(Titelbild: Shaked Heller, Elisa Badenes, Louis Stiens © Stuttgarter Ballett)
Gut gelaunt begrüßt der Intendant der Stuttgarter Balletts Tamas Detrich das Publikum nach mehr als sieben Monaten zurück im prunkvoll schönen Saal des Staatstheaters Stuttgart. Vier Stücke aus den kreativen Federn ebenso vieler bekannter Choreografen unter der Überschrift New Works stehen auf dem Programm. Choreografen, deren Werke, abgesehen von einigen von William Forsythe, ich nur in Teilen oder/ und aus anderen Streams kenne. Meine Neugier war groß, da ich weiß dass wir hier hoch im Norden in Hamburg mit Stuttgart viel gemeinsam haben: Wir lieben unsere Ballettkompagnie. Mit dem Unterschied, dass Stuttgart, nicht nur an diesem Abend, die Stücke mehrerer Choreografen auf der Bühne zeigt, Hamburg hauptsächlich die von Ballettchef John Neumeier.
Welche Chance also, dank des von Porsche finanzierten Streams, gleich vier neue Werkschöpfer kennenzulernen und dies als Antrieb zu nehmen zum ersten Mal über eine, wenn auch nur virtuelle, Aufführung des Stuttgarter Balletts zu berichten, das in den Zeiten von Cranko, Cragun, Keil, Haydee und Madsen nicht selten mit in Stuttgart choreografierten Balletten beim Hamburg Ballett zu Gast gewesen war.
Es ist für operngestalten.de ein absolutes No-Go haltlos zu verreißen, sollen die Berichte hier doch auch dazu anhalten, sich wenn möglich ein eigenes Bild zu machen. Dennoch kann ich nicht anders als vorwegzunehmen, dass mir das, was mir neben tänzerischer Ästhetik und Schönheit so wichtig ist, leider größtenteils fehlte: Echte Emotionen hier und zumindest ein roter Faden für eine Geschichte dort. Aussagen verstehen oder auch finden wollen anstatt einzutauchen in eine bewegende, berührende oder sonst wie geartete Welt aus Musik, Ausdruck und Bewegung steht bei New Works absolut im Vordergrund.
Cassiopeia’s Garden – Im Banne vergangener Ereignisse

© Stuttgarter Ballett
Den Auftakt des Abends macht das Ballett Cassiopeia’s Garden des designierten Intendanten des Berliner Staatsballettes (ab 2023/24) Christian Spuck.
„Im Sternbild Kassiopeia“, so Spuck im Programmheft des Abend, „ist vor einer Unendlichkeit ein uns unverständliches kosmisches Ereignis passiert. (…)“ Weiter ist der 1969 in Marburg geborene und eng mit dem Stuttgarter Ballett verbundene Choreograf der Meinung, dass jedes Ereignis, egal wann vergangen, die Frage aufwirft, was davon (bestehen) bleibt. Für mich heißt dies, dass wir fraglos in unserem Handeln im Heute vom Gestern beeinflusst werden, ohne es greifen oder begreifen zu können.
Ob diese Aussage im Tanz sichtbar wird? Spuck ist ja eher ein Kreateur von Handlungsballetten und es ist deutlich spürbar, dass er uns mithilfe dreier Damen und sechs Herren etwas erzählen möchte. Etwas über uns Menschen, über wechselndes oder auch bleibendes Miteinander?
Die Ästhetik ist unbestreitbar, ebenso wie die geschickte Dramaturgie der Musikauswahl. Es beginnt mit einem Stück des Musikproduzenten I Hate Modelsund dann wechseln seine Klänge sich mit denen von Salvatore Sciarrino, Johann Sebastian Bach, Yan Cook und György Kurtág und dem Sounddesign von Michael Utz ab. Kostüme wie auch der Prospekt im Hintergrund vom Set sind in Erd – und Naturtönen gehalten. Drei dunkle auf und über die Bühne geschobene Tische dienen nicht als Dekoration, sondern bieten dem Zuschauer durch die daran agierenden Tänzer wirklich schöne Momentaufnahmen. Spuck wählte Elisa Badenes, RocioAleman, Agnès Su, Martí FernandézPaixà, Clemens Fröhlich, Matteo Miccini, Louis Stiens, wie Alessandro Giaquinto und Shaked Hellerals fast gleichrangige Protagonisten. „Fast“, da Clemens Fröhlich und Agnès Su durch ihr das Stück abschließende Pas de deux etwas mehr in den Mittelpunkt rückten. Ein Pas de deux, bei dem Sus Zartheit und Fröhlichs zurückhaltend kraftvolle Sicherheit sich sehr gut ergänzten, ein harmonischer Dialog der Körpersprache, der dann doch mit einem Abschied zu enden scheint. Bleibt sie doch auf der Bühne liegend, die Rechtesenkrecht nach oben gestreckt, als warte sie jemand würde sie ergreifen, zurück, während er geht.
