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„Pélleas & Mélisande“ – Mehr als eine Sage

Was für eine spannende Kombination! Die einzige Oper eines Komponisten, der eher bekannt ist für Sinfonisches, wie Clair de lune, Prélude à l’après-midi d’un faune, Rêverie oder Ähnliches, dargeboten von Sängern, die weit über Europa hinaus bekannt sind. Denn momentan stehen Anna Prohaska, Rolando Villazón und Simon Keenlysidein Claude Debussys „Pélleas et Mélisandeauf der Bühne der Staatsoper Hamburg.

Mehr als eine Sage

Auf den ersten Blick erzählt „Pélleas et Mélisande“ eine Dreiecksgeschichte, wie sie in vielen Legenden und Sagen üblich ist. Golaud verliert während einer Jagd zwar die Fährte der Beute, findet aber an einem Brunnen ein weinendes wunderschönes Mädchen: Mélisande. Er nimmt sie mit sich, heiratet sie und führt sie heim auf das großväterliche Schloss. Hier begegnen sie Golauds Halbbruder Pélleas. Zwischen ihm und Mélisande entwickelt sich sofort eine emotionale Verbindung, was Golauds Eifersucht weckt. Sein Misstrauen wächst immer weiter, er benutzt sogar seinen Sohn Yniold als Spion gegen die beiden vermeintlich Liebenden. Letztlich geht er so weit, seinen Bruder zu ertränken, als er ihn und Mélisande ertappt, als sie sich zu Abschied inniglich umarmen. Als Melisande nach der Geburt einer Tochter im Sterben liegt, gesteht sie Golaud, dass Pélleas und sie sich geliebt hätten. Doch sie schwört: „Wir wurden nie schuldig.“ Golaud glaubt ihr nicht, ist überzeugt, das Kind sei das seines Bruders.
Doch im Grunde besteht auch die Möglichkeit, dass sich einfach zwei kindliche Seelen fanden und aneinander festhielten, sagen doch Pélleas, wie auch Mélisande: “Ich bin nicht glücklich hier.“

Freiheit zur Interpretation

Denn weder die Handlung, noch Text oder auch die Musik, sind in ihrer Aussage so eindeutig wie Golaud in seiner Überzeugung. Alles bietet viel Raum für eigene Ansichten und Interpretation. Was zum Beispiel meint Golaud, wenn er sagt: „Je suis perdu aussi.“ Bedeutet „perdre“ doch sowohl „verirren“, als auch „verloren(sein)“. Hat er sich also verirrt oder schon in Liebe auf den ersten Blick in diesem Zauberwesen, das Mélisande für ihn ist, verloren? Auch die Geschichte selbst hat neben ihrem märchenhaften Charakter doch auch viel, das realistisch wirkt. Und dann die Musik! Debusssy verzichtet auf Koloraturen und andere musikalische Schnörkel und Verzierungen. Vielmehr scheinen die Worte und ihr Klang innerhalb eines Satzes, eine natürliche Symbiose mit der Musik einzugehen. Die zahlreichen sinfonischen Teile des Stückes hingegen haben etwas Sphärisches, Überirdisches. Besonders, wenn man während der langen Umbaupausen, (die Inszenierung ist bereits 20 Jahre alt), die Augen schließt, wird man aus dem Hier und Jetzt entführt. Man meint, den Wind zu hören, hört das Wasser in den Brunnen plätschern. Hört, ja spürt, ein Unheil nahen.

(C) Jörg Kipping/ Simon Keenlyside, Anna Prohaska, Rolando Villazón

Eine Welt zwischen hier und irgendwo

Regisseur Willy Decker und Bühnen-/Kostümbildner Wolfgang Gussmann verzichteten 1999 weitgehend darauf, die Geschichte in einem verklärt-romantischen Licht zu zeigen. Aber ihre Inszenierung ist selbst für damalige Verhältnisse frei von allzu deutlicher Sozialkritik oder Sozialverurteilung. Wir scheinen uns in einer Welt zu befinden, die der unseren gleicht, aber doch von dünnen Schleiern aus Nebeln von ihr getrennt ist. So wie Träume oft Wahres und Erdachtes ineinander verschwimmen lassen.
Weiß, die Farbe der Reinheit, des Schnees und Eis, aber auch die, die sich unendlich verändern lässt, herrscht in den Kostümen und dem Bühnenbild vor. Nur hier und da werden braune Ledercouches sichtbar, die sonst mit weißen Laken bedeckt sind. Manchmal hängen auch zwei Riesenäpfel gelb-rot leuchtend vom Bühnenhimmel. Uraltes Symbol von Verführung und Fruchtbarkeit. Mittelpunkt des Bühnenbildes ist jedoch eine kreisrunde, mit Wasser gefüllte Vertiefung im Boden, als Darstellung der verschiedenen Brunnen oder auch des Meeres. Passend dazu gibt es eine Platte, die mal als Abdeckung oder gar als Ruhelager oder Sterbebett dient.
Auch die Personenführung lässt viel Spielraum. Sie macht aufmerksam auf Mélisandes scheues Wesen, das einem sehr verletztbaren Tier gleicht, das sich zum Schutz einrollt oder in die Schleier, die ihr überlanges Haar symbolisiert, einhüllt. Dann ist da Pélleas, der viel von einem unbedarften, wenn auch furchtsamen, jungen Parsifal hat: “ein kindlich fast kindischer Thor“. Und nicht zuletzt Golaud, der seine Souveränität, sein sicheres Auftreten nach und nach gegen unkontrollierbare, wütende Selbstzerstörung eintauscht. Jeder eine Sagenfigur und doch so menschlich …

