstler zu den verschiedensten Interpretationen, sondern ist auch zeitlos. Diese Zeitlosigkeit spiegelt sich in David Böschs Inszenierung von Jules Massenets Oper Manon an der Staatsoper Hamburg wunderbar wider. Die gesangliche Leistung der Rollendebütantin Ebenita Kajtazi, wie auch ihre natürliche Darstellung, ziehen vom ersten Moment an in den Bann. Alle ihre Partner stehen zwar irgendwie im Schatten dieser Manon, begeistern aber dennoch. Ja, diese Manon (Aufführung) verzauberte alle, hoffentlich an den weiteren dreien Abende (4.2., 9. 2. und 12.2. ) noch viele mehr.

Alle Fotos: Brinkhoff-Mögenburg
Der Abbé Antoine-François Prévost d’Exiles verfasste bereits 1731 die Urfassung seines Sittengemäldes, das den Werde- oder Untergang eines jungen lebens- und luxushungrigen Mädchens beschreibt. Manon, gerade 16 Jahre alt, entgeht durch ihre Flucht mit dem angehenden Theologiestudenten Des Grieux dem Nonnendasein. Nach einem Leben im Rausch von Liebe, Begehren und Luxus wird sie auf Anweisungen eines abgelehnten, sich rächenden Adligen nach Amerika deportiert. Dort stirbt sie in den Armen ihrer ersten Liebe Des Grieux, den sie mit in den Abgrund riss, der aber nach ihrem Tod zu einem sittlichen Leben zurückfindet. Zumindest im Roman.
In Massenets Oper und dem Libretto von Henri Meilhac und Phippe Gilé bleibt das Schicksal des Chevaliers im Allgemeinen offen. David Bösch jedoch geht weiter als ihn nur über der Leiche der Geliebten zusammenbrechen zulassen. Sie wählen beide den Freitod, durch Drogen bzw. aufgeschnittene Pulsadern. Ansonsten transportieren sie Bösch und sein Team Patrick Bannwart (Bühne, Video), Falko Herold (Kostüme, Video) und Michael Bauer (Licht) unaufdringlich authentisch ins Hier und Jetzt. Videoaufnahmen und -animationen zeigen bei den Zwischenspielen Szenen aus Manons Leben, samt animierter Katze, und geben den folgenden Akten/Szenen Titel wie L’Arivée, Greetings from Paris, C’est la vie und Le dernier jeu. Die Bühnenbilder entsprechen stets den Situationen, wie auch den Bedeungen zwischen den Zeilen So spielt der erste Aufzug in einer Art bewirtschafteten Bahnhofscafé samt Toiletten, auch für gewisse zwischenmenschliche Bedürfnisse im Hintergrund.

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Das kleine Zimmer in Paris gleicht in der Form der späteren Mönchszelle, in der Des Grieux, nachdem Manon ihn verließ, seinen Frieden sucht. Nur dass der Hintergrund einmal von großzügigen Fenstern und dann von einem überdimensionalen Kruzifix beherrscht wird. Das große Fest zu Ehren Manons gleicht einem edlen Spielsalon samt Show-Bühne und vielen einarmigen Banditen. Kurz vor ihrer Verhaftung tummeln sich Manon und die anderen in einem Hinterzimmer dieses Ortes, der von einem großen Roulettetisch beherrscht wird. Ihr Ende finden Manon und Des Grieux auf der fast leeren Bühne, gelehnt an den auf dem Boden liegenden, entzweigegangenen leuchtenden Schriftzug C‘est la vie.
Auch die Kostüme passen zu den einzelnen Szenen und Situationen und David Bösch zeigt, wie auch bei seiner Turbo-Inszenierung von Mozarts Die Entführung aus dem Serail (Entstehungszeit aufgrund von Regisseurwechsel ca. zwei Wochen), dass er es versteht aus Figuren echte Charaktere zu machen. Er ist ein wahrer Meister darin mit wenig viel zu erreichen. Sei es, dass Guillot-Morfontaine und die drei Damen gemeinsam aus der Herrentoilette kommen und er sich den Reißverschluss der Hose verspätet zuzieht oder dass Manon, außer im ersten Bild, in wichtigen Szenen immer zumindest zeitweise barfuß ist. Oder die Katze, die erst weiß ist, dann vor Manons Verhaftung und Untergang schwarz und schließlich blutend auf ihrem schwarzen Rücken liegend auf der Leinwand zu sehen ist, den weißen Bauch schutzlos darbietend. Dies sind nur wenige Beispiele für viele wirklich gute Einfälle, um zu Musik und Handlung passend diese Geschichte zu erzählen.

