„Ghost Light“, so Ballettdirektor John Neumeier über sein neustes Ballett, „ist vergleichbar mit einzelnen Instrumentalstimmen einer Sinfonie – oder einem traditionellen japanischen Essen: eine Folge sorgsam arrangierter, hoffentlich ‚köstlicher‘ Miniaturen. “Eine nacherzählbare Handlung gäbe es nicht.“ Mag sein. Die versprochenen „Köstlichkeiten“ jedoch schon
Am 6.9. hatte dieses Werk seine Uraufführung an der Staatsoper Hamburg. Am 9.9. fand die B-Premiere statt, deren Schlussapplaus einmal mehr zeigte, wie sehr das Publikum „seine“ Ballettkompanie und deren Vorstellungen vermisste.
Als „Ghost Lights“ werden jene einzelnen Lampen bezeichnet, die nachts auf einer Bühne brennen, um einem Theateraberglauben nach, den Lebenden das Betreten der Bühne zu untersagen. Die Geister verstorbener Künstler jedoch sollen sie die Möglichkeit bieten weiter spielen, tanzen oder singen zu können. Eine Idee, die wie auch jeder Theater/Museums/Konzertbesuch etwas Tröstliches hat, in einer Zeit, in der allzu oft nur zählt, was uns weiterbringt und Schönes, wie Kunst und Theater als „nicht systemrelevant“ gilt.

Hat „molto agitato“ die andere Uraufführung, die diese Saison eröffnete, polarisiert und auch nachdenklich gemacht, so gelingt es John Neumeier, seinem gesamten Ensemble und dem Pianisten Michael Bialk, dass wir zwei Stunden lang „social distancing“ und alles was anders ist, als vor dem „lock down“ im Frühjahr vergessen.
Schon vor Beginn der Vorstellung hat das Publikum einen freien Blick auf die Bühne auf der es brennt, das einzelne Licht, das Künstlerseelen den Weg weisen soll. Und wirklich, noch bevor Michael Bialk die erste Taste anschlägt, tanzen Anne Laudere und Edvin Revazov einen stummen Pas de deux, der sie auch durch ihre Kostüme zu Schattenbildern aus John Neumeiers Ballett „Die Kameliendame“ macht. Mit den ersten Takten von Franz Schuberts „Moments Musicaux D 780“ dann, beginnt der, allein mit den Melodien Franz Schuberts gestaltete Teil des Balletts, das Neumeier schuf, um in dieser Zeit „etwas für meine Tänzer zu tun.“

Gibt es auch keine greifbare durchgängige Handlung, so erzählt „Ghost Light“ doch auf die wohlbekannte Neumeier-Art, von Begegnungen, Sehnsüchten, Ängsten. Wie stets mischt sein Choreographie-Stil die reine Ästhetik des klassischen Balletts mit den Elementen von Ausdruckstanz. Wie stets entsteht der Eindruck nicht alles was auf der Bühne geschieht, beim ersten Hinsehen in seiner Gesamtheit erfassen zu können. Denn zu Neumeiers Stil gehört auch eine angenehme Detaillverliebtheit, die sich dadurch zeigt, dass es neben den jeweiligen Protagonisten noch Personen gibt, die durch ihre bloße Anwesenheit ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Oder auch dadurch, dass sie in mitten der anderen Tanzenden plötzlich stehen bleiben und ihre Hand sehnsuchtsvoll nach einem vorüber schreitendem Wesen ausstrecken.
An diesem Abend taucht auch unvermittelt der Geist der kleinen „Marie“ aus dem Tschaikowsky Ballett „Der Nussknacker“ auf oder eine ätherische Sylphide begleitet im Hintergrund ein Pas de deux.
Es sind altvertraute und lieb gewonnene Bewegungen, Schritte und Stilmittel, die dem Publikum präsentiert werden. Doch wirkt dies nicht einfallslos, sondern wie eine Reminiszenz an bereits geschaffenen Stücken und somit auch an eine Hommage an die Tänzer, die in diesen Stücken glänzten.

Schuberts sechs „Moments Musicaux D 780“, sein „Allegretto in c-Moll D 915“, die „Vier Impromtus D 89“ und last but not least seine „Sonate Nr. 18 in G-Dur D 894, 1.Satz“ fügen all die kleinen Szenen zu einem Ganzen zusammen, das dazu einlädt, vielleicht bereits Bekanntes in neuem Zusammenhang zu entdecken. Oder einfach Musik und Tanz zu genießen.
Michael Bialks Spiel ist einfühlsam und scheinbar mühelos. Er bringt Schuberts romantische, manchmal fast heitere Melancholie zum Klingen, in völliger Harmonie zu den Tänzern auf der Bühne.
Aufgrund der Hygienebestimmungen gibt es mehr räumliche Distanz als sonst im Ballett üblich, aber wirkt dies natürlich arrangiert und auch ausgeführt und alles andere als befremdlich. Die Tänzer tanzen allein zu zweit oder in kleinen Gruppen.
Ist es auch deutlich, dass das „Wir alle“ groß geschrieben ist in diesem Werk, so gibt es doch einige Tänzer, die hervorstechen: Sei es Aleix Martinez, der mit kraftvollen Sprüngen und intensiven Gesten zeigt, welch großartiger Ausdruckstänzer er ist. Ähnliches gibt aber auch für Christopher Evans, Atte Kilpinen ,und Félix Paquet. Zusammen bilden diese vier ein Herrenquartett, das ausdrucksstark von Gefühlen erzählt und der eine das Alterego seines jeweiligen Tanzpartners sein könnte, eine unterdrückte Seite seiner Tanzpersönlichkeit.

Auch Patricia Friza berührt ein Mal mehr tief, wenn sie tänzerisch Zerrissenheit und Verzweiflung in mitten harmonisch Tanzender zum Ausdruck bringt. Hélène Bouchet bildet anmutig und elegant den sanft-weiblichen Gegenpol.
Matthias Oberlin und David Rodriguez bescheren wahre Gänsehautmomente, wenn sie in einem fast akrobatischen Pas de deux von einer schwierigen, scheinbar obsessiven Beziehung zwischen zwei Männern erzählen.
Anna Laudere und Edwin Revazov harmonieren tänzerisch ebenso wie auch Silvia Azzoni und Alexandre Riabko. Beide Paare sind pure berührende Harmonie, wie sie auch schon oft in Handlungsballetten bewiesen.
Revazov, schon immer ein brillanter Techniker, scheint im Ausdruck gereifter. Riabko, in dem Kostüm, das er auch in einer seiner Paraderollen als „Nijinski“ trägt, ist und bleibt einer der Darsteller, die am eindrucksvollsten tänzerisches Können und reine Bühnen Präsenz vereinen.
Laudere, wie auch Azzoni, scheint eine erwachsene und doch feenhafte Anmut zu zweiten Natur geworden zu sein.
Doch nicht nur die hier Erwähnten machten aus diesem zu recht umjubelten Abend ein Erlebnis, das mit der freudigen Gewissheit erfüllte: „Es geht wieder los! Uns stehen wieder einige schöne Ballettabende bevor!“
John Neumeier gab diesem Abend einen runden Abschluss, in dem er alle Tänzer in ihren jeweiligen Partien in Schuberts Sonate zusammen brachte.
Erlauben Sie mir bitte die Sentimentalität, in Bezug auf den Titel meines Artikel zu sagen: „Ghost Light“ lässt Seelen zumindest für einen Moment aufglimmen, bevor es zurückgeht zu Mund/Nasenschutz und „social distancing“.
Birgit Kleinfeld, (Vorstellungsbesuch, 9.9. 2020)