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Hamburg Ballett – Hamlet 21: Innerer Kampf treibt in den Wahn

Zu rockig-militärisch anmutenden Klängen deklarieren eine Knaben- und eine Männerstimme lateinische Verben aus dem Off. Eine Standtafel und eine altmodische Schulbank versetzten uns in das Klassenzimmer, in dem Hamlet (Alexandr Trusch) und Horatio (Nicolas Gläsmann) von Polonius in Latein und dänischer Geschichte unterrichtet werden. Einige von Hamlet gesprochene Worte aus dem berühmten Shakespeare-Monolog und eine kurze von Horatio gelesene Erklärung zu Dänemarks Krieg mit Norwegen, wie von Saxos Grammaticus in der Amlethus Saga beschrieben, leiten nach diesem Prolog das eigentliche Ballett ein. Von nun an schenken sämtliche Tänzer und Michael Tippetts Klänge dem Publikum ein knapp zwei Stunden dauerndes Auf und Abgetanzter Emotionen, die in den Bann ziehen.

Am vergangenen Sonntag, dem 13.6.2021 hatte Hamlet 21 an der Staatsoper Hamburg Premiere, aber John Neumeiers Interesse für dieses Stück Welt- und Schulliteratur aus der Feder William Shakespeares zeigte bereits 1976, also vor 45 Jahren, kreative Früchte in Form des Werkes Hamlet Connotations New York, bzw. Der Fall Hamlet in Stuttgart und ein Jahr später hier in Hamburg. Die Urfassung zu Hamlet 21 kam erst am 2. November 1985 mit dem Ensemble des Königlich Dänischen Theaters Kopenhagen unter dem Titel Amleth zur Uraufführung.  Es folgte im Mai 1997 eine Neufassung für das Hamburg Ballett bis das Stück nun nach einer weiteren Neukonzeption, laut Neumeier selbst, „für unser Festival eine würdige Eröffnungspremiere ist.“

Nicolas Gläsmann, Alexandr Trusch,
Ensemble, Ivan Urban
Alle Fotos (c): Kiran West

Abgesehen von den kurzen Schulzimmer-Sequenzen ist die Geschichte, die das Ballett erzählt, ähnlich der, die wir durch Shakespeares Bühnenstück kennen. Doch Neumeier lässt seine Tänzer eher die Geschichte erzählen, die Shakespeare zu diesem Stück inspirierte, eben jene obenerwähnte Amlethus-Saga. Diese beschäftigt sich mit der Dreiecksgeschichte der Brüder Horvendel und Fenge und Geruth. Die junge Frau und Fenge fühlen sich zueinander hingezogen, ihr Vater jedoch gibt sie Horvendel zu Frau, der den Krieg gegen Norwegen gewann, in dem er König Koller im Zweikampf besiegte. Hamlet wird geboren, wächst auf und knüpft zarte Bande zu Ophelia bevor er für Studien nach Wittenberg geschickt. Zurückgekehrt findet er den Vater tot und die Mutter mit Fenge verheiratet, der nun König ist. Dies und der Geist des Vaters, der ihn auffordert ihn zu rächen, stürzt den jungen Prinzen in eine wahnhafte Verwirrung und eine derartige Wut, die ihn Ophelia misshandeln lässt. Er zerbricht an dem unerträglichen Zwiespalt zwischen von außen -oder aus dem Grab- auferlegter Verpflichtung und dem Wunsch nach einem eigenen Leben. So will er fliehen und beugt sich dennoch dem Wunsch den toten Vaters. Er tötet Fenge in nun fast endgültigem Wahn und übergibt die Krone an König Kollers Sohn Fortinbras, der in Dänemark einfiel um den Tod seines Vaters zu rächen. Das Ballett endet wie es begann. Im Schulzimmer. Der Prinz ruht auf dem Boden, ein aufgeschlagenes Buch über dem Gesicht. Enthält es seine Geschichte? Handelt er irgendwann ebenso? An der Tafel steht nun in reinlicher Schrift: The Rest is silence …

