Die dritte Neuproduktion dieser Saison an der Staatsoper Hamburg war ein Abend stimmstarker Frauen. In Pierrot Lunaire stellten sich Anja Silja, Nicole Chevalier und Marie-Dominique Ryckmanns dem höchst anspruchsvollen Sprechgesang von Arnold Schönbergs Musik zu Albert Girauds Text Dreimal sieben Gedichte. Francis Poulencs Oper La voix humaine mit der schwedischen Sopranistin Kerstin Avemo als einziger Protagonistin und von Opernintendant Georges Delnon szenisch eingerichtet, zog auf allen Ebenen in den Bann.
Überfluten Luis August Krawens Videoanimation von Pierrot Lunaire das Publikum mit grellen und auch tristen Farben, so ist La voix humaine ein musikalisches Seelendrama. Beide Stücke zusammen machen diesen Corona-kurzen komplexen Abend eindrucksvoll interessant.
Für Sprechstimmen, die nicht singen aber die Höhen treffen
Der Animationsfilm zu Pierrot Lunaire von Krawens und Kostümbildnerin Marie-Thérèse Jossen, die auch für La voix humaine verantwortlich zeichnet, hat sehr wohl eine abstrakte, vom Zuschauer zu interpretierende Geschichte. Auch könnte der Film völlig für sich alleine stehen und tief wirken. Die Bilder haben von Beginn an eine fast übermächtige Farb- und Strahlkraft.

Es gibt Nahestaufnahmen von der Natur. Kräftiges Grün beherrscht die Leinwand, aber auch andere klare Farben. Es gibt einen Goldklumpen, der zu zerfließen scheint um dann gehärtete Äderchen um sich zu verbreiten. Im Laufe des Films sehen wir auch Aufnahmen vom Mond und von Faltern, die sich als Metallfiguren entpuppen. Alles wird grauer, düsterer, technischer. Labyrinthische Autobahnnetze erschlagen uns regelrecht, ebenso wie jenes Meer, über das ein Boot gleitet und das fast ausschließlich aus Plastikflaschen zu bestehen scheint. Knallige Farben und graue Düsternis wechseln sich ab. Ohne Frage hat alles einen ohne erhobenen Zeigefinger geäußerten belehrenden Sinn. Vielleicht sogar auch die Sequenz in der die Front der Staatsoper Hamburg zerfällt.
Doch neben oder auch gerade durch all den Symbolismus, erzählt Krawens auch die Geschichte und Lebensreise von Pierrot Lunaire, der hier nicht die traurige in Weiß mit etwas Schwarz gekleidete Figur ist, sondern ein Dandy, wie es in einem der Gedichte heißt.
Es existieren drei Hauptpersonen, alle eher androgyn, als wirklich einem Geschlecht zuzuordnen. Das Ganze wirkt wie eine Odyssee aus suchen, finden, verlieren, lieben, töten, zerstören und endlich Heimkehr. Heimkehr in ein düsteres Schloss, aber ohne die beiden Wegbegleiter der Reise.
So faszinierend der Film auch ist, so sehr lenkt er teilweise doch von der Intensität von Musik und Text ab. Ist ein enger Zusammenhang auch jeder Zeit erkenn- und spürbar.

Zwar verlangt Schönberg nach einer Sprechstimme und nicht nach einer Frauenstimme, doch ist es Gang und Gäbe, dass die Partie des Pierrot von einer Sopranistin dargeboten wird. Hier sind es drei Damen, die sich in drei verschiedenen Altersgruppen befinden. Je älter die Personen der Animation werden desto jünger werden die Darstellerinnen. Die bisherige Vermeidung des Begriffs Sängerin beruht auf der Tatsache, dass der Komponist möchte, dass „nicht gesungen, die Höhen aber erreicht werden sollen.“ Ein schwierige, aber für alle drei Sopranistinnen mit Verve, großer Ausdruckskraft und der von Schönberg geforderten Rhythmusgenauigkeit.
Den Anfang macht Anja Silja, einst in vielen Partien nicht nur hier am Haus, sondern weltweit umjubelt und gefeiert. Inzwischen ist sie 80 Jahre alt, aber ebenso stimmlich präsent wie damals. Jedem einzelnen ihrer sieben Lieder, drückt sie ihren persönlichen, von jeher charakteristischen Stempel auf.
Ob: Mondestrunken, Colombine, Dandy, Eine blasse Wäscherin, Valse de Chopin, Madonna, oder Der kranke Mond stets verführt ihre noch immer faszinierende, altersgereifte Stimme dazu, die Augen zu schließen und sich den nur Bildern zu widmen, die ihre Töne und Wörter malen.

