Im Herbst 2016 war sie hier an der Staatsoper Hamburg in Jette Steckels Inszenierung von Wolfgang Amadeus‘ Zauberflöte als Königin der Nacht, eher zu hören als zu sehen. Nun debütierte die griechische Christina Poulitsi als Violetta in Giuseppe Verdis La Traviata. Sie begeisterte und berührte vom ersten koketten Blick bis hin zum „Ah! ma io ritorno a viver! Oh gioia!“ ihren letzten Worten. Sie, Liparit Avetisyan als Alfredo, wie auch Markus Brück als Germont bildeten ein perfekt harmonierendes Trio.
Die Geschichte einer Liebenden
La Traviata, eine der meist gespielten und beliebtesten Opern überhaupt, erzählt die Geschichte der Pariser Kurtisane Violetta Valéry, die für den jungen Alfredo Germont auf ihr Luxusleben verzichtet. Ihre Liebe geht so weit, dass sie ihn, wissend um ihren baldigen Tod, verlässt und ihr altes Leben wieder aufnimmt, als sein Vater sie darum bittet, um Alfredo und dessen Schwester vor Gerüchten und Schande zu schützen. Sie erträgt es sogar, dass er sie vor allen Gästen einer Gesellschaft demütigt. Letztlich stirbt sie doch in Alfredos Armen, der von seinem Vater über alles aufgeklärt wurde.
Hier liegt der Unterschied zu Alexandre Dumas d.J. Roman Die Kameliendame, der die Basis zu Verdis Oper bildet. Denn da kommt der Liebste zu spät, die Geliebte ist gestorben und auch begraben.

Der Regisseur vermag den Weg nicht klar zu weisen
Regisseur Johannes Erath übernimmt diese Sichtweise, doch anders als im Buch funktioniert sie nicht wirklich schlüssig. Es ist nur mit viel guten Willen zu akzeptieren, das Violetta stirbt, bevor Alfredo zu ihr zurückkehrt. Die Szene dann aber doch ähnlich verläuft wie in Produktionen, die sich an die Librettovorgabe halten.
Auch die Autoscooter, die Annette Kurz, mal auf der Bühne, mal im Bühnenhimmel drapiert, tragen nicht unbedingt zu einem besseren Verständnis bei. Warum Kostümbildner Herbert Murauer aus Violettas Freundin, zeitweise eine Art George Sand im Frack macht und Herren dafür in Kleider steckt, erschließt sich nicht wirklich. Ausdruck von Dekadenz? Vielleicht.
Im Großen und Ganzen aber fragt man sich hier und da, ob für ein Werk wie „La Traviata“ eine traditionelle Umsetzung, wenn nicht passender, so doch ausreichend wäre.
Sola la musica!
Doch auf der anderen Seite an einem Abend wie diesen, trifft er zu, der Spruch, den Opernpuristen immer wieder gerne benutzen: „Prima la Musica!“
Und ist dies im Ursprung auch anders gemeint, so stimmt es doch: Christina Poulitsi, Liparit Avetisyan, Markus Brück und allen anderen gelingt es mühelos, alles, was stört zu vergessen und sich ganz auf Musik, Musiker, Darsteller und ihre Leitungen zu konzentrieren.

Schon Verdis unsterbliche Melodien verzaubern, sogar wenn sie, noch vor der Ouvertüre in Variationen aus einem Akkordeon erklingen. Mehr jedoch noch, wenn das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Leitung von Giampaolo Bisanti dann einsetzt. Einfühlsam von Bisanti geführt, lassen uns die Violinen, Celli, Flöten, Oboen und weitere Instrumente erkennen, dass bereits Verdis Melodien und seine Themen klar und deutlich eine Geschichte erzählen, die unter die Haut geht.
Kleine Partien zeigen sich stark
Der Chor der Hamburgischen Staatsoper und besonders die Darsteller der begleitenden Partien überzeugen stimmlich und haben dank Eraths Personenführung die Gelegenheit auch schauspielerisches Talent zu zeigen. So ist Peter Galliard ein herrlich schmieriger Gaston, der erst Violetta, dann Flora unter die Röcke kriecht. Dottore Grenvil, ebenso kein Kostverächter, wird dargestellt von Hubert Kowalczyk, der bereits in mehren Rollen zeigte, dass er über eine schöne, entwicklungsfähige Bassstimme und Wandlungsfähigkeit verfügt. Jóhann Kristinsson überrascht mit wohl tönenden Bariton als besitzergreifender, fast brutaler Barone Douphol. Katja Pieweck als mütterliche Zofe Anina und Ida Aldrian als zielstrebige Flora Bervoix zeigen, dass sie auch weniger umfangreichen Rollen Format verleihen können.