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Da ist der Wirt im schmierigen Unterhemd mit Hackbeil, dargestellt von David Minseok Kang. Die beiden Gardisten, und hier Freunde von Manons Cousin, tragen zumindest Teile von Tarnkleidung, wirken damit aber eher wie die trink- und spielfreudigen Rüpel, die sie sind.
Der Tenor Collin André Schöning, der mit seinem Äußeren (mich) zwar immer an den Leadsänger einer Heavy Metal Band erinnert, aber schon so manches Mal mit seiner schönen lyrischen Stimme beeindruckte, und sein Kollege, der koreanische Bass Han Kim, zeigen einmal mehr die hohe Qualität des Internationalen Opernstudios Hamburg.
Auch Tahnee Niboro (Poussette), Stephanie Wake-Edwards (Javotte) und Catriona Morison (Rosette) sind in ihren Rollen gut besetzt und Partygirl-mäßig schillernd in Paillettenminis gekleidet.
James Kryshak erscheint als der vermögende Adlige Guillot-Morfontaine stets eher salopp in nicht immer geschlossener Frackhose und weißem, heraushängendem Hemd. Er ist mit seinem hellen Tenor und seiner überzeugend abstoßenden Art, mit der er seine Rolle ausfüllt, mein Lieblingsekel an diesem Abend. Des Grieux und Manon flohen mit seinem Gefährt, erfühlt sich bis zum Schluss gedemütigt und will sich unbedingt rächen. Kryshak porträtiert diesen überheblichen Widerling gesanglich und darstellerisch sehr lebendig.
Von ganz anderem Schlag, und nur im ersten Bild so nachlässig gekleidet und von ähnlichem Benehmen, zeigt sich Alexey Bogdanchikov als Manons Förderer und Gönner Brétigny, der mit seinem Geld, aber auch seiner einschmeichelnden Stimme und seiner Eleganz, Manon in seine Welt des Überflusses holen kann.

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Von Scheitel bis zu Sohle ein Gentleman ist Des Grieuxs Vater, der Graf. Er trägt einen eleganten Mantel über einem ebensolchen Sakko und strahlt Würde und Autorität aus. Zwar ist auch er nicht ganz immun gegen Manons Reize, doch im Grunde ist und bleibt er der Patriarch, der sich des Gehorsams von Frau und Sohn sicher ist. Wilhelm Schwinghammer verleiht ihm nicht nur eine perfekte Ausstrahlung sondern auch seinen sonoren, schönen, so sicher geführten Bass.
Thomas Oliemans‚ Lescaut scheint wie aus dem Leben gegriffen, auch er giert nach Reichtum und Geld und wirft auf Manons Fest mit Kokain um sich, das sicherlich von Brétigny finanziert wurde, und mehr und mehr stürzt er im Laufe der Oper in Spiel und Drogensucht ab. Aus dem Raubein, das sich in Erwartung einer kindlichen Cousine im ersten Bild hinhockt um ihr ein Stofftier zu überreichen, wird nach und nach ein maßloser, in auffällige Sakkos gekleideter Junkie. Oliemans‘ Bariton hat einen ungewöhnlichen, nicht unangenehm rau gefärbten Bariton, den er zu modellieren weiß, so dass sein Lescaut zu einer Figur wird, die man gerne hört und sieht, besonders mit seiner ironisch spritzigen Arie : O Rosalinde, il me faudrait gravir le Pinde.