(C) Jörg Kipping, Anna Prohaska, Simon Keenlyside

Eine künstlerisch-musikaische Umsetzung von hoher Qualität

Bekannt für intensives, lebendiges Spiel ist ja auch er: Rolando Villazón. Er ist ein Multitalent, hat sich auch als Regisseur einen Namen gemacht, ist Romanautor und Zeichner von Karikaturen. Weiterhin ist für ihn absolute Lebensfreude bezeichnend. Sie strahlt er auch als Pélleas aus, ohne jedoch das Tragische, das dessen Figur auch ausmacht, zu vernachlässigen. Perfekt gelingt ihm die Gratwanderung zwischen Kindlichkeit und Authentizität. Besonders beeindrucken tut er beim letzten Zusammentreffen mit Melisande und durch den anschließenden „Todeskampf“, als Golaud Pélleas unter Wasser drückt. Sein Pélleas hat sich seine Stimme auch etwas von dem Schmelz verloren, die stets seine Besonderheit ausmachte, so überzeugt er auch auf diesem Gebiet von der ersten bis zu letzten Minute.

Simon Keenlysides Golaud zeigt sich anfangs als Grand Seigneur und Gentleman, ein Bild von Rechtschaffenheit und Stärke. Doch schnell bröckelt diese Maske, und nach und nach offenbart Keenlyside einen Mann voller Ängste und Unsicherheiten. Die nach und nach an Selbstzerstörung grenzen. Er hat Charisma und Bühnenpräsenz, was dazu führt, dass die anderen fast in Vergessenheit geraten, ist er da. Fast. Auch sein wunderschöner Bariton, den er gekonnt einsetzt, um Emotionen zu zeigen und nicht allein schöne Töne zu Gehör zu bringen, zieht in den Bann. Seine große Szene an Mélisandes Sterbebett, hat Gänsehautpotential.

Anna Prohaskas Mélisande ist der Inbegriff von Verletzlichkeit und kindlicher Unschuld und dennoch umgibt sie etwas Geheimnisvolles, das auch nach ihrem Tod ein Rätsel bleibt. Prohaska berührt, wenn sie Golaud fast panisch bittet, sie nicht zu berühren, entzückt mit unschuldigen Charme, wenn sie mit Pélleas zusammen ist und strahlt auf dem Sterbebett doch Stärke und Reife aus. Ihr Sopran ist klarer Reinheit und unglaublicher Ausdruckskraft, stets sicher geführt und einfach nur schön im Klang.

Tigran Martirossian (Arkel), Renate Spingler als Geneviève, David Minseok Kang (Un médecin / Le Berger) und nicht zu vergessen, David Wittich, ein Solist des Tölzer Knabenchors als Yniold, runden das kleine aber feine Ensemble ab. Besonders Wittich liefert dank seines glockenhellen Knabensoprans und seines sehr intensiven Spiels eine wirklich beeindruckende Leistung.

Kent Nagano und sein Philharmonisches Staatsorchester Hamburg gelingt es an diesem Abend scheinbar mühelos, den Zauber von Debussys Musik entfalten zu lassen. Tempi, Spannungsbögen und die Kommunikation zwischen Graben und Bühne stimmen und dies übertragt sich auch in den Saal. Einige Sekunden nach dem letzten Ton herrscht Schweigen. Bis sich dann – endlich – Jubel Bahn brechen darf.

Fazit des Abends: Pélleas et Mélisande kann vielleicht im ersten Moment, jene enttäuschen, die romantische Melodien erwarten, doch wird dann jene, die sich darauf einlassen, auf die eine oder andere Weise in den Bann ziehen.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 20.11.2019

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