Nachtmerrie- Der Alptraum einer Beziehung?

© Stuttgarter Ballett
Marco Goecke erhält von mir einen Pluspunkt und ein ernstgemeintes Chapeau für die Auswahl seiner Tänzer, nämlich Mackenzie Brown und Henrik Erikson, die beide „nur“ als Mitglieder des Corps de Ballett geführt werden und, trotz jungen Alters, viel tänzerisches Können wie auch Ausstrahlung zeigen. Mithilfe des VII. und VIII. Teils von Keith Jarretts Budapester Concert und Lady Gagas Bad Romance kreierte Goecke einen Pas de deux der zwar berührt, dies aber durch eine recht gewöhnungsbedürftige Körper- und Bewegungssprache. Sicher, die Goecke-typischen ruckartigen, zuckenden nicht selten sehr körpernahen Bewegungen verfehlen ihre Wirkung nicht. Ebenso wenig wie die gefühlte Enge der Bühne es tut. Ein Paradoxon irgendwie, da die Bühne leer und ihre Abgrenzungen nicht zu sehen sind. Aber der Handlungs- und Bewegungsradius, abgesteckt durch einen Lichtkreis, ist halt nicht sehr weitgesteckt. Alles in allem entsteht dadurch ein Gefühl der Beklemmung. Sicher ist es gewollt, dass man sich tiefberührt fühlt, denn es scheint, schon der Stücktitel, der ja Alptraum bedeutet, und die Lady Gaga Musikauswahl deuten auf Beziehungsprobleme hin. Vielleicht auch Machtkampf? Eine Idee, auf die mich das militärisch wirkende Outfit bringt. Ein weiteres Paradoxon ist die Tatsache, dass Goeckes Stilmittel, besonders die zuckenden Bewegungen, so unangenehm berühren, dass ich manchmal in Lachen fliehen möchte um dem zu entkommen. Dass mich aber gleichzeitig die Art, wie Brown und Erikson die Ideen ihres Choreografen umsetzen, total fasziniert und in den Bann zieht. Nicht nur das hier und da aufblitzende Feuer (Streichholz?) oder die kleine, aber intensiv ausgeführte Geste, mit der Mackenzie Brown Henrik Eriksons Hand wegschlägt, sondern einfach alles. Ist es unsinnig? Vielleicht. Doch die Choreografie ist in weiten Teilen ganz und gar nicht so, wie ich gerne etwas durch Tanz vermittelt bekommen möchte. Die Ausführung hingegen war für mich die beeindruckendste Leistung des Abends.
Source –Auftragsmusikwerk live gespielt

Das dritte Stück des Abends ist das einzige mit Orchesterbegleitung wirklich aus dem Orchestergraben und wohl auch eine Uraufführung in der Uraufführung. Denn Milko Lazars Musik ist ein Auftragswerk für eben diesen Abend, eben dieses Ballett von Edward Clug.