Ein Trio leidenschaftlicher Persönlichkeiten
Markus Brück, der zurzeit auch als Mister Ford in Giuseppe Verdis Falstaff auf dieser Bühne zu sehen ist, hat in der Rolle des Giorgio Germont eine Bühnenpräsenz, die ihres Gleichen sucht. Schon sein „Madamigella Valéry?“, mit zurückgehaltener Stimme geäußert, wirkt furcht einflößend, was durch seine sehr aufrechte Haltung und seine versteinerte Mimik noch verstärkt wird.
Jede Geste, die Art wie er mit seinen Handschuhen spielt, die Blicke, die er Violetta zuwirft, alles scheint seine innere Zerrissenheit zu zeigen und skizziert überdeutlich die Achterbahn seiner Gefühle von: Abscheu bis Mitleid.. Die Szene mit Violetta, wie auch die sich anschließende mit seinem Sohn und sein Auftritt auf dem Fest von Flora, sind auch dank seiner Spielpartner spannungsgeladen und mitreißend.
Anfangs erweckt Brücks recht oft dezent eingesetzte Stimme dennoch den Verdacht, er könne nicht hundertprozentig disponiert sein und sich deshalb zurücknehmen. Andererseits besteht bei ihm, der ein stets engagierter Darsteller ist, auch die Möglichkeit, dass er wie mit den Farben seines Baritons, auch mit der Lautstärke spielt um bestimmte Wirkungen zu erreichen und einen ganz eigenen Germont zu kreieren. Was ihm zu 100% gelingt.
Auch Liparit Avetisyan interpretiert den Alfredo auf erfrischend neue Art. Sie werden immer tief mein Herz berühren, die romantisch verklärten Alfredos dieser Welt. Auch dem Alfredo des knapp 30-jährigen armenischen Tenors fehlt es nicht an Zärtlichkeit und tiefen Gefühlen zu Violetta. Doch sind bei ihm die Grenzen zwischen Leidenschaft und einem leichten Hang zu Trotz oder auch Aggressivität fließender. Ist er in Rage, gibt es kein Halten mehr. Ehrath hat die Szene der Demütigung Violettas vor ihren Freunden an sich schon brutal und sehr körperlich angelegt. Avetisyan gelingt es zusammen mit Christina Poulitsi, eine Spannung aufzubauen, die die Luft anhalten lässt. Er ist dennoch ein bedingungslos bis verzweifelt Liebender. Anfangs unbedarft überschwänglich in seiner Freude am Ende aber auch an seiner Trauer gereift.
Stimmlich hat er alles, was man sich für einen Tenor nur wünschen kann, die Stimme strahlt in jeder Tonlage, hat den gewissen Schmelz, ist sicher geführt ohne je mechanisch zu wirken. Sein „Lunge da lei per me non v’ha diletto!/ De’ miei bollenti spiriti “ fasziniert durch Kraft und Leichtigkeit und in den Szenen mit Christina Poulits verschmelzen beide Stimmen, ohne dass einer der beiden versucht, die alleinige Oberhand zu gewinnen.

Rollendebutantin Christina Poulitsi schenkte dem Publikum auch alleine viele Gänsehaut- oder Tränenmomente. Sie zieht das Publikum vom ersten Moment an in ihren Bann, nicht alleine durch ihre sehr aparte Erscheinung, sondern weil es ihr gelingt, die Violetta für die Dauer der Aufführung zu einem Teil ihrer Persönlichkeit zu machen und nicht umgekehrt. Sie gehört zu jenen, denen diese Rolle von Anfang an auf den Leib geschneidert zu sein scheint. Anfangs kokettiert sie mit Alfredo, wie sie es auch mit den anderen tut. Dann aber wenn dieser in Erwartung auf das nächste Treffen gegangen ist und sie ihr „È strano“ beginnt, ändert sie sich sichtlich und hörbar. Sie hadert, sie schwelgt, sie hofft. Als der alte Germont von ihr verlangt, Alfredo zu verlassen, leidet und kämpft sie. Wenn Alfredo sie fast vergewaltigt, erträgt sie es und immer bis zum letzten Atemzug, liebt sie.
Sie ist eine Frau der kleinen, intensiven Gesten und der großen, klaren Töne. Nicht nur die Spitzentöne von „Sempre libera degg’io“ meistert sie mit Leichtigkeit und Präzision. Doch sie scheut sich auch nicht, Töne zu weinen oder zu schreien. Beinahe spielerisch gelingt es ihr, brillante Technik und emotionale Authentizität zu vereinen.
Das Publikum dankte ihr diese Leistung mit Ergriffenheit, die schnell in begeistertes Klatschen, Pfeifen, Rufen überging. Auch ihre Kollegen wurden verdient und anhaltend in den Applaus mit einbezogen.
Musik öffnet Seelen, denen Worte fast fremd
Es war ein Opernabend, der auf den „Flügeln der Klänge“ nachhause schweben ließ, haarbreit über dem Erdboden.
Mir persönlich brachte er eine Erkenntnis, die ich nicht verschweigen mag, denn unter den Besuchern, die in meiner Nähe saßen, befand sich eine ältere Dame mit ihrem unübersehbar demenzkranken Ehemann. Er genoss jeden Ton, jede Sekunde. Für mich wieder ein mal mehr der Beweis: Musik, erreicht uns noch, wenn Worte es kaum noch vermögen, insbesondere wenn sie nicht allein technisch, sondern auch tief empfunden dargeboten wird.
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 06.02.2020