Alexandr Trusch, Hélène Bouchet
Florian Pohl, Alle Fotos (c): Kiran West

Die Musik des englischen Komponisten Michael Tippet ist ebenso komplex, ergreifend und gewaltig wie die Szenen und Bilder, die Neumeier schafft, der neben Choreografie und Inszenierung auch für das Lichtkonzept verantwortlich zeichnet. Tippetts Sinfonie Nr.2 aus dem Jahr 1958, wie auch alle anderen Stücke vom Band kommend, gibt der Handlung des ersten Aktes einen imposant passenden Rahmen. Im zweiten Akt bilden sein Divertimento on Sellingers Round für Kammerorchester (1954) und seinTriple Concerto für Violine, Viola, Cello und Orchester (1978/79) den musikalischen Rahmen für den zweiten Teil des Abends.

Sind die Bewegungen der Tänzer die sichtbar zum Ausdruck gebrachten Emotionen, Wünsche, Gefühle, so macht Tippet all dies akustisch spürbar. Da sind die Kriegsszenen: bombastische Klänge begleiten ein bildgewaltig aktionsreiches Szenario bei dem eine so gut wie leere Bühne einmal mehr intensivere Wirkung zeigt als eine klassische Bühnenbildkulisse. Hier gibt es nur wenige knapp mannshohe Metallrahmen, die als Barrikaden dienen, als Särge oder anderes.

Dafür verwendet Bühnen- und Kostümbildner Klaus Hellenstein übergroße Flaggen, die, geschwenkt, Tippets kraftvollen Klängen wie auch akrobatisch tänzerischen Zweikämpfen oder Marschformationen, den Hauch Dramatik mehr verleihen. Ein weiteres Beispiel für die Art wie hier Musik, Handlung und Bewegung zu einem werden, ist die Hochzeit zwischen Horvandel und Geruth in Gegenüberstellung zu dem Pas de deux, das den ersten, leidenschaftlichen Ehebruch zeigt. Die Klänge zur Vermählungszeremonie haben etwas sphärisch Höfisches, beinahe religiös Anmutendes. Der Tanz dazu ist elegant und feierlich. Die Bewegungen sind, dies allerdings das gesamte Ballett über, häufiger als in anderen Neumeier-Kreationen, eckig, die Füße angewinkelt, nicht gestreckt, was die Förmlichkeit, das Gefangensein in Konventionen unterstreicht. Wie anders dann aber die Musik zu dem Pas de deux zwischen Geruth und Fenge, dem Mann den sie wirklich liebt! Sie unterstreicht die Leidenschaftlichkeit der Beziehung ebenso wie Geruths inneren Kampf, ihrem Bewusstsein das Verbrechen Ehebruch zu begehe. Dies mag hier und jetzt genügen, Neumeiers Geschick der Musikauswahl zu Handlungsballetten zu beschreiben, bei denen sie nicht bereits vorgegeben ist, wie bei den Klassikern.

Christopher Evans, Ensemble
Alle Fotos (c): Kiran West

Klaus Hellensteins Ausstattung imponiert jedoch nicht nur durch ein geschickt umgesetztes weniger ist mehr in den Kriegsszenen. Es gelingt ihm im szenischen Bereich, zusammen mit Neumeiers Lichtregie, eindrucksvolle Effekte zu setzen, sei es durch eine semi-transparente Trennwand, die den Blick freigibt auf die Schatten schreitender Krieger oder Hofdamen. Dann gibt es auch noch die blutrote, hochdramatisch ausgeleuchtete Wand durch die majestätisch der Geist Horvendels tritt.
Nicht zuletzt ist da auch noch jener Vorhang dessen aufgemalte Welle mich, vielleicht völlig ohne Sinn und Bezug, an Katsushika Hokusais berühmtes Werk Die große Welle von Kanagawa denken lässt, und der in sanften Falten fallend die ertrinkende Ophelia unter sich verbirgt.