Sanfte Pianoklänge, die ein wenig an plätschernde Wassertropfen erinnern, eröffnen das Ballett. Die Bühne ist nur dämmrig beleuchtet, der Blick auf die erste Tänzerin durch unzählige filmstreifenähnliche Bänder verschleiert, die, während weitere Tänzer erscheinen, langsam wellenartig zu Boden gleiten. Durch den Kontrast der transparenten schwarzen Arm- und Beinbekleidungen zum ärmellosen weißen Body erwecken sie den Eindruck von Kompaktheit. Musik und Tanz bilden zu Beginn eine angenehm anzusehende und anzuhörende Einheit. Und doch fehlen Emotionen, was sicher nicht an den Darstellern liegt, sondern so gewollt scheint. Soll Reinheit vermittelt werden? Die Unverdorbenheit des Ursprungs? Auch später dann bleibt die Einheit zwischen Musik und Tanz erhalten, zum Crescendo, Tempo und Rhythmus von Lazars Klängen werden die Bewegungen immer eckiger, dynamischer und, besonders in den Pas de deux oder wenn nur wenige Darsteller tanzend miteinander agieren, fordernder, sachlicher oder gar ein wenig aggressiv? Es fällt (mir) schwer etwas zu empfinden oder zu verstehen. Gut, es geht wohl um nonverbales Miteinander oder auch die Unwichtigkeit von Gender gebundene Individualität? Denn alle Tänzer*innen wirken androgyn. Es ist nicht zu leugnen, dass diese Gedanken, wäre ich live und somit nur einmalig dabei gewesen, nicht so intensiv ausgefallen wären. Die beeindruckenden Leistungen der Tänzerinnen Rocio Aleman, Miriam Kacerova, Jessica Fyfe, Vittoria Girelli und Mizuki Amemya und ihrer Kollegen Friedemann Vogel, Roman Novitzky, Adhonay Soares Da Silva, Fabio Adorisio und TimoorAfshar stehen außer Frage. Mein Bedauern, nicht näher und persönlicher auf die Leistungen eingehen zu können, ist nicht gering. Mir als „Fremde“ hätte eine Aufzählung der Darsteller in der Reihenfolge ihres Auftreten oder ähnliches sehr geholfen spezifischer zu sein.
Blake Works I – klassische Anmut meets Britpop

Nach drei Uraufführungen beendet William Forsythes Werk Blake WorksI zu sieben Songs aus James Blakes Album The colour of anything diesen Abend mit einer deutschen Erstaufführung.
Die Kostüme sind für alle hellblau und klassisch gehalten: kurze Kleider für die Damen, Trikots und Leggings für die Herren. Allein Jason Reilly trägt T- Shirt und Khakifarbende Hose.
Forsythes Choreografie erinnert an die beiden großen Herren des reinen Tanzes George Balanchine und Kenneth MacMillan. Absolute Befürworterin von Cross Over zwischen unterschiedlichen Kunststilen zieht mich diese Idee absolut in den Bann, die überlauten Klängen zu den Bewegungen, den auch jeder Laie in Bezug auf „Ballett“ erwartet, irritiert und fasziniert zugleich: Gegensätze ziehen halt nicht nur sich, sondern auch andere an.
Die sieben Lieder stehen alle für sich, haben immer unterschiedliche Protagonisten. Hervorheben möchte ich hier allein Putthatawayandtalktomemit Mackenzie Brown und Agnes Su, deren Anmut und Ausdruckskraft mir ja bereits in den anderen Stücken sehr gefielen. Hier tanzen sie einen Pas de trois mit Adhonay Soares Da Silva.
Auch Elisa Badenes und Jason Reilly und ihr Pas de deux zu The colour of anything überzeugten mich von der hohen tänzerischen Qualität des Stuttgarter Balletts. Spätestens der letzte Tanz des Abend F.O.R.E.V.E.R. mit Hyo-Jung Kang und David Moore ließ meinen Wunsch, die Stuttgarter Kompagnie einmal Vorort live zu erleben, zu einem festen Entschluss werden. Zumal das Repertoire der nächsten Spielzeit wirklich neugierig macht.
Fazit: Ballett ist nun auch in Stuttgart endlich wieder zurück auf der Bühne und live-erlebbar für das nach Kultur hungernde Publikum. Vielleicht gefiel und gefällt nicht allen jedes Stück. Aber ist es nicht das, was Kunst jeglicher Art so interessant macht? Man kann über sie und die eigenen Eindrücke, die ja auch immer auf der eigenen Lebensgeschichte und den eigenen Vorlieben beruhen, diskutieren. In den Austausch, ein Miteinander kommen. Und das, so gebe ich zu, natürlich noch besser, hat man diesen Abend live erlebt und nicht nur, wie ich, über einen Stream.
Birgit Kleinfeld, 21.06.2021