Foto: Staatsoper Hamburg/Simon Pauli
Enea Scala, ein weiterer Rollen- und auch Hausdebütant an diesem Abend, ist entweder konservativ jugendlich oder in Soutane gekleidet, was gut zu dem Charakter des verträumten Theologiestudenten passt. Anfangs, bei der ersten Begegnung mit Manon und dem Duett Nous vivrons à Paris,tout les deuxs prüht er zwar vor jugendlichem Übermut in Spiel und Stimme und auch seine Arie En fermant les yeux je voislà-bas berührt durch sanftes Piano und sichere Höhen. Doch erst im dritten Akt, findet er zu seiner Höchstform zunächst mit Ah! fuyez, douce image. Besonders aber das Akt-Finale Toi! Vous!… Oui, C’est moi!/N’est-ce plus mamain, ist von wahrhaft atemberaubender Ausdruckskraft und schönem Gesang: Ein Liebesdrama für Auge und Ohr mit Gänsehauteffekt.
Mit seiner Stimme und seinem Spiel Hochdramatik, Leidenschaft und Verzweiflung zum Klingen zu bringen, dafür scheint Enea Scala absolut gemacht. Das bewies er auch im vierten Akt, wo er und Manon statt Pharao russisches Roulette mit Guillot-Morfontaine spielen. Musikalisch und szenisch ein Moment, der, so wie hier dargeboten, einem Krimi gleicht,
EbenitaKajtazi ist als Manon die Sonne, um die alle kreisen und zwar schon, wenn sie ländlich schlicht gekleidet ist und nicht erst wenn sie Pelz und edle Kleider trägt. Wirklich, welch gelungenes Debüt! Schelmisch naiv betritt sie im ersten Akt die Bühne, mit Katzenkorb und Rucksack, neugierig auf die Welt, nicht abgeneigt auch Verbotenes wie Alkohol und Zigaretten zu kosten. Von Anfang an betört sie regelrecht mit ihrem glockenreinen Sopran, den mühelos gesetzten Spitzentönen, den sauberen Übergängen und der Leichtigkeit, wie sie Spiel und Gesang zu einer faszinierenden Einheit zusammenfügt. Sie überzeugt ebenso als frisch unbeschwert Verliebte, wie auch als Liebende, die der Verführung von Geld und Ruhm doch nicht widerstehen kann. Zart und schön intoniert sie Adieu, notre petite table.

Foto: Staatsoper Hamburg/Hamza Saad
Im zweiten Akt dann sprudelt Kajtazi auch gesanglich vor Lebensfreude, setzt Stimme und Gestik gekonnt ein um Graf Des Grieux den Aufenthaltsort seines Sohnes zu entlocken. In jener bereits erwähnten Szene im Kloster gelingt es Kajatzi tatsächlich, Manons Verzweiflung Des Grieux zurück haben zu wollen mit Laszivität auszudrücken. Endlich dann zieht sie in den Bann, weil die Frau, die nur noch Extreme, wie viel Alkohol und das Risiko von russisch Roulette, genießen kann, zu jener wird, die weiß, dass sie am Ende ist. Dem Tode nah erkennt sie ihre Fehler und ihre Liebe. Den gesamten fünften Akt durch sorgt Kajatzi zusammen mit Scala erneut für einen Gänsehautmoment nach dem anderen. Es ist nicht anders zu sagen, hier fanden zwei Rollen zwei für sie perfekt geeignete Darsteller, die verdient umjubelt wurden.
Manon ist eine durchkomponierte Oper mit gesprochenen Dialogen, einigen a capella Szenen im ersten Teil, wunderschönen Arien und hat auch sich wiederholende Themen, die Leitmotiv-ähnlich Emotionen und Situationen untermalen und verdeutlichen. Dirigent Nicolas André und dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg wie auch dem aus den Ranglogen agierenden Chor der Staatsoper Hamburg, gelingt es zu bezaubern. Den ganz besonderen Charme von Massenets Musik, das französische savoir vivre, wie auch die Pucciniesk anmutende Leidenschaft und Dramatik, zum klingen zu bringen, Spannungsbögen herauszuarbeiten und Akzente genau und gefühlvoll zu setzen gelingt mühelos. Und natürlich wurden sie, wie alle weiteren Darsteller in den großen Jubel aus leider wenigen Kehlen einbezogen.

Alle Fotos: Brinkhoff-Mögenburg
Fazit: Immer wieder betone ich gerne, dass meine Berichte nie Verrisse sein werden, da meine Absicht mit meinen Rezensionen ist, die Hemmschwelle zur Kulturgewalt Oper zu mindern oder gar verschwinden zu lassen. Dieses Mal gehe ich, nennen sie es ruhig unprofessionell, einen Schritt weiter: Lässt man sich auf das Abenteuer Oper ein, nicht unkritisch, aber durchweg positiv, erwartet einen vielleicht ein Erlebnis, das unter die Haut geht. So wie diese Manon-Aufführung. Sie gehört für mich zu jenen unvergesslichen Vorstellungen wie ich sie, dank meiner langjährigen Leidenschaft für Oper, schon des Öfteren erlebte und die in Freude und-ja-emotionalen Überschwang enden. Angelehnt an Manons Worte sage ich deshalb: Welch schöner Rausch! Das ist Oper!
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 30.01. 2022
Links:
https://www.staatsoper-hamburg.de/
https://www.nicolasandre.org/
https://elbenitakajtazi.com/
http://www.thomasoliemans.info/
https://www.jamesnkryshak.com/
https://www.alexeybogdanchikov.com/
https://www.operabase.com/artists/enea-scala-5025/de