Als jemand, der vielleicht mehr zu entdecken glaubt, als es dem Leser dann gut tut, weil die Menge an Worten ihn überrollt, kann ich mich nicht einiger Bemerkungen über die Wirkung der Kostüme enthalten, bevor ich endlich zu jenen komme, die alles mit Leben und ihrer Kunst füllen: den Tänzern. Doch es ist nun einmal so, dass es für mich Produktionen gibt, bei denen Kostüme subtil aber eindrucksvoll eine Aussage haben, die sich nicht allein auf die Persönlichkeit des Trägers oder seine gesellschaftliche Stellung bezieht. So empfangen die Hofdamen Hamlet bei seiner Rückkehr aus Wittenberg wortwörtlich vom Scheitel bis zur Sohle in schwarzes Tuch gehüllt unter dem sich schreiend großblumig gemusterte Kleider befinden. Ein optischer Missklang und Gegensatz zu der dramatischen Lage im Lande. Oder auch die wunderschönen blau oder violett changierenden oder schwarzen Ballkleider der Damen in der letzten Szene, dem großen Showdown von Rache, Verzweiflung und Wahn.

Doch genug der Worte und ist der Rest auch nicht Schweigen, wie es am Ende des Stückes auf jener Standtafel heißt, so möchte ich es nun doch Ihnen allen selbst überlassen, zu entdecken, zu sehen, zu interpretieren und zu genießen.

Hélène Bouchet, Félix Paquet
Alle Fotos (c): Kiran West

Den größten Genuss bietet die Leistung der Tänzer, allen voran Alexandr Trusch in der Titelrolle. Wieder sprang er relativ kurzfristig für Edvin Revazov ein, dessen Aussetzen hoffentlich kein allzu langes Fortbleiben von der Bühne bedeutet.
Ernst, mit Baritonstimme rezitiert Trusch den Beginn des Hamlets Monologs um wenig später mit den Gauklern zu scherzen und schon da die vielschichtige Persönlichkeit des jungen Prinzen zu offenbaren. Von beschwerter Heiterkeit sind die Szenen, die Hamlet, stets verkörpert von Trusch, als Säugling und Kleinkind zeigen. Heiter aufgrund der intensiv liebevollen Zärtlichkeit zu seiner Mutter, beschwert, weil es Trusch gleichzeitig gelingt den Konflikt auszudrücken, den der Wunsch des Vaters in ihm erwachen lässt, einen Krieger aus dem Sohn zu machen. Wie eigentlich alle Solisten in dieser Kompagnie ist auch Trusch ein Meister der kleinen Gesten mit tiefgehender Wirkung. So legt er mit unendlicher Zärtlichkeit Ophelia erst ihre Hände auf den Mund, bevor er sie küsst. Seine Zögerlichkeit ihr gegenüber, Hamlets Gefühle Geruth gegenüber, die augenscheinlich über eine Mutter/Sohn Beziehung herausgehen, ohne Grenzen zu überschreiten, der Wahnsinn in den er sich selbst am Ende treibt, all das geht tief unter die Haut. Wenn er rasend vor Wut nach seiner Mutter schreit, um sie zur Rechenschaft wegen des Todes des Vaters zu ziehen, läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Seine tänzerischen Leistungen, stehen natürlich dennoch im Vordergrund. Seine Sprünge sind kraftvoll, die Pas de deux mit Hélène Bouchet als Geruth, Anna Laudere als Ophelia und vor allem auch mit Florian Pohl als Horvendels Geist, lässt manchmal lächeln, manchmal den Atem anhalten, nicht weil es so spektakulär ist, sondern eine schöne Symbiose zwischen Ausdrucks- und Tanzkunst aller jeweils Beteiligten.

Alexandr Trusch, Florian Pohl
Alle Fotos (c): Kiran West

Hélène Bouchets Geruth berührt in erster Linie durch ihre Ausstrahlung, die alle Aspekte der Weiblichkeit in sich zu vereinen scheint. Für Horvendel zwar Geliebte, aber auf gewisse Weise auch Heilige, für Hamlet Mutter und für Fenge die hingebungsvoll leidenschaftlich Liebende. In den Pas de deux wirkt sie schwerelos, die Leichtigkeit ihrer Geschmeidigkeit fasziniert ebenso, wie ihre darstellerische Vielseitigkeit.