Der zweite Zyklus, bestehend aus: Nacht, Gebet an Pierrot, Raub, Rote Messe, Galgenlied, Enthauptung und Die Kreuze wird,- nun sage ich es doch,- gesungen von Nicole Chevalier. Die amerikanische Sopranistin erhielt vor vier Jahren die Auszeichnung DER FAUST für ihre Darstellung der vier Damenrollen in Offenbachs Les Contes d’Hoffmann an der Komischen Oper Berlin. Steht sie auch im Halbdunkel an einer Treppe, die Haare streng zurückgenommen, in einem schlichten schwarzen Kleid, wie auch ihre beiden Kolleginnen, strahlt sie doch Persönlichkeit und mystisch dunkle Sinnlichkeit aus. Ihre Stimme klingt so klar, wie auch ihre Aussprache. Es gelingt Chevalier dem Publikum den Sinn jeden Stückes zu verdeutlichen, so wohl klingend, wie Schönbergs Musik es erlaubt/verlangt.
Die Klanggedichte: Heimweh, Gemeinheit, Parodie, Der Mondfleck, Serenade, Heimfahrt wie auch O alter Duft werden von der jüngsten im Bunde der drei Pierrot-Darstellerinnen dargeboten. Marie-Dominique Ryckmanns ist seit Beginn dieser Saison Mitglied im Internationalen Opernstudio. Ihr Sopran ist von jugendlicher Frische, man merkt ihr die Freude an, die es ihr bereitet, mit ihrer Stimme auf neue Art und Weise spielen und experimentieren zu dürfen. Wie ihre reiferen Kolleginnen, setzt auch sie Akzente, die, ganz unabhängig von den Bildern des Films, zusammen mit Musik und Worten die Fantasie anregen und manchmal sogar staunen lassen.
Hat sie oder hat sie nicht? Hoffentlich hat sie!

Der zweite Teil des Abends beginnt mit zwei Schüssen hinter geschlossenem Vorhang. Dann werden wir Zeugen eines Telefongesprächs zwischen Elle/Sie (Kerstin Avemo) und ihrem fernen augenscheinlich verheirateten Geliebten. Das Gespräch beschreibt eine emotionale Achterbahn, wird immer wieder unterbrochen. Wut und der Wunsch es dem Geliebten Recht zu machen wechseln sich ab. Selbstmord liegt in der Luft. Doch zumindest in dieser Umsetzung von Georges Delnon, bleibt alles offen. Immer wieder stellt sich jedoch die Frage, liegt nicht doch Mord, statt Suizid in der Luft? Da sind die beiden erwähnten Schüsse und ist das, was da in einer Ecke liegt, vielleicht der Kadaver des Hundes des Geliebten, vor dem sie Angst hatte? Aber mehr noch wirft ihr Verhalten Fragen auf. Manchmal zieht sie den altmodischen Telefonapparat wie einen Hund hinter sich her. Dann wieder bewegt sie sich ganz ohne Telefonhörer über die Bühne. wirft ein Mal sogar ihren Pelzmantel darüber und versichert dann, sie würde den Geliebten nun besonders gut verstehen. Ich für meinen Teil, bin zu dem Entschluss gekommen. Ja, sie hat! Hat ihren Geliebten und dessen Hund erschossen.

Doch wie immer man es auch dreht und wendet, Delnon präsentiert uns auf kleinem Raum eine sehr intensive, subtile Interpretation. Deren Spannung wird durch Francis Poulencs Musik, wie auch die exzellente Darstellerin noch gesteigert. Poulenc verstand es einfach menschlich Dramen so bildmalerisch zu vertonen, dass sie unter die Haut gehen. Jeder Stimmungsschwankung, jeder Emotion, ordnet er die passenden Klang- und Tonfolgen zu.
Auch in La voix humaine erwartet uns ausdrucksstarker Pallando-Gesang. Gesang, der auf Arien verzichtet, sich aber kunstvoll der natürlichen Sprachmelodie anpasst. Kerstin Avemos Stimmführung, die Leichtigkeit mit der sie diese Sangeskunst und ihre Schauspielkunst zu einer lebensnahen Figur vereint, sucht ihresgleichen. Ihr Spiel ist leidenschaftlich und von subtiler Sinnlichkeit. Wenn sie sich über den eigenen Körper streicht, der Telefonhörer ihr zwischen den Beinen hängt, sich rittlings auf den Mantel des Geliebten setzt, hat das nichts ordinär Aufdringliches an sich. Sondern wirkt wie unbewusst und verträumt, was die berührende Wirkung, den Eindruck einer zutiefst verzweifelten, einsamen Frau noch verstärkt.
Poulenc und Avemo,- eine Gemeinschaft, die man öfter erleben möchte. Aber, schön wäre es auch, würde Avemo in die Hansestadt zurückkehren. Vielleicht ja als Mimi (La Bohème), La Traviata oder fröhlich als Adele (Fledermaus). Für ihre Elle hat sie jedes Bravo mehr als verdient.

Auch Generalmusikdirektor Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester trugen zum Erfolg diesen Abends bei. Trotz der unterschiedlichen musikalischen und szenischen Konzepte, gibt es eine subtile Verbindung zwischen den Stücken, sodass sie ebenso gut an ein und demselben Abend passen, wie Cavalleria rusticana (Mascagni) und Der Bajazzo (Leoncavallo).
Musik, wie die von Arnold Schönberg fachlich zu beurteilen, fällt mir schwerer, als es mit der von Francis Poulenc zu tun. im Stück des Letzteren mangelte es nicht an Spannung und feinen Nuancierungen. Mir galten sie als das Tüpfelchen auf dem I von Poulencs tiefgründiger Musik.
Und bei beiden Stücken bemerkte ich, dass Nagano, auch auf die Sänger und deren Bedürfnisse einging, etwas, das ich bei seinen klassischen Opern, manchmal hier und da vermisse.
Das Publikum dankte nicht nur der Granddame Anja Silja und der Hauptprogatonistin des Abends Kerstin Avemo mit Bravorufen und begeisterten Applaus, sondern bezog alle Beteiligten in den Jubel mit ein.
Fazit: Ein Abend, der auf eindrucksvolle Weise zweimal vom Zauber der menschlichen Stimme erzählt.
Birgit Kleinfeld (Vorstellungsbesuch 11. Oktober 2020)