Anna Laudere als Ophelia zeigt einmal mehr ihre Empathie für komplexe weibliche Charaktere. Anfangs ist sie das Blumen verschenkende, unschuldig naive Mädchen, das tief wenn auch schüchtern liebt und auf HamletsZuneigungsbeweise, die sich auch darin zeigen, dasser ihr wie einer Mutter den Kopf in den Schoß legt, eingeht. Sie ist die einzige Figur, der weiche runde Port de bras erlaubt sind zumindest anfangs. Später dann wird sie erst ver- und dann von Hamlets Vergewaltigung zerstört. Laudere macht jede Gefühlsregung spürbar. Die anfängliche Unbeschwertheit weicht erst einer höfischen Beherrschtheit und Furcht, schließlich dann völliger Verzweiflung. Wie sie sich in Ophelias Selbstmordszene durch die engen Metallrahmen zu zwängen versucht, jetzt einen Reisig in der Hand, ein Zeichen für Selbstgeisselung, berührt bis ins Innerste.

Florian Pohl als Horvendel und Félix Paquet als dessen Bruder gelingt es mühelos zwei so unterschiedliche Charaktere zu zeichnen, dass beide faszinieren und nicht nur Geruth in ihren Bann ziehen. Pohl ist jeder Zoll ein Krieger und König, sein Tanz ist majestätisch und der Stärke und Sicherheit, die er selbst noch als Geist ausstrahlt, kann sich niemand entziehen. Paquet hingegen ist der leidenschaftliche Liebhaber. Seine Pas de deux mit Hélène Bouchet sprühen vor Erotik und Sinnlichkeit. Er überzeugt auch am Schluss, als Fenge sich vom Liebhaber in einen Herrscher verwandelt hat.

Auch sie dürfen nicht fehlen in einem Shakespeare-Stück: Die Gaukler. Jene Personen, die auf der einen Seite eine Erholung von Dramatik bieten, aber gleichzeitig doch auch Missstände aufzeigen. Und sei es, dass sie wie hier die Dreiecksbeziehung und die Rache in einer Art Schauspieldarstellen. Alex Martinez, David Rodriguez und Illia Zakrevskyi füllen diesen Part mit Akrobatik und subtiler Ironie.

Anna Laudere,
Alle Fotos (c): Kiran West

Christopher Evans als Koller/ Fortinbras sticht in den Kampszenen nicht nur durch sein signalrotes Hemd heraus, sondern auch durch seine Sprungkraft und einen Ausdruck unbändiger Entschlossenheit wie auch „Tanzkampfeslust“.
Ivan Urban und Nicolas Gläsmann denen als Polonius und Horatio in erster Linie eine Art Moderatorenrolle zukommt, erfüllen diesen Part mit Überzeugungskraft und auch einem gewissen  Maß an Humor. Und mag dies auch einer Floskel ähneln, so ist es doch ernstgemeint, wenn ich sage, dass der gesamte Rest des Ensembles eine wunderbare, den Abend abrundende Leistung erbrachte. Wie schön ist da doch das Wissen, dass es zu der Besetzungspolitik dieser Kompagnie gehört, dass wir den einen oder die andere der heute namentlich nicht Erwähnten, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der nächsten Saison in einer größeren Rolle sehen werden
Birgit Kleinfeld, besuchte Vorstellung 14.6.2021

Alexandre Trusch, Nicolas Gläsmann, Ivan Urban
Alle Fotos (c): Kiran West

Links:
Hamburg Ballett:
https://www.hamburgballett.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=207851
John Neumeier Stiftung
http://www.johnneumeier.org/index_1.html
Hamburg Ballett youtube:
https://www.youtube.com/channel/UCMsiql4DBb0Cbp8RB_54yow

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